Konsolidierung jetzt!
Die finanzpolitische Diskussion in Deutschland und Europa wird augenblicklich von einer Debatte über den Stabilitäts- und Wachstumspakt bestimmt. Die Verfechter eines modifizierten Regelwerkes sind dabei die um ihre Wiederwahl besorgten Regierungschefs. Gegenläufig zu diesem Bestreben, das die finanzpolitische Flexibilität steigern soll, ist durch verschiedene Akteure in Deutschland eine Diskussion in Gang gekommen, die auf das Gegenteil zielt: eine schärfere Regelbindung. Für diesen Ansatz gibt es gute Gründe.
Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte in Deutschland hat mit fast 1,4 Billionen Euro einen absoluten Höchststand erreicht. Jedes Neugeborene kommt rechnerisch mit einer Schuldenlast von 16.000 Euro zur Welt. Im letzten Jahr lag das Finanzierungsdefizit des Staates bei 80,3 Milliarden Euro und betrug damit 3,7 Prozent des Bruttoinlandsproduktes. Noch 1999 lautete das erklärte Ziel Hans Eichels und der gesamten Regierungskoalition, das staatliche Defizit bis 2006 auf Null zu reduzieren. Das ist inzwischen in weite Ferne gerückt. Die Vorlage eines verfassungsgemäßen Bundeshaushaltes für 2005 gelingt nur mittels Privatisierungserlösen in Höhe von einmalig 17 Milliarden Euro. Die Schuldenlast der Vergangenheit hat ein solches Ausmaß erreicht, dass der Neuverschuldung kein finanzieller Mehrwert gegenübersteht. De facto nimmt der Staat neue Kredite auf, um die Zinsen für alte Kredite zu bezahlen. Auch bei der qualitativen Zusammensetzung der Staatsausgaben stellt sich die Lage dramatisch dar. Die Mittel für Sozialversicherungen, Arbeitsmarkt und Versorgung beanspruchen rund 45 Prozent der Gesamtausgaben des Bundes. Rechnet man Personalausgaben und Zinsen dazu, stehen rund 70 Prozent der Ausgaben des Bundes nicht für Investitionen oder wesentliche Zukunftsfelder wie Bildung und Forschung zur Verfügung.
Der Sachverständigenrat hat in seinem Jahresgutachten 2003/2004 eine neue Berechnungsmethode zur Beurteilung der Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte entwickelt. So sind neben den expliziten staatlichen Schulden auch die impliziten Staatsschulden einzubeziehen, die etwa aus der Gesetzlichen Rentenversicherung oder den Pensionsansprüchen der Beamten resultieren. Der Sachverständigenrat kommt dabei zu der Erkenntnis, dass die impliziten Staatsschulden die expliziten noch um das 4,5-fache übersteigen.
Frühverrentung statt Familienförderung?
Die Berücksichtigung der impliziten Verschuldung ist eine notwendige Erweiterung der finanz- und haushaltspolitischen Perspektive für Belastungen, die heute noch nicht offensichtlich sind. So betreffen die drastischen Auswirkungen des demografischen Wandels nicht nur Pensions- und Rentenansprüche der heute und künftig Bezugsberechtigten. Nach Berechnungen der OECD sind zwischen 40 und 60 Prozent der Staatsausgaben von der demografischen Entwicklung beeinflusst. Die Ausgaben für Alterssicherung, Frühverrentung, Gesundheitsversorgung und Beschäftigungsförderung übersteigen dabei die Transfers für Familie und Ausbildung um ein Vielfaches. Der demografische Wandel, mit dem sich Deutschland und auch viele andere EU-Mitgliedsstaaten konfrontiert sehen, ist in vielerlei Hinsicht ohne Beispiel.
Durch die gleich bleibend niedrige Geburtenrate erreicht Deutschland schon seit einigen Jahrzehnten die Reproduktionsquote von 2,1 Kindern je Frau nicht mehr. Während sich die Zahl der Lebendgeborenen auf niedrigem Niveau stabilisiert, steigt die Lebenserwartung weiter an.
