Kinder an die Macht
Es gibt noch andere Fragen, die Gustavs Leben bestimmen werden. Wird er Schule und Universität kostenlos besuchen können? Wird es eine umfassende Krankenversicherung geben? Existiert die Rentenversicherung noch? Wie wird Gustav in 50 Jahren mit seiner Arbeit einen Rentner versorgen können? Wird er den Generationenvertrag dann endgültig kündigen - oder werden seine Eltern das schon 20 oder 30 Jahre vorher erledigt haben, als sie von ihren monatlichen Rentenbeiträgen jeweils zwei Renten finanzieren sollten?
Keine Frage, das deutsche Sozialsystem steckt in der Krise. Seit Jahren wird darüber geredet und ein wenig herumreformiert. Da wird eine neue Säule in der Alterssicherung eingeführt - die kapitalgedeckte Riester-Rente. Doch nur wenig später ist klar, dass auch dies nicht ausreichen wird, um die Beiträge auf einem erträglichen Niveau zu halten. Alle paar Jahre gibt es eine neue Gesundheitsreform, und die Kosten im Gesundheitswesen laufen aus dem Ruder. Bisher liefen diese Reparaturen noch immer darauf hinaus, dass wir am Ende neue Zuzahlungsmechanismen in Kauf nahmen. Ein Jungunionist kam deshalb im Sommer 2003 auf den Gedanken, dass die ausgiebige Gesundheitsversorgung der Älteren schuld daran sei, dass unsere Krankenkassenbeiträge so hoch sind. Die Pflegeversicherung verbraucht langsam aber sicher ihre Rücklagen und wird in absehbarer Zeit in die finanzielle Schieflage geraten. Das deutsche Sozialsystem - oder besser: sein Umbau - wird uns also noch eine Weile beschäftigen.
Szenenwechsel. Seifhennersdorf ist ein idyllischer Ort. Die malerischen Hügel und Berge des Zittauer Gebirges umgeben das Dorf, die Sächsische Schweiz liegt nur wenige Kilometer entfernt. Der Ort mit seinen alten Häusern ist liebevoll saniert. Doch es herrscht eine merkwürdige Stille in Seifhennersdorf. Kein Wunder, schließlich hat das Dorf in den vergangen 14 Jahren über ein Drittel seiner Einwohner verloren. Von fast 10.000 sind nur 6.000 geblieben. Im Ort leben heute fast nur noch alte Menschen - so jedenfalls suggeriert es das Straßenbild, in dem kaum noch junge Leute auftauchen. Der alte Textilindustrieort leidet - an zu hoher Arbeitslosigkeit und zu geringer Zuversicht.
Wer abwandern könnte, ist schon weg
Seifhennersdorf mag ein Extremfall sein, doch "alte" und verlassene Dörfer sind in Sachsen keine Seltenheit. Die Abwanderung vor allem junger Menschen hält viele ostdeutsche Kommunen im Griff. Zwar hat der Treck gen Westen seit 2002 etwas nachgelassen. Doch das liegt hauptsächlich daran, dass kaum noch junge Leute da sind, die abwandern könnten. Und auch der westdeutsche Arbeitsmarkt ist nicht mehr so aufnahmefähig, wie er es noch vor zwei oder drei Jahren war. In Seifhennersdorf gibt es heute nur halb so viele Babys wie noch vor 15 Jahren. Die Geburtenrate ist Mitte der 1990er Jahre in Ostdeutschland auf solche Tiefstände gefallen, dass weltweit nur noch der Vatikan weniger Neugeborene aufweisen konnte.
Ostdeutschland hält Europas Minusrekord
In Ostdeutschland ist die Zahl der Kinder pro Frau von etwa 1,7 1989 auf 0,8 im Jahr 1994 gesunken. Heute sind es "immerhin" wieder etwa 1,2 Kinder pro Frau. Doch der Westen hat keinen Grund, sich in Selbstsicherheit zu wiegen. Seit fast drei Jahrzehnten liegt die Geburtenrate hier relativ konstant bei 1,4 Kindern pro Frau - zuletzt allerdings mit fallender Tendenz. Das ist ein europäischer Minusrekord, nur noch gebrochen von Ländern wie Italien oder Spanien, mittlerweile auch von Russland und Bulgarien. Grund zur Sorge um den Nachwuchs müsste es in den alten Ländern also schon viel länger geben.
