Kein Projekt, nirgends?
Es gehört keine prognostische Fähigkeit zu der Feststellung, dass das Superwahljahr 2009 von ausufernden Koalitionsspekulationen begleitet werden wird. Nahezu alle Wahlen der vergangenen Jahre scheinen die Schrumpfung der beiden Volksparteien als schwer umkehrbaren Prozess zu bestätigen. Dementsprechend wird es zusehends unrealistischer, mit einem hart geführten Lagerwahlkampf in die Regierungsverantwortung zu gelangen. Flexibilität ist gefordert, um eine abermalige Große Koalition zu vermeiden. Dabei werden – zumindest theoretisch – auch die bereits im Jahr 2005 ausgiebig diskutierten Dreierbündnisse zum Planspiel gehören.
Programmatisch und inhaltlich gibt es wenig Grund, irgendeine der möglichen Optionen kategorisch auszuschließen. Immerhin gab es in Rheinland- Pfalz bis vor kurzem eine gut funktionierende rot-gelbe Koalition und gibt es in den Ländern derzeit sowohl rot-grüne (Bremen), schwarz-grüne (Hamburg) als auch schwarz-gelbe (Niedersachsen, Baden-Württemberg, Nordrhein-Westfalen, Bayern) Kooperationen, allerdings noch keine so genannte Ampel- oder Jamaika-Lösungen. Geht es um die Realisierung einer solchen Dreierkonstellation, scheint das Problem weniger bei den Volksparteien, als vielmehr im Verhältnis zwischen FDP und Grünen zu liegen.
Nach der Selbstzerlegung der eigenen Partei in Hessen und dem abermaligen Austausch der Führungsspitze im vergangenen Sommer steht die SPD der sich weitgehend unauffällig verhaltenden Union geschwächt gegenüber. Auch wenn nicht vorauszusetzen ist, dass die derzeitigen Umfrageresultate stabil bleiben, die eine Wiederauflage einer christlich-liberalen Regierung möglich erscheinen lassen, so steht doch die Sozialdemokratie unter weit größerem Flexibilisierungszwang als die Union. Die SPD braucht Optionen jenseits der Grünen und kann sich dem Gespräch mit den Liberalen nicht entziehen, nachdem auf Bundesebene jede Form der Zusammenarbeit mit der Linkspartei aus guten Gründen auszuschließen ist. Dabei ist klar, dass die Hoffnungen auf dem derzeitigen Führungstrio ruhen: Die Agenda-Politiker Frank-Walter Steinmeier und Peer Steinbrück sowie Parteichef Franz Müntefering scheinen für die Anbahnung eines sozialliberalen Dialogs geeignet.
Vor 40 Jahren stimmten die Bedingungen
Natürlich lässt sich über die Neuauflage eines sozial-liberalen Bündnisses trefflich spekulieren, auch unter dem Aspekt, dass es dieses ja schon einmal gegeben hat. Jedoch: Vor 40 Jahren herrschte ein intellektuelles Klima, das einen Zusammenschluss von SPD und FDP begünstigte. Es gab den erkennbaren Umriss eines sozial-liberalen Projekts. Nicht zu unterschätzen ist die Rolle der Ostpolitik, die den Wandel durch Annäherung und Entspannung als mobilisierendes Versprechen in sich trug und erheblichen gesellschaftlichen Appeal besaß. Die außen- und deutschlandpolitische Übereinstimmung war ohne Zweifel die wesentliche integrative Klammer der Regierung Brandt/Scheel.
