Karlsruhe und der Wille zur Macht
Im ewigen Zitatenkanon der Bundesrepublik stammen einige der wiederkehrenden Politiker-Aussprüche aus der an Karlsruhe adressierten Kategorie. Das derbe Wort von den „acht Arschlöchern“ beispielsweise, von denen man sich die neue Ostpolitik nicht kaputtmachen lasse – mal Horst Ehmke, mal Herbert Wehner zugeschrieben und gefallen angeblich, als die acht Richter des Zweiten Senats des Bundesverfassungsgerichts 1973 Willy Brandts deutsch-deutschen Grundlagenvertrag zu kippen drohten. Sehr populär ist auch Konrad Adenauers kölsche Schlechtgelauntheit „Dat ham wa uns so nich vorjestellt!“ aus dem Jahr 1952, als das eben erst gegründete Gericht den Wiederbewaffnungsplänen des Kanzlers in die Quere kam. Die mundartliche Färbung ist übrigens nirgends belegt, wird aber in allen Medien mitzitiert – alle paar Jahre, wenn mal wieder über Spannungen zwischen der Bundeshauptstadt und der Residenz des Rechts zu berichten ist.
Diese Spannungen sind, wie die Beispiele zeigen, so alt wie das Bundesverfassungsgericht selbst. Die Beispiele sind aber auch aus einem anderen Grunde bemerkenswert: Dass sie immer wieder hervorgeholt werden, hat mit dem demutsvollen Tonfall der Ehrerbietigkeit zu tun, in dem man Karlsruhe sonst gegenübertritt. Über andere Verfassungsorgane, den Bundesrat beispielsweise, könnten noch ganz andere Flüche halböffentlich geäußert werden, ohne dass irgendwer daran Anstoß nähme. Höchstens der Bundespräsident als Staatsoberhaupt hat Anspruch auf jenen sakralen Flüsterton, der im Umgang mit dem Bundesverfassungsgericht üblich ist. Wobei auch er in den vergangenen Jahren gelegentlich die Erfahrung machen musste, als Parteipolitiker wahrgenommen und entsprechend attackiert zu werden.
Was Karlsruhe betrifft, so ist das bislang anders. Die Richter in den roten Roben konnten sich bisher dem Eindruck erfolgreich entziehen, sie ließen sich vor irgendwelche politischen Karren spannen. Mehr sogar als früher: Bis in die siebziger Jahre war es noch üblich, vom „roten“ Ersten und „schwarzen“ Zweiten Senat zu sprechen, wobei auch damals schon die Farbzuordnung weniger klar durchschlug als es sich in Bonn vielleicht mancher erhofft hatte: Das, was sich Adenauer 1952 „so nich vorjestellt“ hatte, war gerade die Überparteilichkeit des Gerichts, die es zu einem unkontrollierbaren Faktor der Politik machte. Heute jedenfalls spielt die Farbenlehre kaum noch eine Rolle. Man glaubt zwar ungefähr zu wissen, wo die einzelnen Richter politisch stehen, schließlich verdanken sie ihr Amt einer Partei, die sie im Richterwahlausschuss durchgesetzt hat. Aber die einzelnen Senate lassen sich schon längst nicht mehr parteipolitisch verorten.
Die Konsistenz der Entscheidungen lässt nach
Dem Ansehen des Gerichts in der Bevölkerung tut das zweifellos gut. Das Bundesverfassungsgericht genießt das Vertrauen von drei Viertel aller Deutschen – Werte, von denen Bundesregierung oder Parlamente nur träumen können. Bemerkenswert dabei: Dieser hohe Wert ist seit Jahrzehnten stabil, auch über Zeiten hinweg, wo es über die Urteile aus Karlsruhe heftige Auseinandersetzungen gab, etwa Mitte der neunziger Jahre, als die Richter wegen des Kruzifix-Urteils und anderer umstrittener Entscheidungen öffentlich fürchterliche Prügel einsteckten. Offenbar ist es weniger die Entscheidungspraxis des Verfassungsgerichts als die Institution selbst, die den Deutschen so gut gefällt: Dass da ein Gremium über die Verfassung wacht, das über dem Parteigezerre schwebt, das nicht Interessen und Bündnisverpflichtungen verficht, sondern die reine, klare juristische Vernunft.