In Sachsen haben seit 1989 über 350 der 500 Kommunen Einwohner verloren. In 42 Fällen betrug der Verlust sogar mehr als 20 Prozent. Und die Zukunft sieht nicht rosig aus. Die jüngste Bevölkerungsprognose sagt Sachsen für das Jahr 2020 eine Einwohnerzahl von ungefähr 3,7 Millionen voraus. Das sind noch einmal etwa 600.000 weniger als heute - und ein Viertel weniger als 1989, als es noch 4,9 Millionen Sachsen gab. Sachsen, heute bereits das älteste Bundesland, ergraut noch weiter. Derzeit liegt der Altersdurchschnitt bei 43 Jahren, im Jahr 2020 bei 49. 1990 gab es 890.000 Einwohner unter 15 Jahren. Heute sind es nur noch 520.000, für 2020 prognostizieren die Statistiker 420.000. Umgekehrt läuft es bei den Älteren. Aus 750.000 Über-65-Jährigen im Jahr 1990 sind heute 850.000 geworden und im Jahr 2020 sollen es 1.100.000 sein. Die letzte Prognose, gerade mal drei Jahre alt, sagte Sachsen eine Einwohnerzahl für das Jahr 2015 voraus, die man jetzt bereits für das Jahr 2010 erwartet. Gewiss, die aktuelle Bevölkerungsprognose ist eben nur eine Prognose ohne jeden Automatismus. Kein Mensch weiß genau, wie sich Abwanderung und Konjunktur entwickeln, wie sich die EU-Osterweiterung auswirken wird und die polnischen Arbeitnehmer ihre Freizügigkeit nutzen werden. Doch die Grundtendenz wird sich nicht ändern.
Die Bevölkerungsentwicklung in Sachsen ist mit ihrer Mischung aus geringen Geburtenzahlen und hoher Abwanderung ein Extremfall. Doch sie macht deutlich, wohin die Reise geht, wohin sie gehen kann. Vor allem aber findet in den neuen Bundesländern eine Entwicklung statt, die auch die alten Bundesländer in Zukunft treffen wird: zurückgehende Geburten, mehr alte, weniger junge Leute. Sicher ist die Perspektive in Sachsen besonders drastisch, aber Lösungen müssen sowohl für die dramatische wie für die etwas weniger dramatische Entwicklung her.
Wollen wir in einem Land ohne Kinder leben?
Die alternde Gesellschaft und weniger Kinder sind die eine, die Last der Sozialversicherung die andere Seite derselben Medaille. Ein Rentensystem, das mit den Beiträgen und Steuern der Arbeitenden die Rentner von heute versorgt, muss darauf achten, dass morgen noch genügend Menschen da sind, die dann die Renten sichern. Das ist eigentlich eine Binsenweisheit, bedacht hat dies in den vergangenen Jahren dennoch kaum jemand. Übersetzt heißt das: Wir müssen uns aktiv darum kümmern, dass ausreichend Kinder geboren werden. In Deutschland vertraut man bisher trotz hektischer Reformbetriebsamkeit vor allem darauf, dass die steigende Produktivität schon alles richten und die Renten der Zukunft finanzieren wird. Eine Garantie dafür gibt es allerdings nicht. Der Einstieg in die kapitalgedeckte Rente ist eine Reaktion auf diese Unsicherheit.
Abgesehen davon muss die Frage erlaubt sein, ob ein Land ohne Kinder das Land wäre, in dem wir leben wollen. Ein Land, in dem es immer weniger Kinder gibt, in dem die Alten die Straßen und das öffentliche Leben beherrschen, in dem Kinder vielleicht irgendwann nur noch als störende Quälgeister wahrgenommen werden, in dem die Altersresidenzen aus Florida - mit Zutrittsverbot für unter 50-Jährige - keine Fiktion sondern Realität sind. Genau in diese Richtung könnte sich Deutschland entwickeln, denn der Anteil der Frauen, die dauerhaft kinderlos bleiben, hat sich in den letzten Jahren stetig erhöht - vor allem bei den gut ausgebildeten Akademikerinnen. Von denen sind in Westdeutschland mittlerweile 40 Prozent kinderlos. Immer mehr junge Frauen verzichten ganz auf Kinder. In der Gruppe der 1965 geborenen Frauen bleiben heute etwa 30 Prozent ohne Kinder, bei den 1955 geborenen Frauen liegt diese Quote bei nur sechs Prozent.
