Kollegiale Führung

Die Troika als historisches Lehrstück

Die deutschen Christdemokraten suchen nach einer Führungsstruktur jenseits des Patriarchats. Denn der Patriarch ist weg und dazu übel diskreditiert. Und niemand kann ihn einstweilen in seiner alten Rolle ersetzen, niemand ist da, der die ganze große Bandbreite der Union von Katholiken und Protestanten, von Bürgern, Bauern und Arbeitern, von Ossis und Wessis, von Nordlichtern und Süddeutschen, von kühlen Globalisierern und sentimentalen Heimatvereinsmeiern, von Konservativen und Liberalen, von Alten und Jungen noch abdecken und politisch repräsentierten könnte. So heißt denn auch das Zauberwort der Erneuerung "kollegiale Führung". Der kluge und gewiss nicht ganz selbstlose Vordenker Kurt Biedenkopf hat diese Formel als erster in die christdemokratische Krisendebatte geworfen. Sie wird noch einzige Zeit im Schwange bleiben.

Die Sozialdemokraten haben diese Diskussion längst hinter sich. Bei ihnen setzte die Abkehr von den großen autoritären Patriarchen, von Bebel bis Schumacher, schon Ende der 60er Jahre ein. Damals fächerte die Sozialdemokratie sozial und kulturell weit auseinander; damals wurde die Partei bunter und pluralistischer. Die Antwort darauf war eben die kollegiale Führung, präziser: jene nachgerade legendär gewordene Troika aus Willy Brandt, Herbert Wehner und Helmut Schmidt.

Insofern bietet die sozial-liberale Ära ein Lehrbeispiel für die Ambivalenz geteilter politischer Führung. Solche Führung kann ein Integrationsinstrument sein, sie kann aber auch die innerparteilichen Gegensätze noch verschärfen. Zunächst war die kollektive Führungsstruktur in der SPD während der sozialliberalen Jahre eine durchaus einleuchtende Antwort auf die radikale Verjüngung, Ausweitung und Enthomogenisierung der Mitglieder- und Wählerschaft der SPD während der sechziger Jahre. Das alles hatte die SPD enorm fragmentiert, hatte sie in oft gegensätzliche Mentalitäten, Orientierungen, Einstellungen und kulturelle Wertmuster zerlegt. Kein einziger Sozialdemokrat allein, auch nicht Willy Brandt, konnte das ganze Panorama der neuen SPD habituell und politisch noch flächendeckend abbilden.


Aber jeder einzelne der drei damaligen Troikaner repräsentierte ein wichtiges Segment der sozialdemokratischen Basis; zusammen spiegelten sie die Breite der Partei. Für Helmut Schmidt schwärmten all diejenigen, die Politik ideologiefrei, pragmatisch, technokratisch und etatistisch interpretierten. Für Herbert Wehner begeisterten sich solche Sozialdemokraten, die auf straffe Disziplin Wert legten, die eine scharfe polarisierende Sprache schätzten und am proletarischen Kern der Partei hingen. Willy Brandt schließlich zog die neuen Nachwuchskohorten der Partei an, die für einen radikalen Reformismus schwärmten, dafür Utopien suchten, Politik wieder stärker visionär, zumindest konzeptionell begründen wollten.

Die Troika vereinigte so gegensätzliche Biographien, Charaktere und politische Typen. Darin lag ihre Stärke, da sie heterogene Strömungen in der SPD beieinander hielt und durch kooperative Führung verklammerte. Soweit jeder Troikaner seinen Part in diesem Führungskonzert harmonisch spielte, garantierte die kollektive Führungsstruktur der Partei integrative Geschlossenheit und Schlagkraft; soweit funktionierte das Zusammenspiel im Machtdreieck Parteiführung-Fraktionsspitze-Kanzleramt. Anstehende Bundestagswahlen wirkten disziplinierend auf die Troika. 1975/76 brachte sie die SPD einträchtig aus der tiefen Krise und erneut an die Regierung. Mitte der siebziger Jahre war die Troika ein Erfolgsmodell. Und angesichts der fortschreitenden Parzellierung der Gesellschaft war die Aufteilung von Führungsverantwortung in einer kollektiven politischen Leitung ein durchaus modernes Organisationsprinzip zur Steuerung komplex zusammengesetzter Institutionen.