In den letzten vierzig Jahren hat die Lebenserwartung der Frauen um 9 auf 81,2 Jahre, die der Männer um 8 auf 75,4 Jahre zugenommen. Für denselben Zeitraum in die Zukunft wird nach Berechnungen des DIW bei den Männern mindestens ein gleicher, bei den Frauen ein etwas schwächerer Zuwachs angenommen. Aufgrund dieser Entwicklung verschiebt sich der Altersquotient, also das Verhältnis der “aktiven” Bevölkerung (zwischen 20 und 60) zu den über 60-Jährigen. Die Zahl der über 60-Jährigen steigt bis 2050 auf mindestens 35,8 Prozent, während die Anzahl der Altersgruppe zwischen 20 und 60 auf 47,8 Prozent zurückgeht.
Für die Bevölkerungszahl in Deutschland wird bis 2050 trotz der beschriebenen Entwicklung weitgehend mit einem stabilen Wert zwischen 76 und 83 Millionen Einwohnern gerechnet, wobei die Unterschiede durch verschiedene Annahmen bei der Zuwanderung begründet sind. Maßgeblich für diese Entwicklung bleibt infolge der steigenden Lebenserwartung die Alterung. Ohne weitere Zuwanderung und bei gleich bleibender Lebenserwartung hätte Deutschland im Jahr 2050 allerdings nur noch eine Einwohnerzahl von etwa 54 Millionen. Bei der beschriebenen Veränderung des Altersquotienten wird sich die Zahl der Erwerbstätigen je Rentenbezieher von 4:1 auf 2:1 halbieren. Selbst wenn die prognostizierte Entwicklung weniger drastisch ausfällt – was allerdings nicht zu erwarten ist – wird ohne Gegensteuern die Verschuldung zur Finanzierung der Staatsausgaben allein altersbedingt weiter steigen. Um der Politik und dem Staat überhaupt noch haushaltspolitischen Spielraum zu bewahren, nicht nur die Sozialkassen zu bedienen, sondern auch in Bildung und Forschung investieren zu können, bedarf es einer sofortigen Rückkehr zum Konsolidierungskurs.
Die Rechtfertigung für Schulden ist entfallen
Ihre ökonomische Begründung erfuhr die Staatsverschuldung (jenseits stabilitätspolitischer Erwägungen) in der Annahme, dass sie eine intertemporale Lastenverschiebung in die Zukunft und damit die Beteiligung späterer Generationen an Investitionen ermöglichen würde, von denen diese auch profitierten. Zwar brächten, so die Argumentation, staatliche Investitionen nur in Ausnahmefällen unmittelbar kostendeckende Erträge, aber sofern sie das Produktionspotenzial stärkten und das BIP erhöhten, stützten sie auch die Steuerkraft und führten indirekt zu staatlichen Mehreinnahmen.
Dieser These ist aus zwei Gründen zu widersprechen. In einer Gesellschaft, in der die Gebrauchsdauer der Investition immer kürzer wird, in der selbst ein Haus, eine Straße, eine Brücke spätestens nach 30 Jahren eine Grundsanierung benötigen, die so teuer wird wie die Erstanschaffung, ist die Rechtfertigung für langfristige Kreditfinanzierung entfallen. Wenn die Investitionen nur noch die Gebrauchsdauer einer Generation haben, dann muss auch die Generation, die diese Investition tätigt, die Maßnahme selbst aufbringen und darf die Finanzierung nicht auf spätere Generationen übertragen – eine Auffassung, die auch Hans Eichel noch vor einigen Jahren vertrat. Zweitens ist gerade die enorme Zunahme der Staatsverschuldung in den letzten 30 Jahren auch nicht annähernd mit einem entsprechenden Anstieg der öffentlichen Investitionsausgaben einhergegangen.
Nur noch Albrecht Müller zweifelt
Betrachtet man die jährlich wiederkehrenden Debatten anlässlich der Haushaltsberatungen von Bund und Ländern, so wird schnell klar, dass Deutschland nicht an einem Erkenntnis- sondern an einem Umsetzungsproblem leidet. Dass Bund und Länder tief in der Schuldenfalle sitzen und Konsolidierung Not tut, wird nur noch von wenigen Außenseitern wie Albrecht Müller bezweifelt. Im politischen Alltagsgeschäft hingegen blockieren sich dank unterschiedlicher Mehrheitsverhältnisse von Bundesrat und Bundestag die politischen Parteien gegenseitig. Doch jenseits von Politikverflechtungsfalle oder der Einflussnahme gut organisierter Verbandsinteressen hat sich vor allem die im Grundgesetz verankerte “Verschuldungsbremse” als nicht geeignet erwiesen, den Marsch in den Schuldenstaat zu stoppen. Artikel 115 des Grundgesetzes besagt, dass die Einnahmen aus Krediten nicht die Höhe der veranschlagten Investitionsausgaben überschreiten dürfen. Ausnahmen sind nur zur Abwehr einer Störung des gesamtwirtschaftlichen Gleichgewichts möglich. Diese “Schuldenbegrenzungsregel” ist nicht nur nach Meinung der Präsidenten der Rechnungshöfe von Bund und Länder “weitgehend unwirksam” geblieben. Auch das Vollständigkeitsprinzip in Artikel 110 des Grundgesetzes wurde durch die leichtfertige Behandlung von Schulden als Einnahmen ad absurdum geführt.