Rabenmütter gibt es nicht
Frankreich ist ein Land der Kinder. Dort gebären die Frauen im Schnitt mittlerweile 2,0 Kinder. Das ist ein europäischer Spitzenwert und war nicht immer so. Rechte wie linke Regierungen haben sich in den vergangenen Jahren immer wieder vor der Reform des maroden Rentensystems gedrückt. Doch sie haben - ob bewusst oder unbewusst - einen anderen Beitrag zur Stabilisierung der Sozialsysteme erbracht: Frankreich leistet sich seit einigen Jahren eine Bevölkerungspolitik, die ihresgleichen sucht. So haben die wechselnden Regierungen neben der Infrastruktur die finanziellen Leistungen für Familien ausgedehnt und dabei einkommensabhängige Bestandteile eingebaut, die dafür sorgen, dass Familien mit geringerem Einkommen und Alleinerziehende eine höhere Kinderförderung beziehen als Familien mit höheren Einkommen. So erhalten in Frankreich beispielsweise Familien mit Kindern zwischen 6 und 18 Jahren zu jedem Schuljahresbeginn eine Unterstützung von 249 Euro (einkommensabhängig), für die Väter wurde ein Vaterschaftsurlaub von drei Tagen eingeführt.
Doch in Frankreich herrscht Kindern gegenüberauch ein anderes gesellschaftliches Klima. Es besteht weitgehend Konsens darüber, dass ein ausgebautes Kinderbetreuungssystem notwendig ist. 23 Prozent der Kinder unter drei Jahren gehen in Kindergärten (in Westdeutschland sind es zwei, in Ostdeutschland 50 Prozent). Frauen, auch in Spitzenpositionen von Politik oder Wirtschaft, wechseln problemlos in die Schwangerschaft und steigen verhältnismäßig schnell wieder in ihren Beruf ein. Dabei wird keine Mutter schief angeschaut. So wundert es auch nicht, dass es für das deutsche Wort Rabenmutter keine französische Übersetzung gibt.
Wie der Ehekredit "abgekindert" wurde
Auch die DDR betrieb in ihren letzten zwei Jahrzehnten eine aktive Bevölkerungspolitik. Die Bevölkerungszahl der DDR schrumpfte seit den fünfziger Jahren kontinuierlich - bedingt durch den Rückgang der Geburten (eine Entwicklung, die es in der alten Bundesrepublik in gleichem Maße gab) und die Flucht vieler Menschen in den Westen. In den siebziger und achtziger Jahren beschloss die SED dann ein Programm mit dem Ziel, die Zahl der Geburten wieder zu erhöhen. Das Kindergeld stieg schrittweise und deutlich, Familien mit drei und mehr Kindern erhielten zahlreiche Vergünstigungen und die Kinderbetreuung wurde ausgebaut. Für junge Familien gab es in der Mangelwirtschaft schneller eine Wohnung und einen "Ehekredit", dessen Rückzahlung bei Geburt eines Kindes reduziert wurde - "abgekindert" hieß das dann. Diese Politik hatte Erfolg und führte dazu, dass die Geburtenzahlen wieder stiegen. Nachdem die Geburtenrate 1975 - auch infolge Einführung der Pille - auf 1,5 Kinder pro Frau gesunken war, stieg sie bis Anfang der achtziger Jahre wieder auf 1,9 und ging erst danach langsam wieder etwas zurück. Heute wird dieser Geburtenanstieg etwas despektierlich "Honecker-Buckel" genannt - und führt doch dazu, dass heute etwa ein Drittel der 18- bis 25-jährigen Deutschen aus den neuen Ländern kommt - obwohl der Bevölkerungsanteil der Ex-DDRler in der neuen Bundesrepublik eigentlich nur bei 20 Prozent liegt.