Aber ohne Risiko war diese Führungsstruktur nicht. Sie setzte zwingend ein kooperatives, sorgfältig und verbindlich abgestimmtes Verhältnis der einzelnen Führungsfiguren untereinander voraus, gleichviel ob das auf freundschaftlicher Zuneigung, gegenseitigem Respekt oder allein auf der Disziplin des gemeinsamen Machtwillens beruhte. Anderenfalls konnte die kollektive Führung zu einem Herd der Rivalität und strategischen Konfusion werden. Insofern war die kollektive Führung ein ambivalentes Instrument: Mit ihrer Hilfe ließen sich heterogene Parteielemente zusammenschnüren; sie konnte aber auch Spannungen verstärken und verfestigen.

Die SPD erlebte in der Zeit der sozial-liberalen Koalition diese Ambivalenz. Der Troika gelang es, den tiefgreifenden Wandel der SPD Ende der sechziger, Anfang der siebziger Jahre so zu steuern, dass die Partei daran nicht zerbarst, sondern immerhin 16 Jahre Regierungspartei blieb. Das war gewiss keine geringe Leistung, zumal sich gerade die Hunderttausende von Jungmitgliedern außerordentlich schwer in die Zwänge einer pragmatisch operierenden Regierungspartei hineinfanden. Aber vor allem zum Ende der sozial-liberalen Ära erodierte die Troika immer mehr. Zum Schluss war sie nur noch ein Mythos, eine Legende.

Die drei von der sozialdemokratischen Troika hatten sich schon in den frühen siebziger Jahren aneinander wund gerieben. Sie mochten sich gegenseitig nicht, misstrauten einander zutiefst und erzählten ausgesprochen schäbige Dinge übereinander. Nur miteinander sprachen sie wenig. Außerhalb von Kabinetts- und Parteirunden kamen sie kaum noch zusammen. Sie diskutierten weder inhaltlich noch strategisch. Jeder spielte seine Rolle; und jede dieser Rollen verselbständigte sich zum Ausgang der sozial-liberalen Regierungszeit. Auch deshalb scheiterten SPD und Regierung in den frühen achtziger Jahren. Die Troikaner führten nicht mehr gemeinsam, sie arbeiteten oft genug gegeneinander.

Vor allem war Herbert Wehner in der zweiten Hälfte der sozial-liberalen Regierungsära eine Last für die SPD. In die Breite der Partei aber sprach sich das kaum herum. An der Basis wurde er gefeiert und verehrt, als Kärrner, Zuchtmeister, Anwalt der kleinen Leute, als der Hagen von Tronje der deutschen Sozialdemokratie. In Wirklichkeit bekam er die Bundestagsfraktion immer weniger in den Griff. Die sozialdemokratische Fraktion hatte sich 1976 und 1980 deutlich verjüngt. Mit den neuen Abgeordneten der Partizipationsgeneration tat sich Wehner schwer. Sie suchten die Integration durch Diskussion und Einsicht, nicht durch Disziplin und lärmende Machtworte. Aber Wehner brüllte in der Fraktion lauter denn je, und er erreichte damit weniger als zuvor. Modern war sein Führungsstil nicht. Bundestagssitzung für Bundestagssitzung saß er von der ersten bis zur letzten Minute im Plenarsaal. In der Öffentlichkeit kam das nicht schlecht an; die Fraktion aber spottete über diesen unsinnigen Verschleiß an Zeit und Konzentration. Am Ende der Ära Schmidt war Wehner ein einsamer Mann in den Führungszirkeln der Partei. Er war krank und wurde starrsinnig. Die Fraktion lief ihm aus dem Ruder.