Nur ist das nicht mehr so. Experten wie der Verfassungsrechtler Bernhard Schlink beobachten seit längerem mit Sorge, dass die Konsistenz der Urteile aus Karlsruhe abnimmt, und mit ihr die Autorität des Verfassungsgerichts in der Justiz insgesamt. Statt ihre Schlüsse nach den Regeln der juristischen Kunst aus dem Verfassungstext abzuleiten, greifen die Verfassungsrichter immer öfter zu länglichen Ausführungen staats- und moralphilosophischer Art. Richtungsentscheidungen werden immer häufiger stillschweigend wieder kassiert, ohne dass dafür ein juristischer Grund erkennbar wäre. Die Folge: Es ist keine Seltenheit mehr, dass Gerichte den Vorgaben aus Karlsruhe schlicht den Gehorsam verweigern. „Die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts bekommen ein Moment der Beliebigkeit, das es anderen Gerichten leichter macht, ihr Belieben an die Stelle des Beliebens des Bundesverfassungsgerichts zu setzen“, so Schlink.
Die Autorität des höchsten Gerichts erodiert aber auch an anderer, womöglich noch beunruhigenderer Stelle: in Berlin. Wo der Gesetzgeber sitzt, dessen Erzeugnisse das Bundesverfassungsgericht zu überwachen hat, wird in jüngster Zeit in einer Weise über das Bundesverfassungsgericht geredet, die einen erschrecken lässt. Sinngemäß: Gottja, das Bundesverfassungsgericht. Ein lächelndes Augenrollen. Ein Achselzucken. Mit dem Erregungsniveau, das die Politik zur Zeit der Ostverträge den Verfassungsrichtern entgegenbrachte, hat das nicht mehr viel zu tun. Mit der öffentlich weiterhin zur Schau getragenen Karlsruhe-Frömmigkeit allerdings auch nicht. Die Verfassungsrichter haben in Berlin gewaltig an Respekt verloren.
Was ist passiert? Es waren vor allem zwei Urteile des Zweiten Senats aus den vergangenen Monaten, die dem Ansehen des Gerichts in der Politik schweren Schaden zugefügt haben: die Entscheidung zum Bundeswahlgesetz vom Juni 2008 sowie, ein knappes Jahr später, das Urteil zum Lissaboner Vertrag.
Die erste Entscheidung betrifft die bizarre Besonderheit unseres Wahlsystems, dass unter bestimmten Bedingungen mehr Stimmen für eine Partei weniger Mandate zur Folge haben können. Diesen Effekt des so genannten negativen Stimmgewichts hielt das Gericht für eklatant verfassungswidrig: Ein Wahlrecht, das so etwas zulasse, „führt zu willkürlichen Ergebnissen und lässt den demokratischen Wettbewerb um Zustimmung bei den Wahlberechtigten widersinnig erscheinen“, heißt es in dem Urteil. Einstweilen aber, so das Urteil, sei dieser Zustand zähneknirschend hinzunehmen. Aber bis 2011 müsse der Gesetzgeber unbedingt Abhilfe schaffen.
Krudes argumentatives Niveau
Bis 2011? Es war den Richtern des Zweiten Senats nicht entgangen, dass 2009 Bundestagswahlen bevorstanden. Dass die Legislaturperiode vier Jahre dauert, steht im Grundgesetz. Die Frist bis 2011 war nichts weniger als eine Empfehlung, die Wahl zum 17. Deutschen Bundestag nach Regeln abzuhalten, deren Verfassungswidrigkeit zum Zeitpunkt der Wahl bereits höchst offiziell festgestellt worden war. Gottlob ging die Wahl dann so eindeutig aus, dass an den Mehrheitsverhältnissen im Bundestag ein verfassungsgemäßes Wahlrecht wohl nichts geändert hätte. Anderenfalls wäre das Bundesverfassungsgericht angesichts einer erwartbaren Flut von Wahlprüfungsbeschwerden wohl in einige Erklärungsnöte geraten.
Noch größeren Schaden hat das Lissabon-Urteil angerichtet. Nicht nur, weil hier das Gericht den Bundestag einerseits als allein demokratisch legitimierte Entscheidungsinstanz in den Mittelpunkt aller Politik rückte, ihn andererseits aber wie einen Schuljungen behandelte, der ohne strenge Zucht und Aufsicht nichts als Unfug anstellt. Nicht nur, weil hier der Zweite Senat das Grundgesetz Konrad Adenauers und Carlo Schmids einsetzte wie ein Zauberer seinen Zylinder und aus ihm zum höchsten Erstaunen des (Fach-)Publikums ein Verbot eines europäischen Bundesstaates hervorzog. Nicht nur, weil das Gericht auf einem argumentativen Niveau, das man nur als krude bezeichnen kann, dem Europäischen Parlament kurzerhand seine demokratische Legitimation absprach.
Mit dem Lissabon-Urteil wurde offenbar, dass die Verfassungsrichter in einem ganz bestimmten Sinne selbst Politik betreiben. Nicht Parteipolitik, wie gesagt. Auch nicht Politik im Sinne politischer Weichenstellungen. Nein, in einem ganz unmittelbaren Sinne: Sie setzen die ihnen verliehene Macht ein, um eben diese Macht abzusichern und auszuweiten.