Heute profitieren vor allem die alten Länder von der Bevölkerungspolitik der DDR, denn viele westdeutsche Unternehmen befriedigen einen Großteil ihres Fachkräftebedarfs mit den jungen Leuten aus dem "Honecker-Buckel". In der alten Bundesrepublik nämlich blieb die Geburtenrate seit den siebziger Jahren relativ konstant - und vor allem niedrig. Zwar gab es in den alten Ländern aufgrund der starken Einwanderung keinen Bevölkerungsrückgang, zumal die Einwanderer eine deutlich höhere Geburtenrate "mitbrachten". Doch Zuwanderer haben die Eigenschaft, ihr Geburtsverhalten sehr schnell dem der aufnehmenden Nation anzupassen, was nun im Westen zusätzlich zum Mangel an jungen Menschen beiträgt. Andere Länder zeigen, dass sich die Rahmenbedingungen für mehr Kinder langfristig durchaus verbessern lassen, dass also niedrige Geburtenraten nicht naturgegeben und unveränderbar sind.
Kinderwunsch und Wirklichkeit
Dazu gibt es einen Anknüpfungspunkt. Fragt man nämlich junge Menschen nach der Zahl ihrer Wunsch-Kinder, liegt diese meilenweit entfernt von den aktuellen 1,2 oder 1,3 Kindern pro Frau. Gewünscht werden durchschnittlich 2,4. Wo also bleibt die Differenz? Warum gehen Wunsch und Wirklichkeit so weit auseinander? Und noch etwas ist festzustellen: Ist das erste Kind geboren, folgt in aller Regel auch noch ein zweites. Das Problem liegt also in der steigenden völligen Kinderlosigkeit - und das vor allem bei den besonders gut ausgebildeten Paaren. "Bildungsnah" nennt man diese heute. Womit auf das nächste Problem hingewiesen wäre: dass die Zahl der Kinder, die von zu Hause aus bereits an Bücher - und damit an Bildung - herangeführt werden, besonders stark fällt.
Die Konsequenz daraus? Erstens, der Aufwand, um in unseren Schulen gute Ergebnisse zu erzielen, wird noch größer werden. Zweitens müssen wir die materiellen, infrastrukturellen und kulturellen Ursachen der Kinderlosigkeit bekämpfen. Denn der Ausweg aus der Kinderkrise verläuft über eine moderne Bevölkerungspolitik. Eine Bevölkerungspolitik, die ihr Ziel - eine höhere Geburtenrate - offen benennt und Anreize auch mit Zwang verbindet. Eine Politik, die gekoppelt ist mit Aufklärung, einer langfristigen Bildungspolitik, einer zukunftssicheren und "weiblichen" Wirtschaftspolitik sowie ökonomischer Unterstützung für Familien. Und mit einer breiten Diskussion über die Zukunft des Kinder(losen)-Staates.
Was die finanziellen Leistungen für Kinder angeht, braucht sich Deutschland eigentlich nicht zu verstecken. Sicherlich kann es immer auch ein wenig mehr sein, doch hinsichtlich der materiellen Leistungen für Familien steht die Bundesrepublik in der EU immerhin an sechster Stelle. Hier offenbart sich ein sehr deutsches Grundmuster: Probleme sollen durch finanzielle Transfers gelöst werden, doch häufig bekämpft man dadurch nur die Symptome - die Schwierigkeiten bestehen fort. Denn wir geben das Geld an der falschen Stelle aus. Schweden beispielsweise gibt etwa zwei Drittel seiner familienpolitischen Mittel für Infrastruktur und nur ein Drittel für direkte finanzielle Transfers aus. In Deutschland ist es genau umgekehrt.
Eine moderne Bevölkerungspolitik muss die Gegebenheiten und den Wandel der Zeit akzeptieren. Wenn 40 Prozent der Akademikerinnen kinderlos bleiben, dann wird es weniger daran liegen, dass die finanziellen Belastungen durch Kinder so hoch sind - nach wie vor gilt die Faustregel: Je mehr Bildung, umso mehr Einkommen. Vielmehr muss stärkeres Augenmerk auf die Vereinbarkeit von Kind und Karriere gelegt werden. Sofern Unternehmen nur die Sprache des Geldes sprechen, sollten sie eben große Steuergutschriften bekommen, wenn sie Kinderbetreuung anbieten oder die flexible Arbeitszeitgestaltung für Eltern ermöglichen. Auch die Väter müssen stärker als bisher ran. Denn es sind immer noch die Männer, die sich am wenigsten verändert haben. Aller Rhetorik zum Trotz sind sie nach wie vor kaum im Haushalt beteiligt. Vor allem, wenn ein Kind im Spiel ist, liegt die Hauptlast weiter bei den Frauen. Per Gesetz lässt sich die Mitarbeit der Väter im Haushalt nicht erzwingen, doch könnte beispielsweise das Erziehungsgeld gekürzt werden, wenn der Vater nicht auch mindestens einen Monat zu Hause beim Kind bleibt. Gleichzeitig könnte den frisch gebackenen Vätern bei Geburt des Kindes aber auch ein Vaterschaftsurlaub eingeräumt werden - in Schweden sind es immerhin vier Wochen.