Darüber hinaus bot sich eine damals erneuerte und verjüngte FDP nach der Ära Erich Mende als Partner für eine soziale Liberalisierungspolitik an, um „mehr Demokratie zu wagen“. Die Öffnung für einen sozial grundierten Liberalismus fand spätestens in den Freiburger Thesen von 1971 Ausdruck. Intellektuell erhielten die Liberalen bemerkenswerten Zulauf und konnten sich auf die Unterstützung namhafter Persönlichkeiten verlassen – immerhin zählten der junge aufstrebende Soziologieprofessor Ralf Dahrendorf und der Herausgeber des Spiegel Rudolf Augstein zu den liberalen Meinungsführern der Zeit, die sich zeitweise als Quereinsteiger in die Politik versuchten. Dahrendorf machte eine steile, wenn auch kurze politische Karriere bis zum Staatssekretär im Außenministerium, und sogar Rudolf Augstein nahm für kurze Zeit einen Platz in der FDP-Bundestagsfraktion ein. Stellt man überdies in Rechnung, dass sich die große Hamburger Wochenzeitung Die Zeit damals ebenfalls zu weiten Teilen im parteipolitischen Liberalismus repräsentiert fand, dann ruft dies noch einmal eine versammelte intellektuelle Schar von beeindruckender Strahlkraft in Erinnerung. Dies war eine wesentliche Voraussetzung dafür, dass die FDP – auch jenseits offensichtlicher strategischer Interessen – politisch für die Sozialdemokratie ein attraktiver Dialogpartner werden konnte.
Wo könnten die Schnittmengen liegen?
So sehr man sich heute im Willy-Brandt-Haus einen solchen Dialog als strategische Chance wünscht, so schwierig erscheint es doch auf mittlere Sicht, eine Erfolg versprechende Bahn dafür zu finden. Denn wo liegen heute die Themen, die der Keim für ein neues sozial-liberales Projekt sein könnten? Im direkten Vergleich mit 1969 fällt sofort ins Auge, dass es daran in eklatanter Weise mangelt. Treibt man die Parallelbetrachtung noch weiter, so lässt sich auch in der Posse um die Bundespräsidentschaftskandidatur im vergangenen Jahr ein Faktor für atmosphärische Störungen erkennen. Damals gab die Unterstützung von Gustav Heinemann durch die FDP ein Aufbruchsignal für die spätere sozial-liberale Koalition. Heute haben die fehlende überparteiliche Sondierung der abermaligen Nominierung Gesine Schwans und die frühe Festlegung Westerwelles auf Horst Köhler die Gräben nur weiter vertieft.
Erschwerend kommt hinzu, dass eine sozial-liberale Verständigung allein kaum ausreicht; auch die Grünen müssten mit ins Boot, um eine Parlamentsmehrheit zu sichern. Dass es für eine grün-gelbe Annäherung bisher keinen Präzedenzfall und aufgrund der sorgsam gepflegten gegenseitigen Abneigung keinerlei Anzeichen gibt, steht auf einem anderen Blatt. Die SPD wäre hier als tätige Vermittlerin gefragt. (Doch selbst wenn eine solche Vermittlung Chancen eröffnete, graust es jeden Sympathisanten beim Gedanken an die Blockademöglichkeiten, die sich aus einer solchen Dreierkonstellation im Bundesrat ergäben.) Bleiben wir zunächst beim rot-gelben Gedankenspiel.
In Lieblingsfeindschaft vereint seit 27 Jahren
Zunächst einmal ist zu konstatieren, dass die Führungseliten beider Parteien bisher nicht dadurch aufgefallen sind, dem Gegenüber nachhaltige Avancen zu machen. Zu lange ist man in den vergangenen 27 Jahren im Rollenspiel der Lieblingsfeindschaft verharrt. Das scheint sich auch mit einer neuen Politikergeneration nicht zu wandeln, denn es ist nicht davon auszugehen, dass sozialdemokratische Nachwuchshoffnungen wie Björn Böhning, Andrea Nahles, Heiko Maas oder Thorsten Schäfer-Gümbel sich einer marktliberalen Orientierung annähern, sondern im Gegenteil sich im Zuge der Finanzkrise in ihrem Kurs bestärkt sehen, hinter die Agenda 2010 zurückzugehen.
