Jenseits von Ich und Ihr

Was die Neue Mitte von den Kommunitaristen lernen kann

Im Parlament sitzen fünf konservative Parteien, die alle irgendwie sozialdemokratisch sind." Der Stammtisch hat immer schon geahnt, was Peter Sloterdijk jüngst dem Spiegel anvertraute. Weil die Leute keine politische Kraft wollten, die irgendetwas änderte, gebe es nur noch konservative Parteien. Das Volk also selbst Schuld an der großen politischen Unübersichtlichkeit, am Verschwinden von rechts und links? Des Philosophen Erklärung für den Trend zum Einheitsprogramm dürfte die Eckkneipengesellschaft nicht sehr erfreut haben.

Auch wenn sicher nicht alle FDP-Wähler Sozis und nicht alle SPD-Wähler konservativ sind, die alte Schlachtordnung hat ausgedient. Der grüne Außenminister hat ein Brandt-Portrait an der Wand, die CDU stellt eine Frau an die Spitze, deren Positionen mancher Sozi für grünen Spinnkram hält, und die sozialdemokratischen Regierungen in Land und Bund können vom geltendem SPD-Grundsatzprogramm nicht einmal das Inhaltsverzeichnis als Wegweiser gebrauchen.

Dass demokratische Wahlen nur in der Mitte gewonnen werden, gehört ebenso zu den strategischen Binsenwahrheiten der westlichen Demokratien wie der Effekt, dass sich die Parteien in eben dieser politischen Mitte etwas auf den Füßen stehen. Damit versagt die vertraute Gesäßgeographie, und neue Begriffe müssen her, um der Mitte eine Struktur zu geben.

So trifft es sich gut, dass die CDU nach dem Ende der Kohl-Ära die Dominanz über nahezu alle zentralen Politik-Begriffe verloren hat: Staat, Familie, Moral, Verantwortung und Gerechtigkeit sind frei zur Neudefinition. Wenn es der SPD gelänge, die aktuelle Debatte um den Dritten Weg nicht als internen Streit zwischen Traditionalisten und Modernisierern, sondern als notwendige Bestimmung der gesellschaftlichen Mitte zu führen, wäre der politische Gegner über Jahrzehnte im politischen Seitenaus festgenagelt.
Die irreführende Landkarten-Sematik des Dritten Weges selbst ist dabei wenig nützlich, denn bei der Modernisierung zentraler Begriffe geht es nicht um die Entscheidung zwischen der konservativen Position, dass die Welt mit politischen Mitteln nicht zu verbessern sei, und dem sozialdemokratischen Omen, dass sich Regierungen für die Belange der Benachteiligten einsetzen müssen. Der eigentliche Kern des deutschen Streits um den Dritten Weg liegt quer zu den bekannten Mustern des Links und Rechts, Vorwärts und Rückwärts, Gut und Böse. Es ist das Verhältnis von Staat und Bürger, von Gemeinschaft und Individuum, von kollektiver und individueller Verantwortung.

Ob Rente, BAföG, Einkommenssteuer oder Arbeitsmarktpolitik: Stets geht der Streit nicht nur darum, ob und wie stark der Staat in die reale Verteilung von Gütern und Chancen eingreifen soll. Darunter liegt die Frage, in welchem Umfang der einzelne selbst in die Pflicht genommen werden kann, um individuelle und gesellschaftliche Ziele zu verwirklichen. Durch den Kollektivismuswahn der APO-Generation ist das SPD-Programm etwas aus dem Ruder geraten. Nun aber geht es zurück zur Mitte, und für diesen Kurs lässt sich einiges aus der Debatte um den Kommunitarismus lernen.

Seit mehr als fünfzehn Jahren beherrscht die kommunitaristische Kritik am Liberalismus die amerikanische Diskussion. Der Vorwurf: Weil Egoismus und Eigennutz zur obersten Maxime gemacht wurden, zerstört sich die freie Gesellschaft selbst. Die Idee des autonomen Individuums untergräbt die staatliche Gemeinschaft, denn sie verrechtlicht die Beziehungen der Menschen und überfordert den Staat mit immer neuen Aufgaben. Das kommunitaristische Gegenrezept klingt einfach: Die Bürger sollen weniger an ihre Rechte denn an ihre Pflichten denken und mehr Verantwortung übernehmen, um den Staat zu entlasten. Dieser wiederum fördert und stärkt die lokalen Gemeinschaften, die Gemeinden, Vereine und Familien und ermöglicht so, dass die Bürger ihrer Verantwortung für die Gemeinschaft auch nachkommen können.