Die Wirklichkeit steht auf dem Kopf
Das Ziel der Bundesregierung, bis 2006 für 20 Prozent der Unter-Dreijährigen Kinderbetreuungsmöglichkeiten anzubieten, ist gut. Aber es ist bei weitem nicht ausreichend. Und wie diese Zahl innerhalb von nur noch zwei Jahren erreicht werden soll, ist vollkommen offen. Einzig in den neuen Ländern ist das Ziel schon heute mehr als erreicht. Die von der DDR geerbte Kinderbetreuung bietet in Brandenburg für die Hälfte der ganz Kleinen einen Krippenplatz, in Sachsen immerhin noch für 24 von 100 Kindern. Der Rechtsanspruch auf einen Kitaplatz steht zwar im Gesetz, die Realität jedoch steht auf dem Kopf: Im Westen gibt es hauptsächlich Halbtagsbetreuung - und auch dies meist nur nach irrwitzig langen Wartezeiten. Im Osten hingegen ist der Ausstattungsgrad exzellent hoch. 94 Prozent der kleinen Brandenburger gehen in eine Kita. Dahinter steht eine enorme finanzielle Leistung von Ländern und Kommunen. Dabei sollte der ostdeutsche Kita-Standard ein Ziel für ganz Deutschland sein - und keine Last. Oder gar "Luxus", denn nichts anderes als die gute Kinderinfrastruktur kann gemeint sein, wenn die neuen Länder regelmäßig aufgefordert werden, ihre soziale Infrastruktur und öffentliche Beschäftigung endlich an den "West-Standard" anzupassen. Das Umgekehrte sollte der Fall sein.
Klimawandel für Kinder und Frauen
Das ganze Klima für Kinder stimmt nicht. Deutschland paradox: Wir investieren jedes Jahr Milliarden, um unserem Nachwuchs eine möglichst gute Bildung zu gewährleisten. Doch wenn die jungen Frauen, gut ausgebildet und auf den ersten Stufen der Karriereleiter, dann ein Kind bekommen wollen, werden sie von den Personalchefs nicht mehr geliebt. So verfolgt ausgerechnet die Speerspitze des publizistischen Liberalismus, ein großes Hamburger Nachrichtenmagazin, eine ausgesprochen kinder-, um nicht zu sagen: frauenfeindliche Politik gegenüber ihren (ohnehin wenigen) Mitarbeiterinnen - und beklagt dann am nächsten Montag, dass im deutschen Sozialstaat die Reformen ausbleiben. Das Ganze wird noch getoppt, wenn die jungen Mütter ein halbes oder ein Jahr nach der Geburt wieder arbeiten wollen und dabei als "karrieregeil" gebrandmarkt werden. Der moralische Druck, der da auf Frauen ausgeübt wird, ist für viele schwer zu ertragen. Es ist dieses Klima, das Kinderbetreuung verteufelt und arbeitende Mütter feindselig beäugt, das erheblich zu den niedrigen Geburtenraten beiträgt.
Eine gesellschaftliche Debatte über Bevölkerungspolitik ist in Deutschland aus zweierlei Gründen nicht einfach. Zum einen sind da die Erinnerungen an die nationalsozialistische Vergangenheit samt völkischer Ideologien. Auch andere Länder mit faschistischer Vergangenheit wie Spanien, Italien oder Griechenland, haben diese Probleme. Alle diese Länder haben ausgesprochen niedrige Geburtenraten und große Schwierigkeiten, ein allseits akzeptiertes System umfassender Kinderbetreuung zu installieren und Kinder von klein auf in Kindergärten und -krippen zu geben. Vielleicht sollte man dankbar sein für dieses historische Gewissen und die Skrupel, die viele befallen, wenn das Wort "Bevölkerungspolitik" fällt. Doch heute stehen diese Bedenken der Zukunft im Weg. Denn vor allem die Frauen verweigern sich einem Gesellschaftsbild, demzufolge sie mit Kind zu Hause bleiben müssten.
