Jetzt geht es um die friedliche Zukunft Europas

Die Krise zwischen Russland und der Ukraine hat sich zu einem Konflikt um die künftige Ordnung in Europa und der Welt ausgeweitet. Dem Westen stehen nur zwei Optionen offen: Eindämmung oder harter Dialog. So oder so drohen unsichere Jahre

In Zeiten gewalttätiger Grenzverschiebungen und drohender Waffengänge fällt es schwer, kühl und realistisch zu bleiben. Der Konflikt zwischen der Ukraine und Russland bedroht nicht nur Europa, sondern die ganze Weltgemeinschaft. Vordergründig geht es um die Halbinsel Krim und die Zukunft der Ukraine, tatsächlich aber auch um die Zukunft der Beziehungen zu Russland und damit um ein friedliches Europa. Im Jahr 1947 riet der amerikanische Diplomat George F. Kennan in seinem berühmten Drahtbericht aus Moskau, die Sowjetunion einzudämmen. Folgt nun, nach fast einem Vierteljahrhundert Tauwetter, eine Fortsetzung dieser Politik? Oder gibt es für eine europäische Ostpolitik noch eine Chance?

Ein entscheidender Grund für die Zuspitzung der Lage ist das völlig unterschiedliche Verständnis von den neunziger Jahren und die daraus gezogenen Schlüsse. Während die mittel- und osteuropäischen Staaten die neu gewonnene Souveränität rasch nutzten, ins europäische Haus zurückkehrten und Nato-Mitglieder wurden, waren die Empfindungen in der Russischen Föderation gemischt – auf der einen Seite Freude und große Hoffnungen, auf der anderen Seite Furcht vor instabilen Verhältnissen aufgrund des Übergangs von der Plan- zur Marktwirtschaft. Denn für Russland war es institutionell nicht vorgesehen, Mitglied eines gemeinsamen Europas zu werden.

Die russische Außenpolitik ist nicht ohne die innenpolitische Lage zu begreifen. Nach dem Kollaps der Sowjetrepublik gingen die Reisefreiheit sowie die Öffnung von Politik und Medien mit einem dramatischen Wirtschaftseinbruch und einer Hyperinflation einher. Für viele Russen bedeutete dies sozialen Notstand. Die Freiheit glänzte nicht, sondern präsentierte sich grau und elend. Anders als versprochen erfolgte der Umbau nicht nach transparenten Regeln. Es kam zum „Ausverkauf des Jahrhunderts“ von staatlichen Industrien an private Investoren.

Die Bürger wurden Zeugen eines sich dramatisch verbreiternden sozialen Grabens, der durch die zunächst freie Berichterstattung dokumentiert wurde. Entsprechend heftig wurde diskutiert, während Reformen ins Stocken gerieten. Auf Initiative von Präsident Boris Jelzin kam es im Oktober 1993 in Moskau zum Showdown: Panzer nahmen aus nächster Nähe das Gebäude des Parlaments unter Beschuss. Sollte das die glänzende Demokratie sein?

Sein Nachfolger Wladimir Putin wurde nicht nur mit den Auswirkungen der Balkankriege konfrontiert, sondern auch mit einer Erweiterung der EU und der Nato bis an die russische Grenze. Zugleich wurde in zwei Kriegen die angestrebte Unabhängigkeit der russischen Teilrepublik Tschetschenien zerstört. Es folgte die Erkenntnis, innenpolitisch instabil zu werden, außenpolitisch an Einfluss zu verlieren und sich wirtschaftspolitisch im freien Fall zu befinden. Der ökonomische Niedergang wurde erst zu Beginn des neuen Jahrtausends gebremst, vor allem durch steigende Rohstoffpreise. Die russische Wirtschaft begann wieder zu wachsen.

Die Östliche Partnerschaft der EU mit Armenien, Aserbaidschan und Georgien sowie Belarus, Moldau und Ukraine war aus Sicht Moskaus ein weiteres Indiz dafür, dass vom Westen keine Rücksicht auf die eigenen Sicherheitsinteressen zu erwarten ist. Dabei hatte die EU diese Interessen durchaus berücksichtigt, indem diesen Ländern keine Mitgliedschaft in der EU angeboten worden war. Gleichzeitig verfestigte sich in Russland die Überzeugung, eine russische Mitgliedschaft in der EU oder der Nato sei unvorstellbar. Daraus entwickelte sich das Projekt der Eurasischen Union, ein mit der EU konkurrierendes Integrationsprojekt.