Selbst wenn die Schröderianer der heutigen Führungsriege die liberale Option ins Kalkül ziehen, wäre dies in einer Partei kaum zu vermitteln, die sich das gesamte vergangene Jahr mit einer eventuellen Tolerierung der Linkspartei befasst hat. Mit der Ablösung von Kurt Beck, der als sozial-liberal regierender Ministerpräsident immerhin Ausgleich und Integration der verschiedenen Parteiflügel anstrebte, sind diese inneren Widersprüche keineswegs ausgefochten, sondern nur auf Eis gelegt, um zum möglicherweise ungünstigsten Zeitpunkt wieder aufzubrechen. Andererseits fehlen auf Seiten des potenziellen Dialogpartners, der FDP, einige wesentliche Voraussetzungen. Dies macht die Lage für die SPD prekär, weil damit ihre politischen Wahlmöglichkeiten schwinden; es offenbart zudem aber auch die Verfassung einer FDP, deren Wahlerfolge in der Periode der „putzmunteren Opposition“ (Guido Westerwelle) in ein fahles Licht getaucht werden, wenn man sich mit ihrer programmatischen, intellektuellen und personellen Situation näher befasst.
Westerwelles FDP: entkernt und ausgedünnt
Auch auf Seiten der FDP fällt der Abgleich mit der Situation von 1969 bescheiden aus. Aus dem liberalen Verbund von Persönlichkeiten mit unterscheidbarer politischer Akzentuierung (Walter Scheel, Hans-Dietrich Genscher, Werner Maihofer, Ralf Dahrendorf) ist eine Ein-Mann-Partei des dominanten Vorsitzenden Guido Westerwelle geworden, der mit der ihm eigenen ehrgeizigen Zielstrebigkeit alle innerparteilichen Konkurrenten ausgeschaltet hat. Den außenpolitisch profilierten Wolfgang Gerhardt hat er auf das Abstellgleis der Friedrich-Naumann-Stiftung manövriert, und die Rekrutierung von neuen Köpfen gehört kaum zu seinen Tugenden. Dirk Niebel oder Cornelia Pieper vermögen jedenfalls kaum die Hoffnung auf Innovation zu wecken, allenfalls der niedersächsische Landesvorsitzende Philipp Rösler wagt bisweilen ein Widerwort zum Großen Vorsitzenden. Die Reihen der linksliberalen und bürgerrechtsorientierten Identifikationsfiguren vom Schlage eines Gerhart Baum oder Burkhard Hirsch sind ausgedünnt, höchstens Sabine Leutheusser-Schnarrenberger behauptet noch den bayerischen Landesvorsitz.
War die FDP einst eine Partei für interessante Quereinsteiger, so überwiegt heute der smarte, Westerwelle-affine Karrierist ohne Ambition auf programmatische Erneuerung liberaler Politik. Diese Entwicklung hat – so muss man wohl sagen – zu einer gewissen intellektuellen Entkernung geführt. Das bleibt so lange ohne spürbare Folgen, wie die FDP das Mantra von Entbürokratisierung, Steuersenkung und Marktliberalisierung singen und in Stimmengewinne bei den gesellschaftlichen „Leistungsträgern“, die der Volksparteien müde sind, umsetzen kann. Dabei setzt die Westerwelle-FDP (zumindest auf Bundesebene) alternativlos auf die Rückkehr in die Regierungsverantwortung an der Seite der Union, und es kann gut sein, dass diese Rechnung aufgeht.
Verfehlt man dieses Ziel, was nach der Absturzerfahrung der CDU im Jahr 2005 nicht völlig auszuschließen ist, kämen auf den Parteivorsitzenden eine ganze Reihe von unangenehmen Fragen zu, die sich auch jetzt schon hinsichtlich der versäumten Möglichkeit stellen, in den vergangenen Jahren einen Beitrag für einen zeitgemäßen, intellektuell ansprechenden politischen Liberalismus zu leisten. Westerwelle trägt schon jetzt die Verantwortung dafür, die FDP in die geistige Einöde geführt zu haben.
Abgeschnitten von allen Debatten
Nun mag man einwenden, dass eine theoretische Neuerfindung des Liberalismus allein noch nicht den Erfolg einer politischen Partei bedingt. Aber es ist schon verwunderlich, in welcher Weise sich die FDP konsequent von allen kultur- und gesellschaftspolitischen Debatten abgeschnitten hat. Hätte man nicht annehmen müssen, dass Liberale beispielsweise das viel diskutierte Thema „neue Bürgerlichkeit“ bereitwillig aufgreifen und in eine politische Richtung lenken? Nichts dergleichen ist passiert – abseits der erwartbaren Resonanz im unionsnahen Milieu ergriffen eher Grüne, die linksliberale taz oder rege SPD-Netzwerker das Wort, und dies durchaus auch in konstruktiver Absicht. Von der Partei, die sich im liberalen Bürgertum verortet, ließ sich dazu in der jüngeren Vergangenheit ebenso wenig vernehmen wie zu den immer wieder aufgeworfenen Fragen über die normativen Grundlagen der Zivilgesellschaft, über soziale Gerechtigkeit oder die Gemeinwohlorientierung liberaler Politik. Friedrich August von Hayek scheint der letzte maßgebliche Theoretiker zu sein, der für den parteinahen Think Tank Das Liberale Institut von Belang ist.