Die Irrwege der Achtundsechziger
Das zweite Hemmnis auf dem Weg zu einer modernen Bevölkerungspolitik liegt bei der Generation der Achtundsechziger. War es doch der Feminismus der sechziger und siebziger Jahre, der dazu beitrug, dass Frauen neue Aufstiegschancen erhielten und in die bisher abgeschirmte höhere Bildung vordrangen. Ein Feminismus, der stolz darauf war, dass die Frauen eben nicht mehr für Kind und Küche zuständig waren. Für die Ohren der grau gewordenen Feministinnen muss der Ruf nach mehr Kindern heute wie ein Rollback klingen. Die Auflösung des latenten Konflikts zwischen Feministen und "Natalisten" ist daher die Voraussetzung für eine aufgeklärte Bevölkerungspolitik. Familien sollten nicht mehr als "Ort des Konsums" (der von der Frau organisiert wurde), sondern als "Ort der Produktion" des Nachwuchses zur Sicherung unseres Sozialsystems und Fachkräftebedarfs angesehen werden.
Die Bevölkerungspolitik von morgen muss gleichzeitig die Ziele der Frauenbewegung von gestern und die Lebensqualitäten der Frauen von heute im Blick haben. Die Rahmenbedingungen dazu sind so gut wie selten. Denn die deutschen Unternehmen werden die gut ausgebildeten Frauen in Zukunft viel stärker als Arbeitskräfte brauchen - wenn in ein paar Jahren die Zahl der Erwerbsfähigen mit dem Renteneintritt der Nachkriegs-Babyboomer zurückgeht. Dabei muss es gelingen, Frauen besser in den Arbeitsprozess zu integrieren - statt sie dem Kinderkriegen zu entziehen (wie es im Moment passiert). Denn der steigende Bedarf an Fachkräften - und damit auch der Druck, Frauen stärker in das Beschäftigungssystem zu integrieren - birgt eine weitere Gefahr in sich: Unter den gegenwärtigen Umständen würden Frauen zwar mehr arbeiten, gleichzeitig aber noch weniger Kinder kriegen. Dazu darf es nicht kommen.
In der hedonistischen "Revolution" der Achtundsechziger wurzelt eine weitere Ursache für die heutige Kinderlosigkeit. Individualisierung, die säkularisierte Familie, Selbstverwirklichung haben jeden einzelnen "glücklicher" gemacht. Doch die neuen Werte lassen sich, so die Überzeugung der Individualisierten, am ehesten bei Kinderlosigkeit leben. Mittlerweile ist das Lebensgefühl der "Singleisierung" weit in die Gesellschaft vorgedrungen. Zwar signalisieren Umfragen, dass Familie und Freunde wieder hoch im Kurs stehen, doch zu mehr Kindern führt das noch lange nicht.
Ein Kind kostet ein Einfamilienhaus
Neben einer kulturellen Umdefinition sollten deshalb auch schärfere Anreiz-, womöglich auch Zwangsmodelle stehen. Auch wird es ganz ohne zusätzliche finanzielle Hilfen nicht gehen. Kinder verursachen erhebliche Kosten - Schätzungen liegen beim Gegenwert eines Einfamilienhauses. Das sind Investitionen in die Zukunft unseres Sozialstaates, die als solche behandelt und vom Staat großzügig unterstützt werden sollten, wie es bei jedem Unternehmen ja ebenso geschieht. Dabei darf gerne ein bisschen mehr Zielgenauigkeit herausspringen. Das Ehegattensplitting könnte auf Familien mit Kindern begrenzt werden, die einkommensabhängigen Elemente - vor allem beim Kindergeld - könnten gestärkt werden. Bei den Renten kann die Beweislast umgekehrt werden. So schlagen ehemalige Verfassungsrichter vor, wer keine Kinder habe (und somit keinen Beitrag zum Fortbestand des Rentensystems geleistet hat, aber trotzdem davon profitiert), solle weniger Rente bekommen.