In der Schlussphase der sozial-liberalen Koalition waren es jedenfalls nicht mehr drei Sozialdemokraten, die politisch führten, sondern nur noch zwei: der Bundeskanzler Helmut Schmidt und der Parteivorsitzende Willy Brandt. Diese Konstellation hat Helmut Schmidt später als eine zentrale Ursache für sein Scheitern als Kanzler erklärt. Bis heute ist Schmidt davon überzeugt, dass er 1974 mit der Kanzlerschaft auch den Vorsitz seiner Partei hätte übernehmen müssen. Nur so hätte er die SPD auf die Erfordernisse einer sachgerechten Regierungspolitik einrichten können.

Doch lässt sich mit guten Gründen daran zweifeln, dass Helmut Schmidt die Sozialdemokraten in den siebziger und achtziger Jahren wirklich hätte führen können. Die Ämtertrennung jedenfalls hatte auch für Schmidt beträchtliche Vorteile. Er konnte sich ganz auf die Kabinettsgeschäfte konzentrieren und brauchte sich nicht ständig mit einer extrem partizipationsfreudigen, oft schwer berechenbaren und in Teilen ideologisch verbohrten Partei herumzuschlagen. Wäre er Parteichef gewesen, dann hätte er sehr viel stärker an die Partei heranrücken müssen, wäre viel mehr Exponent des sozialdemokratischen Parteilebens geworden. Das hätte seinen Nimbus als Volkskanzler rasch zerstört. Denn seine Popularität bei den Wahlbürgern verdankte Schmidt gerade seinem Abstand zur Partei. Als Parteiführer hätte Schmidt sehr viel weniger plebiszitäre Zustimmung zu seiner Regierungsführung einsammeln können. Und schließlich wäre der Parteichef Schmidt auch als Kanzler im Kabinett stärker an die Beschlusslage der Partei gebunden gewesen. Das hätte den Raum für den zuletzt sowieso ausgesprochen schwierigen Regierungskompromiss zwischen Sozialdemokraten und Freien Demokraten noch mehr eingeengt, so dass es fraglich erscheint, ob die sozial-liberale Koalition in einem solchen Fall überhaupt noch bis 1982 über die Runden gekommen wäre.

Allerdings ist ein Parteichef Helmut Schmidt für die siebziger Jahre sowieso schwer vorstellbar. Schmidt hätte sicher die disziplinierte, sozial und normativ homogene, entideologisierte SPD von 1965 problemlos anführen können. Er wäre 1965 sicher ein idealer Bundeskanzler und Parteichef der Sozialdemokratie gewesen. Sein Führungsstil und sein politisches Credo passten prägnant in diese Zeit hinein. Aber dann riefen Brandts Visionen die Kohorten der 68er Jugend herbei, die die Partei in den frühen siebziger Jahren regelrecht überschwemmten. Die Sozialdemokratie war immer anfällig gewesen für politische Transzendenzvorstellungen, für die Utopien der dritten Wege, für die großen gesellschaftlichen Alternativen, für die weltumspannende Friedensgemeinschaft. Jetzt aber, in den siebziger Jahren, drang diese Mentalität noch jugenddynamisch aufgeladen in alle Organisationsteile des sozialdemokratischen Parteikörpers vor. Kein Parteivorsitzender konnte das ignorieren. Jeder Parteivorsitzende musste darauf Rücksicht nehmen, durfte nicht am Gefühlshaushalt der Partei vorbeiagieren. Insofern aber war Helmut Schmidt für diesen Part in den siebziger Jahren nicht geeignet. Er war der Antityp zum sozialdemokratischen Zeitgeist jener Jahre.