Man sollte theoretische Debatten nicht unterschätzen. Was die Feuilletons und Podien der Bundeshauptstadt erreicht, findet auch Eingang in die politische Klasse, in ihre Parteizentralen, Referentenstäbe und in die zahlreichen Lobbygruppen, in denen Themen selten gesetzt, sondern aufgegriffen, getestet, variiert und gegebenenfalls weiterverwendet werden. Es ist nicht zuletzt dieses Milieu, in dem über eine Vielzahl von Fragen Austausch und Begegnung stattfinden. Vieles davon versandet rapide, aber die Nebeneffekte solcher Debatten können dauerhaft sein, neue Bande knüpfen und unverhoffte Verständigungen bewirken.
Die FDP besitzt kein geisteswissenschaftliches, kein intellektuelles Umfeld mehr; das parteinahe Blatt liberal verdämmert im Dornröschenschlaf, die „Friedrich-Naumann-Stiftung für die Freiheit“ ist damit beschäftigt, sich langsam von ihrem unangenehmen Namenspatron zu lösen und macht wenig Anstalten, irgendeinen Anschluss an internationale Debatten über einen modernen Liberalismus zu finden. Wenn die FDP von Bildung redet, ist mittelstandsorientiert lediglich Ausbildung gemeint. Im Wettbewerb um kluge Köpfe scheint die Partei des individuellen Freiheitsstrebens jetzt schon abgeschlagen und stünde vor einem echten Personalproblem, sollte der Sprung in die Regierungsverantwortung gelingen. Es ist bezeichnend, dass das europapolitische Gesicht der Partei, Silvana Koch-Mehrin, zwar alle Attribute eines sympathischen Cover-Girls besitzt, inhaltlich aber nicht Gefahr läuft, mit eigenen Standpunkten aufzufallen.
Die Situation scheint paradox: Während die FDP in der sozialliberalen Umbruchphase vor 40 Jahren bei aller intellektuellen Lebendigkeit kurz vorm Existenzminimum dahinvegetierte, bei einer Reihe von Wahlen schwere Verluste hinnehmen musste und stets in der Nähe der 5-Prozent-Hürde blieb, kann sie heute zwar nicht 18, aber doch 10 Prozent der Wählerstimmen anpeilen, ohne dass sie dafür einen zündenden Gedanken entwickeln muss. Es ist bemerkenswert, dass der Zusammenbruch der Finanzmärkte und die drohende Rezession keinen programmatischen Rechtfertigungszwang für den parteipolitischen Marktliberalismus auslöst. Die Rolle der Opposition bietet hier den Luxus, völlig aus der Schusslinie der Kritik zu geraten, wenn sich alles auf das Regierungshandeln in der Krise konzentriert.
Auf eines allerdings kann man sich verlassen: Die FDP wird alle „Liebesbriefe“ der Sozialdemokraten, die ihr allmorgendlich „unter die Fußmatte“ (Guido Westerwelle) geschoben werden, unbeantwortet lassen, aus einsehbaren strategischen Gründen – Rot-Gelb ist numerisch unrealistisch, für das Gelingen der Ampel wäre ein Szenario zu imaginieren, das die Grenzen der Phantasie deutlich überschreitet. Darum bleibt der SPD (falls es nicht doch – trotz aller abschlägigen Bekundungen – zu österreichischen Verhältnissen, das heißt zur Verlängerung der Großen Koalition kommt) wohl nur der Gang in die Opposition, denn jedes Rangieren mit sozial-liberalen Gedankenspielen bewegt sich derzeit auf toten Gleisen. ■