Ohne Frage ist der Kommunitarismus ein Kind des nordamerikanischen Gesellschaftsmodells. In den Großstädten der USA ist eindrücklich zu besichtigen, welche Folgen das Absterben intakter Familien und nachbarschaftlicher Gemeinschaften mit sich bringt. Entsprechend groß ist die Sehnsucht nach Gegenmodellen, inklusive der üblichen Extreme: So wurde vor einigen Jahren in den USA eine perfekte Kleinstadt errichtet, mit bilderbuchhaften Häusern, alle um einen Dorfplatz herum angeordnet. Die Idee für diese kommunitaristische Idylle war mehr als 25 Jahre alt, und stammte von Walt Disney. Eine andere Form von praktiziertem Kommunitarismus präsentierte Bill Clinton, als er werbewirksam mit dem Übermalen der Graffitiseuche begann, um die Innenstädte wieder bewohnbar zu machen.

Auch wenn Berlin nicht Philadelphia ist, das kommunitaristische Programm bietet eine beachtenswerte Rückbesinnung auf die Mitte der Gesellschaft. Es ist freilich nicht der darin enthaltene Konservativismus, sondern die leichtverdauliche Unverbindlichkeit der Programmtexte, die den Kommunitarismus auch in Deutschland boomen ließ. Vor allem links der Mitte war man früh bemüht, den Kommunitarismus für sich zu vereinnahmen. Treibende Kraft war die Hoffnung, nach dem Verlust der marxistischen Gesellschaftskritik wieder einen theoretischen Überbau zu entwickeln, der permanente Kritik an den bestehenden Verhältnissen ermöglicht. So wurden die kommunitaristischen Argumente und Botschaften in Zirkeln diskutiert, in ein Programm für Deutschland gegossen, und der damals-Vorsitzende Scharping verkündete offiziell, dass die SPD nun "von den Kommunitaristen lernen" wolle.


Der sozialdemokratische 68er-Reflex, an der Spitze jeder neuen Bewegung stehen zu müssen, erwies sich hier einmal als hilfreich. So ließ sich fordern, dass die Arbeitsteilung zwischen Staat und Gesellschaft neu bestimmt werden und mehr Verantwortung auf die jeweils unterste Einheit, auf lokale und familiäre Gemeinschaften verlagert werden müsse. Was neu und kommunitaristisch klingt, nannte man bis dato schlicht "Subsidiaritätsprinzip", und das vertraten in der SPD lange Zeit allenfalls die Ministerpräsidenten im Bundesrat. Im Berliner Parteiprogramm hingegen findet sich das Subsidiaritätsprinzip erst auf Seite 46, fünf Seiten vor dem Rückumschlag. Und unter Lafontaine wäre es auch dort geblieben. Noch 1997 erklärte er als Vorsitzender, die "Ersetzung gesellschaftlich organisierter sozialer Sicherheit durch freiwillige Hilfe" sei nur "in sehr geringem Umfang möglich, und wir müssen uns vor politischen Illusionen hüten, die geradewegs in die soziale Desintegration und Marginalisierung führen."

Lafontaine hatte erkannt, welche Sprengkraft der Kommunitarismus für das traditionelle sozialdemokratische Programm enthielt. Die Verbindung von Subsidiarität, Solidarität und Leistung, die Rückverlagerung von Kompetenzen an die unteren Ebenen, die Betonung der Pflichten gegenüber der Gemeinschaft, Solidarität durch Eigenverantwortung: Mit solchen Wortpaarungen konnte die deutsche Sozialdemokratie in der Vor-Schröder-Zeit wenig anfangen. Das SPD-Programm war durch die Rundumsorglos-Ideologie der 70er Jahre dominiert und überließ den Christdemokraten das Monopol auf diese Begriffe.


In den Vereinigte Staaten hingegen rechnen sich die Kommunitaristen mehrheitlich den Demokraten zu, und es waren kommunitaristische Ideen und Programme, die Bill Clintons sozialdemokratische Innenpolitik so erfolgreich gemacht haben. Clinton wurde gewählt und wiedergewählt, weil er die breite Masse der Amerikaner, jene, "die in unserem Land die Kinder groß ziehen, die Arbeit machen, die Steuern zahlen und sich an die Regeln halten", ins Zentrum seiner Politik gestellt hat. Materiell und ideell. Die Aktivierung von Nachbarschaftshilfe, das Wiederherrichten verwahrloster öffentlicher Räume und andere Bedingungen für den Zusammenhalt der Gesellschaft, das waren die Themen, die Clinton erfolgreich besetzt hat und für die er, wäre da nicht die Verfassung im Wege, vermutlich auch ein weiteres Mal gewählt werden würde. Auch Tony Blair hat seine Innenpolitik auf Kommunitarismus-Kurs gebracht, und beispielsweise eine neue Pflichtethik in die Sozialpolitik gebracht: Wer einen zumutbaren Arbeitsplatz nicht annimmt, soll der Gemeinschaft nicht länger auf der Tasche liegen und erhält entsprechend weniger Unterstützung.