Im Interesse der längerfristigen Tragfähigkeit der öffentlichen Haushalte müssen wir zur Anerkennung der haushaltspolitischen Realität zurückkehren. In wirtschaftlichen Normalzeiten sollte daher die Verschuldung zur Haushaltsfinanzierung durch Kredite grundsätzlich unzulässig sein. Deshalb brauchen wir ein Verschuldungsverbot im Grundgesetz, das nur eine Ausnahme kennt: konjunkturbedingte Einnahmeausfälle und Mehrausgaben für den Arbeitsmarkt können mit Überziehungskrediten aufgefangen werden, die aber über den Konjunkturzyklus hinweg zwingend wieder auszugleichen sind. Das bedeutet, dass die Tilgung dieser Kredite bereits bei der Schuldenaufnahme verbindlich geregelt werden muss. Darüber hinaus müssen mittel- und langfristig verbindlich Haushaltsüberschüsse erwirtschaftet werden, um mit dem Schuldenabbau beginnen zu können. So revolutionär eine solche Änderung des Grundgesetzes wäre, so dringend nötig ist sie.
Positive Erfahrungen aus Amerika
Die Erfahrungen in den Vereinigten Staaten zeigen, dass verfassungsrechtliche Bindungen zu positiven Ergebnissen führen. In weit mehr als der Hälfte der amerikanischen Bundesstaaten gibt es verfassungsrechtliche oder gesetzliche Regelungen, die den Aufbau eines Defizits verhindern sollen. Der Haushaltsgesetzgeber ist danach verpflichtet, keine Schulden für den laufenden Haushalt in das nächste Jahr zu übertragen. Gleichzeitig muss aber für den zu vermeidenden Fall (Naturkatastrophe, Wirtschaftsflaute) vorgesorgt und ein entsprechender Fonds aus dem Überschuss gespeist werden (rainy day fund). Dabei ist auffällig, dass die Wahrscheinlichkeit eines erwirtschafteten Überschusses umso höher liegt, je restriktiver die Regelung ist.
Ebenfalls nicht bestätigt hat sich die nahe liegende Vermutung, dass durch ein Verschuldungsverbot die Neigung zu Steuererhöhungen wächst. Für die Einhaltung eines solchen Verbots sind die Verfassungsgerichte der Bundesstaaten die zuständige Kontrollinstanz. Anhand der Zahlen aus den jeweiligen Staaten lässt sich sogar nachweisen, dass vom Volk gewählte Verfassungsrichter stärker mit einem höheren Haushaltsüberschuss korrelieren als vom Gouverneur oder Parlament ernannte Richter. Allerdings hat die Regelung in den amerikanischen Bundesstaaten eine derartige Effektivität entfaltet, dass den Verfassungsgerichten Verhandlungen über vermeintlich zu hohe Schulden bisher erspart blieben.
Alte Menschen finden Schuldenmachen gut
Nach dem gängigen politökonomischen Modell ziehen gegenwartsbezogene (also ältere) Wähler die Kreditfinanzierung öffentlicher Leistungen einer Steuerfinanzierung vor, da sie so damit rechnen können, dass die Zins- und Tilgungsphase außerhalb ihrer Lebenszeit als Steuerzahler liegt. Angesichts der beschriebenen demografischen Entwicklung ist Deutschland danach von einer generellen Präferenz zum “Schuldenmachen” bedroht. Nur mit einer konstitutionellen Verschärfung der Kreditaufnahmeregeln kann auch dieser Gefahr wirkungsvoll begegnet werden. Die Zeit für eine Grundgesetzänderung drängt also. Je schneller wir zu einem Ergebnis kommen, desto besser wären die Interessen der kommenden Generationen gewahrt.