Schmidt war ein exzellenter Technokrat, ein effizienter Manager, ein kompetenter Meister des Aktenstudiums. Er administrierte umsichtig, ergebnisorientiert und entscheidungsfreudig. Das alles hatte er als Kanzler seinem Vorgänger Brandt weit voraus. Aber anders als dieser erreichte Schmidt nicht die Seele der Sozialdemokraten. Schmidt weckte bei ihnen keine positiven Emotionen; er konnte sie nicht begeistern, sie nicht für seine Politik mobilisieren. Schmidt und das Gros der Sozialdemokraten funkten auf unterschiedlichen Wellen. Schmidt verachtete Emotionen. Ihn schreckten Utopien und politische Träume. Ihm lag auch nichts an weitreichenden programmatischen Entwürfen. Und die sozialen Bewegungen der siebziger Jahre, für die das Herz vieler Sozialdemokraten schlug, verstand er gar nicht. Deshalb konnte er nicht an der Spitze der Partei stehen. Die Sozialdemokraten der siebziger Jahre wollten visionär und programmatisch integriert werden, nicht durch die disziplinierenden Gebote der Regierungsstabilität.

Insofern war die Ämtertrennung von Parteivorsitz und Regierungsführung wahrscheinlich alternativlos. Über eine erstaunlich lange Zeit funktionierte diese Arbeitsteilung auch immerhin so, dass die Partei nicht zerfiel und Schmidt ein souveräner und hochgeachteter Kanzler sein konnte. Willy Brandt hielt dem Kanzler über Jahre den Rücken frei, aber er achtete auch darauf, dass die Partei ihr Eigengewicht behielt. Prallten die Gegensätze zwischen den Positionen der Partei und der Politik der Regierung zu sehr aufeinander, dann bastelte Brandt an Kompromisspapieren, mit denen beide Seiten leben konnten. Doch je polarisierender sich die gesellschaftlichen Konflikte um Kernenergie und Nachrüstung zuspitzen, desto weniger und kürzer hielten die Formelkompromisse. Keine der beiden Seiten fühlte sich wirklich daran gebunden. Beide verfolgten ihre politische Linie weiter und forcierten die Polarisierung.

Dadurch aber gerieten auch Schmidt und Brandt in ihren gegensätzlichen Rollen und Aufgaben immer weiter auseinander. Am Ende war Brandt nicht mehr willens, die SPD mit der Regierungspolitik zu identifizieren. Zum Schluss strebte er eine neue Politik, neue Allianzen an. Für Schmidt bedeutete dies das Aus. Als der Kanzler stürzte, setzte sich die Partei in Windeseile von seiner Politik ab. Schon 1983 war Schmidt ein Außenseiter in der SPD, ohne die geringste Chance, auch nur eine qualifizierte Minderheit für seine sicherheitspolitischen Vorstellungen zu gewinnen. 1983 gab die Partei dem angesehensten Politiker, den sie in ihren Reihen hatte, kalt und hochmütig den Laufpass.

Schmidt also hätte Vorsitzender dieser Partei nicht sein können. Es hätte die SPD wahrscheinlich zerrüttet, vielleicht sogar gespalten. Die Ämtertrennung und die kollektive Führung entsprachen der Zerrissenheit der SPD in jenen Jahren, berücksichtigten auch die Spannung, die nun einmal zwischen der reformistisch ambitionierten Partei und der technokratisch ausgerichteten Regierung bestand. Allein die kollektive Führung konnte diese Widersprüche und Gegensätze eine Zeitlang ausgleichen. Aber sie funktioniert nur so lange, wie die einzelnen Führungsakteure kooperativ zusammenwirken. Ist ihr Verhältnis menschlich gestört, dann wird es problematisch. Noch schwieriger wird es, wenn die Rollen in der Führung sich verselbständigen und auseinander treiben, wenn Partei und Regierung in zentralen politischen Fragen gegeneinander, in konträren gesellschaftlichen Konfliktlagern stehen. Dann scheitert auch die kollektive Führung. So scheiterte 1982 die SPD, so ging die sozial-liberale Koalition in die Brüche.

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