Tony Judt stellt die richtigen Fragen

Über die die Sozialdemokratie wird nicht mehr sehr viel nachgedacht. Tony Judt zeigt, warum das in Zeiten des Umbruchs ein riesengroßer Fehler ist

Gegenwärtig wird nicht mehr sehr viel nachgedacht über die Sozialdemokratie. In den meisten sozialdemokratischen Parteien herrscht sogar ein ausgesprochen anti-intellektuelles Klima. Gründliche Analysen werden schnell als elitär abgetan. Überhaupt: Das Etikett „elitär“ wird Sozialdemokraten immer häufiger aufgedrückt, seitdem die traditionellen Parteien Konkurrenz bekommen haben von linken und rechten Populisten. Aus genau diesem Grund versucht die traditionelle Linke in der Sozialdemokratie ständig zu beweisen, sie sei „aus dem Volk“, indem sie sich – leider auf ziemlich missglückte und künstliche Weise – als besonders bürgernah präsentiert.

Selten hat jemand hingegen so stringent argumentiert wie Tony Judt in seinem Buch Ill Fares the Land. Auf kaum mehr als 200 erhellenden Seiten ergründet der Autor die moralische, soziale und politische Verwirrung unserer Zeit. Allerdings enthält das Buch zum Teil bereits erschienene Texte, so dass dem treuen Leser die zweite Hälfte des Buches bekannt vorkommt. Der Text ist wie ein gut geschliffener Diamant, der das Licht optimal bricht und die Ausdifferenziertheit unserer Gesellschaft und unserer politischen Ordnung in aller Klarheit zum Ausdruck bringt. Dieses Buch ist Pflichtlektüre für Sozialdemokraten, die den Geschmack an der sozialdemokratischen Idee noch nicht verloren haben oder wieder auf den Geschmack kommen wollen.

Die Kraft des Buches liegt in den verschiedenen Perspektiven, die Tony Judt aufwirft. Der Autor verbindet Kritik an der Form, wie wir unser Leben heute gestalten, mit einem Blick in die Vergangenheit. Die Situation verschiedener Länder und Kontinente nimmt er ebenso in den Blick wie die Blutarmut der Politik im Hinblick auf die Herausforderungen unserer Zeit.

Der größte Wert des Buches ist, dass es den besorgten Progressiven Perspektiven aufzeigt, um unserer Zukunft mit ausreichendem Optimismus, aber ohne Naivität entgegenzutreten. Judt ist kritisch, was den Sozialstaat nach westlicher Prägung angeht, aber er glaubt an seine Renaissance – unter der Bedingung, dass die Sozialdemokratie aus ihrer eigenen Geschichte die richtigen Schlüsse zieht, um das Bedeutsame zu bewahren und das Notwendige zu erneuern.

Anregend finde ich seinen Umgang mit dem Populismus. Tony Judt tut nicht so, als wenn es ihn nicht gäbe, hält aber nichts davon, wenn Sozialdemokraten jetzt selbst „ein wenig populistisch“ werden. Aus seiner Sicht hat das Unbehagen, auf das wir so häufig ein sozial-kulturelles Etikett kleben – um zu unterstellen, dass die Antwort auf (milden) Nationalismus heftiger Anti-Internationalismus sei –, viel häufiger als gedacht eine ganz traditionelle sozial-ökonomische Basis. Deshalb kann diesem Unbehagen Judt zufolge auch mit klassischen sozial-ökonomischen Instrumenten begegnet werden. Mittels staatlicher Reformen können Sicherheit, Geborgenheit und eine gerechte Verteilung von Risiken organisiert werden.

In meinen Augen hat Judt Recht, wenn er betont, dass der (National-)Staat hierfür das primäre, politischste und für den Bürger erkennbarste Instrument ist. Und ich teile seine Analyse, dass dies nicht im Gegensatz zur Notwendigkeit einer stärkeren internationalen Zusammenarbeit steht. Ich frage mich allerdings, in welchem Maß die von Judt geforderte Restauration des klassischen Versorgungsstaates möglich und überhaupt wünschenswert wäre. Aber das bleibt eine offene Frage – auch, weil Judt nicht genau ausführt, was er konkret meint. Das ist die Schwäche des Buches: Allzu konkrete Vorstellungen entwickelt Judt nicht, es geht ihm um die große Linie. Gut, dass es nun ein Werk gibt, das zwar nicht alle Antworten enthält, aber auf jeden Fall inspiriert und die richtigen Fragen stellt. «

Aus dem Niederländischen von Marc Drögemöller




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