Gegenwärtig werden paradoxerweise gerade Frauen mit Kindern mit niedrigen Renten "bestraft" - und das obwohl sie mit ihrem Nachwuchs das Rentensystem überhaupt erst ermöglichen. Das ifo-Institut hat dazu die entsprechende Zahl geliefert: 50 Prozent feste Rente für alle - und der Rest in Abhängigkeit von der Kinderzahl. Um nicht Menschen zu bestrafen, die keine Kinder bekommen können, müssen dann aber auch die Möglichkeiten zur Adoption und Pflege von Kindern vereinfacht und für gleichgeschlechtliche Paare geöffnet und angerechnet werden.
Kurzfristige Reformideen reichen nicht mehr
Nachdenken sollten wir auch über eine durchgreifende Demokratisierung der Familienpolitik, die dazu führt, dass Kinder eine Stimme bei Wahlen haben. Die Diskussionen um das Wahlrecht für Kinder weisen in die richtige Richtung. Allerdings sollte man dort damit anfangen, wo der familien- und kindergerechte Umbau der Stadt beginnt: in der Kommune. Eltern könnten bei Kommunalwahlen die Stimmen ihrer Kinder wahrnehmen. Zugleich könnten Kinder über ein Kinderparlament viel eher in die Stadtpolitik einbezogen werden. So könnten beispielsweise die 10- bis 16-Jährigen eine Schülervertretung wählen, die der Gemeinderat anhören muss, wenn Belange der Kinder betroffen sind.
Was wir heute brauchen, ist nicht nur eine kurz- und mittelfristige Agenda von Ideen zur Reform des Sozialstaates. Wir brauchen heute auch den Blick auf übermorgen - und eine agierende statt reagierende Politik, die an die Wurzeln der Probleme geht. Eine langfristig angelegte Strategie kommt deshalb um eine ehrliche Debatte zur Bevölkerungspolitik nicht herum. Eine Debatte mit dem Ziel, die Zahl der Babys zu erhöhen - und dabei erreichten Wohlstand oder neue Werte zu erhalten. Es geht darum, neue Wege zu finden, wie sich Selbstverwirklichung und Jobs mit Kindern vereinbaren lassen. Wer sich zu einer modernen Bevölkerungspolitik bekennt, muss dabei aber auch die Folgen im Kopf haben. Denn wer Kinder will, wird nicht nur mehr Toleranz und Kindergärten, sondern auch mehr Schulen und Unis brauchen. Bevölkerungspolitik bringt keine schnellen Erfolge, kurzfristig erhöhen Kinder sogar die Belastung für Staat und Gesellschaft. Langfristig aber legt eine moderne Bevölkerungspolitik die Grundlage für einen neuen Generationenvertrag und neuen Wohlstand.
Bevölkerungspolitik ist Politik der Zukunft, die intelligent mit Familien- und Kinderpolitik verknüpft werden muss. Für diese Auseinandersetzung hat die SPD eine gute Ausgangsposition, denn immerhin besitzt sie ein Familienbild, das im Einklang mit den Vorstellungen einer Mehrheit der Gesellschaft ist. Was nicht heißt, für die SPD gäbe es nichts mehr hinzuzulernen.
Werft die "Errungenschaften" über Bord!
Der Bundeskanzler hat für das Jahr 2004 weitere Reformen angekündigt - vor allem auf den Feldern der Bildung, Forschung und Kinderbetreuung. "Innovation" heißt der Begriff der Stunde. Nun müssen Taten folgen - und die grundsätzliche Debatte über eine Bevölkerungspolitik, die sich der Ursachen des Problems annimmt und nicht bei den Symptomen verharrt. Dabei kann die Regierung der Achtundsechziger gleich noch ein paar ihrer alten "Errungenschaften" über Bord werfen.
Und der kleine Gustav? Für ihn ist zu hoffen, dass er in Schulen gehen wird, in denen die nachfolgenden Klassen größer und nicht kleiner werden. Dass er in einer Welt leben wird, in der Kinder willkommen sind und nicht als Störenfriede herumlaufen, in der Bolzplätze und Kindergärten das Normalste der Welt sind. Und in der das Sozialsystem wieder demografische Stabilität gewinnt. Denn nur Kinder können unser Sozialsystem retten.
Die Debatte läuft auf hohen Touren. Zur Frage des Kinderwahlrechts siehe etwa den Aufsatz von Rolf Stöckel in diesem Heft sowie den Text von Larissa Giehl und Kerstin Griese in Heft 6/2003.