Im Windschatten dieser Entwicklung setzt sich nun endlich auch in Deutschland die Erkenntnis durch, welch ursozialdemokratisches Anliegen es ist, Freiheit mit Gemeinsinn, Solidarität mit Leistung und Verantwortung mit Subsidiarität zu verbinden. Es mag von Vorteil sein, dass Bundesregierung und SPD-Parteispitze die programmatische Umkehr weniger mit theoretischen Debatten, sondern vor allem mit Taten eingeleitet haben. So hat Bundesinnenminister Schily ein Programm zur Staatsmodernisierung auf den Weg gebracht, in dem sich die Bundesregierung dazu verpflichtet, das Subsidiaritätsprinzip zu stärken und den Ländern und Kommunen Kompetenzen zurückzugeben. Die Zukunft der Sozial- und Arbeitslosenhilfe wird von der Idee geprägt sein, dass Zahlungen an eine angemessene Gegenleistung für die Gemeinschaft gekoppelt werden. Selbst die "Familie", lange Zeit das Stiefkind der linken Programmideologen, steht nun zumindest in der sozialdemokratischen Steuerpolitik wieder hoch im Kurs. Und wenn der Bundeskanzler und sein Innenminister von Recht und Ordnung und Gesetzestreue sprechen, dann wird deutlich, wie sehr die Befreiungsrhetorik der APO-Generation bereits in das Archiv der Sozialdemokratie verbannt ist.

Es wäre übertrieben, dies bereits eine kommunitarische Wende zu nennen. Denn ohne Frage sind die ersten Ansätze eher zart, und radikalere Schritte wären möglich: Gerechtigkeit muss fortan nicht nur horizontal, sondern vor allem vertikal gedacht werden, in der Umweltpolitik wie beim Steuer- und Rentensystem. Warum nicht die anstehende Erbschaftswelle so besteuern, dass die Rentenlasten auch für nächsten Generationen beim heutigen Stand bleiben? Warum nicht den ganzen Wald der föderalen Mischzuständigkeiten durchforsten und den Ländern und Kommunen - Konkurrenz belebt das Geschäft - ein Mehr an Alleinzuständigkeit geben? Warum nicht die Aufgaben des Staates radikaler in Frage stellen, durch Nachbarschafts- und Selbsthilfeprojekte (besser Eltern pinseln den verdreckten Klassenraum als niemand), finanziert durch eine mutige Reform des Stiftungsrechts?

Immerhin haben Regierung und Partei erkannt, dass die Begriffe Eigenverantwortung und Subsidiarität, Leistung und Solidarität, Pflicht und mehr Gerechtigkeit zwischen den Gruppen und Generationen sämtlich Werte sind, die nicht nur für den Wahlsieg in der politische Mitte, sondern auch für den Zusammenhalt einer freien Gesellschaft wichtig sind. Was freilich fehlt ist eine griffige Vision, ein mehr oder weniger konsistentes Bild von der Richtung künftiger Reformen, ohne das die Zumutungen der Modernisierung nicht vermittelbar sind.

Der entscheidende Unterschied zur CDU-Ära muss deshalb darin liegen, alle Gruppen, alt und jung, Männer und Frauen, Arme und Reiche, gleichmäßig an der gesellschaftlichen Lastenverteilung zu beteiligen: Ein Programm jenseits vom "Ich-Denken" der Individualisierungsideologie und vom "Ihr-Denken" der Klientelpolitik. Unter Kohl wurden die finanziellen Werte der Habenden geschützt und die sozialen Verwerfungen eben dieser Politik mit einer Überhöhung der Gemeinschaftswerte und klirrender Familienlyrik verkleistert. Die SPD hingegen hat die Chance, sich unter Schröder und Müntefering von ihrem Hang zur Randgruppenbemutterung zu verabschieden und stattdessen Politik fortan von der Mitte aus zu denken: Was nützt nicht nur Gruppen, sondern dient insgesamt dem Gemeinwohl, weil es den gesellschaftlichen Zusammenhalt stärkt? Was nützt der breiten Mehrheit all jener "normalen Menschen", die in unserem Land Kinder groß ziehen, die Arbeit machen, Steuern zahlen und sich an die Regeln halten. Eine solche Politik mag man kommunitaristisch inspiriert, in Teilen konservativ, vielleicht auch Dritten Weg nennen. Oder schlicht: im besten Sinne sozialdemokratisch.

zurück zur Ausgabe