Putin setzt auf den eigenen russischen Weg

Russland betont häufig das Prinzip des Völkerrechts und der Souveränität anderer Staaten, etwa im Konzept der Außenpolitik der Russischen Föderation vom 12. Februar 2013. In dem Papier werden zugleich zukünftige Krisen prognostiziert. Der Westen sei immer weniger in der Lage, „die Weltwirtschaft zu dominieren“. Die daraus entstehende Konkurrenz mit anderen Regionen wie Asien führe zu einer „wachsenden Instabilität der internationalen Beziehungen“. Um dieser Entwicklung entgegenzuwirken, fordert Moskau aufgrund seiner Größe, seiner Militärstärke und seines ständigen Sitzes im Weltsicherheitsrat der Vereinten Nationen Einfluss auf die Weltpolitik ein.

Doch der russische Präsident begründet seine Außenpolitik nun nicht nur mit Interessen, sondern auch mithilfe von Werten. Putin schwört seine politische Elite auf einen christlich geprägten Konservatismus ein, der in der Zeit von Zar Nikolaus I wurzelt. Dieser hatte seinerzeit versucht, die Orientierung nach Westen durch einen besonderen russischen Weg zu ersetzen. Diese historische Volte gelingt auch deshalb, weil es bis heute keinen innerrussischen Dialog über die Gründe und Folgen des Zusammenbruchs der Sowjetunion gab. Ebenso wenig wurde aufgearbeitet, warum die Länder Osteuropas so schnell der EU und der Nato beitreten wollten. Hingegen stiftet der russische Sieg im Zweiten Weltkrieg weiterhin alternativlos Identität.

Wo verlaufen die Grenzen der Partnerschaft?

Russlands Entscheidungsträgern fehlt jedes Verständnis für die Kritik der mittel- und osteuropäischen Staaten daran, dass sie sich nach 1945 nicht frei entwickeln konnten. Bei den Aufständen in der DDR (1953), in Budapest (1956), in Prag (1968) und in Polen (1980/81) wurden fast immer Panzer eingesetzt, es starben Menschen. Daraus resultiert bis heute das Sicherheitsbedürfnis dieser Länder, was Russland – wie die Krim-Krise zeigt – jedoch nicht anerkennt, sondern als Undankbarkeit deutet. Schließlich war es vor allem die Sowjetunion, die unter hohen Kosten das eigene Land sowie ganz Europa vom Faschismus befreite.

Vor diesem Hintergrund lässt sich Russlands außenpolitisches Interesse in den vergangenen Jahren wie folgt zusammenfassen: Ziel ist es, eine weitere EU- und Nato-Osterweiterung für Länder der ehemaligen Sowjetunion zu verhindern, einen regionalen Staatenbund aufzubauen, das Engagement im asiatischen Raum zu vergrößern und Mitspracherechte bei internationalen Problemen einzufordern. Zudem gilt es, Wirtschaftsinteressen außerhalb Russlands durchzusetzen und die Bereiche Technik und Wirtschaft in Kooperation mit der EU zu modernisieren.

Schnittmengen mit den Interessen Deutschlands und der EU sind durchaus vorhanden, diese können jedoch aufgrund unterschiedlicher Vorstellungen der Mitgliedsländer nur schwer gebündelt werden.

Klar ist: In der schwersten Krise der Beziehungen zwischen der EU und Russland seit Jahrzehnten bedarf es einer deutlichen Kurskorrektur – und sei es nur, um die „Grenzen der Partnerschaft“ aufzuzeigen, wie es die langjährige amerikanische Russlandkennerin Angela Stent vor kurzem in Bezug auf die russisch-amerikanischen Beziehungen formulierte. Können neue und realistische Ziele zwischen der EU, Russland und den Ländern der Östlichen Partnerschaft vereinbart werden, um daraus eine realistische Kooperation zu entwickeln?