Menschen, die ihre Macht behaupten wollen
Das Grundgesetz ist längst nicht mehr die einzige in Deutschland geltende Verfassungsordnung. Auf allen möglichen supranationalen Ebenen wird Recht gesetzt, werden kollektiv bindende Entscheidungen gefällt, legitimiert und eingegrenzt, kurz: existiert Verfassungsrecht. Die Europäische Union ist nur eine dieser Verfassungsordnungen, wenn auch die am meisten ausgeprägte und wirkmächtigste. Das Grundgesetz hat damit eigentlich gar kein Problem, im Gegenteil: Den Verfassungsgründern erschien 1948/49 die Einbindung in supranationale Ordnungen als einziger Weg, überhaupt wieder zu politischer Selbstbestimmung zurückzufinden. Daran vermochte auch die Wiedervereinigung substanziell nichts zu ändern: Mit der Entscheidung gegen eine neue gesamtdeutsche Verfassung hat sich der Verfassungsgeber, das deutsche Volk, für eine Fortsetzung dieses Wegs entschieden.
Das Bundesverfassungsgericht hatte schon früh erkannt, dass dieser Weg seine eigene Letztentscheidungskompetenz bedroht. Da waren rechtliche Bindungen entstanden, die sich seiner Kontrolle entziehen. Da kamen aus Straßburg und Luxemburg Gerichtsurteile, die seiner Autorität nicht unterworfen waren, ja sogar Vorrang beanspruchten. Das Bundesverfassungsgericht hatte zwar ein paar spektakuläre Versuche unternommen, der Konkurrenz Zügel anzulegen. Sie waren aber stets folgenlos geblieben.
Doch jetzt scheint das Gericht tatsächlich ernst zu machen. Die Passagen im Lissabon-Urteil, in denen es um die Kontrolle europäischen Rechts durch das Bundesverfassungsgericht geht, sind keine leeren Drohungen. Das Gericht scheint jetzt – und das ist neu – Deutschland zum Verstoß gegen seine völkerrechtlichen Verpflichtungen zwingen zu wollen, um seine Letztentscheidungskompetenz durchzusetzen.
Die Politik, soweit ihr am Gedeihen Europas gelegen ist, macht das natürlich besorgt. Aber da ist noch mehr. Die Politiker spüren dahinter ein Motiv, das ihnen nur zu vertraut ist: einen gesunden institutionellen Selbstbehauptungstrieb. Genauer: Willen zur Macht. Und das bei der Institution, deren Aufgabe es ist, den Machtwillen der Politiker im Zaum zu halten. Das könnte die deutliche Spur von Verächtlichkeit erklären, die sich neuerdings in die Rede mancher Politiker mischt, wenn sie auf Karlsruhe zu sprechen kommen.
Die Legende, das Verfassungsgericht schwebe über der Politik, hat seit je den Blick dafür verstellt, worum es eigentlich geht: um Menschen, denen die Macht gegeben ist, Entscheidungen zu fällen, die uns alle binden. Je weniger diese Macht im Laufe ihrer Ausübung kontrollierbar ist, desto mehr Gewicht bekommt ihre Legitimation zur Zeit ihrer Verleihung. Darum muss sich in den Vereinigten Staaten jeder Kandidat für das Amt des Richters am Supreme Court einer peniblen Durchleuchtung seines bisherigen Lebenslaufs sowie wochenlangen erbittert geführten politischen Kontroversen um seine persönlichen Qualitäten und Qualifikationen aussetzen – bei dieser irreversiblen Ermächtigung eines Menschen will man wirklich keinen Fehler machen.
In Deutschland leisten wir uns immer noch den Luxus, die Wahl der Richter am Bundesverfassungsgericht als eine Art administrative Entscheidung zu behandeln. Den Namen der Kandidaten erfährt kein Mensch, geschweige denn es diskutiert irgendwer darüber. Das ist bequem für die Politik und angenehm für die Edel-Juristen, auf die die Wahl fällt. Aber das kann so nicht bleiben. Die Frage der Richterwahl ist ein Politikum allerersten Ranges, und sie sollte auch als solches behandelt werden. Gut möglich, dass das manche Menschen in ihrer Sehnsucht nach einem Ort unpolitischer Überparteilichkeit enttäuscht. Gut möglich, dass die Umfragewerte in punkto Vertrauen ein Stück heruntergehen. Aber der Preis ist nicht zu hoch, wenn dafür das Verfassungsgericht den Respekt der Politik zurückgewinnt.