Zunächst geht es um Krisenmanagement, die Ukraine muss sich stabilisieren. Vor allem bedarf es einer Verfassungsreform, die alle Regionen mit einbezieht, und schneller Wahlen. Eine Beobachtermission der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa ist vor Ort. Unbedingt vonnöten sind direkte Gespräche zwischen Moskau und Kiew, die durch die EU begleitet werden. Erst dann ist das Konzept einer langfristigen Ostpolitik anzugehen. Diese kann nicht mehr nur Deutschland gestalten, sondern sie muss europäisch gedacht werden. Eine solche Politik müssen interessierte und engagierte Mitgliedsstaaten initiieren, wie es beim kurzzeitigen Friedensschluss vom 21. Februar 2014 in Kiew eindrucksvoll geschah. Eine hohe Verantwortung liegt bei den Ländern des Weimarer Dreiecks Deutschland, Frankreich und Polen.

Darüber hinaus sollten sich weitere Visegrad-Länder – die Slowakei, Tschechien und Ungarn – beteiligen. Rechnet man die baltischen Staaten hinzu, hat sich ihre wirtschaftliche Kooperation mit Russland in den Jahren 2004 bis 2011 verfünffacht, wenn auch zu einem erheblichen Teil durch den Energiesektor. Zwar schauen diese Länder (wieder) kritisch auf Russland, aber sie sind aufgrund ihrer Geschichte und Geografie natürliche Verbündete für eine dauerhafte Stabilisierung. Gerade weil die erneute Spaltung Europas droht, ist eine zukunftsfähige europäische Ostpolitik mehr denn je Friedenspolitik.

Ein unberechenbarer Nachbar

Im Gegensatz zum Kalten Krieg müssen diese vertrauensbildenden Dialoge unbedingt von den vielen zivilgesellschaftlichen Initiativen auf beiden Seiten begleitet werden. Dazu zählen die Netzwerke, die in Russland landesweit zu finden sind. Hinzu kommen die seit Jahrzehnten existierenden Wirtschaftskontakte. Das mühevoll aufgebaute Vertrauen sollte belastbar genug sein, um die schwierigen Gespräche zu führen. Ebenso ist auf die gesellschaftlichen Kontakte in Ländern wie Georgien, der Ukraine und der Republik Moldau zurückzugreifen. Hilfreich werden weiterhin die Instrumente der Entspannungspolitik sein. Diese Themen sind mit Prioritäten zu versehen. Notwendig wäre es zudem, ein ausgewogenes Verhältnis von Konsens und Dissens, von Annährung und Abgrenzung herzustellen.

Die große Herausforderung dieser europäischen Ostpolitik besteht darin, den Ländern der Östlichen Partnerschaft eine Perspektive in Europa zu eröffnen und dabei Russland einzubinden. Wie aber lassen sich die Bestrebungen dieser Länder mit dem Sicherheitsbedürfnis Russlands vereinbaren? Es ist der Zeitpunkt gekommen, den Zustand der Beziehungen kritisch zu untersuchen und auf eine realistische Grundlage zu stellen. Dazu gehört eine Einschätzung, in welchem Umfang oder ob überhaupt zum jetzigen Zeitpunkt eine strategische Partnerschaft oder eine Modernisierungspartnerschaft angemessen ist. Auch ist zu prüfen, welche Rolle Russland in der zukünftigen Sicherheitsordnung Europas spielen kann.

Russlands Anspruch, die Interessen aller Russen jederzeit militärisch und grenzübergreifend durchzusetzen, macht das Land zu einem unberechenbaren Nachbarn, der mit viel Misstrauen beobachtet wird. Zumal innerhalb der Sowjetunion einst Bevölkerungsteile gezielt verschoben wurden, um die Titularnationen der Teilrepubliken zu schwächen und Eingriffe Moskaus zu rechtfertigen.

Kommt jetzt der Kalte Krieg 2.0?

Das wiedererstarkte Russland hat mit seinem Eingreifen in der Ukraine das nachgeholt, wozu es nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion nicht in der Lage war. Folglich könnten in den nächsten Jahren unsichere Zeiten auf Europa zukommen.

Es gibt nur zwei Optionen. Entweder kommt es zu einer neuen Eindämmung wie einst im Kalten Krieg, oder wir führen einen harten Dialog über bestehende und zukünftige Regeln für eine neue Sicherheitsarchitektur. Nur die zweite Option ist erstrebenswert. Zweifellos wird eine solche europäische Ostpolitik viel Zeit beanspruchen, unzählige Gespräche erfordern, Geld kosten und nur mit einem gehörigen Maß an politischem Willen auf allen Seiten in die Tat umzusetzen sein. Denn gerungen wird um nicht weniger als die friedliche Zukunft Europas.

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