Kontinuität wie noch nie
Mit zufriedenen Wählern ist das so eine Sache. Sie sind extrem selten. Aber im Jahr 2011 sind sie in einem Land aufgetaucht, in dem man sie nun wirklich nicht vermutet hätte: Im Schatten der „großen Politik“ fand am 20. März 2011 die sechste Landtagswahl in Sachsen-Anhalt statt. Es sieht so aus, als hätte der zufriedene Wähler den Wahlausgang determiniert. Doch der Reihe nach.
Sachsen-Anhalt ist ein Kunstgebilde, das nach dem Zweiten Weltkrieg nur fünf Jahre lang existierte und nach der Vereinigung wieder geschaffen wurde. Zweifellos hatte es unter allen neuen Bundesländern nach der Wende die schlechteste Ausgangslage: Anders als in Thüringen, Sachsen oder Brandenburg gab es schlicht keine sachsen-anhaltinische Identität. Hinzu kam das Erbe der DDR-Wirtschaft. Der Süden des Landes wurde von monokultureller Großindustrie (Bergbau und Chemie) dominiert, die Mitte von der Schwer- und Maschinenbauindustrie. Beide Bereiche brachen in den neunziger Jahren binnen kürzester Zeit zusammen. Bald trug Sachsen-Anhalt die „rote Laterne“, was Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsentwicklung betrifft.
Bei der Landtagswahl 1990 siegte die CDU und bildete mit der FDP eine Koalition unter Ministerpräsident Gerd Gies, der schon nach neun Monaten das Vertrauen seiner eigenen Fraktion verspielt hatte. Ihm folgte Werner Münch, der nur zweieinhalb Jahre später mit seinem gesamten Kabinett aufgrund einer Gehälteraffäre zurücktrat. Die dritte Regierung bildete Christoph Bergner und führte die CDU in die Landtagswahl im Sommer 1994. Bei der Wahl gewannen SPD und PDS deutlich an Stimmen, die CDU blieb aber knapp stärkste Kraft.
Als ein gewisser Herr Böhmer die Bühne betrat
So kam es zur Bildung einer rot-grünen Minderheitsregierung unter Reinhard Höppner, die sich (meistens) von der PDS tolerieren ließ. Vier Jahre später gewann die SPD die Wahlen souverän und wurde zum ersten (und bisher einzigen) Mal stärkste Kraft im Magdeburger Landtag. Die Grünen flogen aus dem Parlament, so dass Höppner seine zweite Minderheitsregierung bilden konnte, nunmehr ohne Koalitionspartner.
Im Jahr 2002 folgte dann der Absturz. Die Arbeitslosigkeit war noch immer so hoch wie nirgendwo sonst in der Republik, die Schulden lagen auf Rekordniveau und die Abwanderung vor allem junger Menschen setzte sich ungebremst fort. Mit einer „Rote-Laterne-Kampagne“ gewannen CDU und FDP die Landtagswahlen deutlich. Die SPD stürzte um 16 Prozentpunkte ab und landete (knapp) hinter der PDS. Die Bühne betrat ein gewisser Wolfgang Böhmer, ein knurriger älterer Herr, der ein paar Jahre zuvor den CDU-Vorsitz übernommen hatte, weil kein Jüngerer wollte und niemand eine zu erwartende Wahlschlappe riskieren mochte.
Die neue Regierung versuchte, die Schulden zu minimieren (was nur leidlich gelang) und setzte eine Reihe von Verwaltungsreformen durch. Bei der nächsten Wahl 2006 verlor die Regierung ihre Mehrheit. Fortan bildete Böhmer eine Koalition mit der SPD. Neuer Finanzminister wurde der SPD-Spitzenkandidat Jens Bullerjahn.
Eine muntere jüngere Vergangenheit
Diese schwarz-rote Koalition arbeitete effizient und erfolgreich. Die Arbeitslosigkeit sank von mehr als 20 auf 13 Prozent. Die Abwanderung junger Leute ging spürbar zurück. Zum ersten Mal konnte Sachsen-Anhalt zwei Jahre lang ohne neue Schulden auskommen. Ein Hauch von Landesidentität entstand. Und über all dem präsidierte Wolfgang Böhmer, der sich Respekt und Anerkennung weit über die Grenzen seiner Partei hinaus verschafft hatte. Am Ende war Böhmer wahrscheinlich der ungewöhnlichste Ministerpräsident Deutschlands: Immer wieder fuhr er seiner Partei öffentlich in die Parade. Seinen SPD-Finanzminister lobte er noch kurz vor der Wahl öffentlich. Und anstatt einem Nachfolger durch rechtzeitigen Rückzug den Amtsbonus zu verschaffen, blieb er bis zur Wahl einfach im Amt.
Sachsen-Anhalt blickt also auf eine muntere jüngere politische Vergangenheit zurück. Die CDU ist auf kommunaler Ebene seit 1990 stärkste Kraft, die Landtagswahlen gewannen mal die SPD, mal die CDU. Bei den Bundestagswahlen lag meistens die Sozialdemokratie vorn – bis zum Absturz 2009, als ihr Stimmenanteil halbiert und die Linkspartei stärkste Kraft wurde. Alle Parteien trugen in Sachsen-Anhalt in unterschiedlichen Konstellationen bereits Regierungsverantwortung, sogar die PDS als Tolerierungspartner von 1994 bis 2002. Bisher war noch keine Regierung bei einer Wahl im Amt bestätigt worden. Deshalb konnten sich sowohl CDU als auch SPD und Linkspartei bei der Landtagswahl 2011 Hoffnungen machen auf das Amt des Ministerpräsidenten. Doch wer einen harten Wahlkampf erwartet hatte, wurde enttäuscht. Zu sehr lasten nach wie vor die wirtschaftlichen Probleme auf dem Land, zu sehr drückt der Schuldenberg (ebenso die Schuldenbremse), zu viele Enttäuschungen sind im Gedächtnis der Wähler haften geblieben. Und doch markiert dieser Wahlkampf auch eine Wende: Seit den neunziger Jahren war die Arbeitslosigkeit mit 80 bis 90 Prozent das alles überragende Thema gewesen. Bei dieser Wahl lag deren Bedeutung „nur“ noch bei 65 Prozent, gleichzeitig schätzten die Wähler die wirtschaftliche Entwicklung optimistischer ein. Gut möglich, dass diese Wahl in Ostdeutschland eine Zeitenwende markiert und andere Themen (wie Bildung) jetzt stärker in den Vordergrund rücken.
Fast die Hälfte hätte Bullerjahn direkt gewählt
Das Wahlergebnis brachte auf der einen Seite Kontinuität, auf der anderen Seite aber auch einige subkutane Verschiebungen hervor, deren Wirkungen wohl erst langfristig sichtbar werden. Das betrifft zum einen das Ergebnis der NPD: Nach einer wahren Materialschlacht kam sie auf 4,6 Prozent der Stimmen. Zwar hat sie den Einzug in den Landtag knapp verpasst, dennoch erfordert der Kampf gegen den Rechtsextremismus neue Anstrengungen. Die NPD scheiterte an der Fünf-Prozent-Hürde allein aufgrund der hohen Wahlbeteiligung in den Städten Magdeburg und Halle. Bei den unter 25-jährigen Männern wurde die NPD mit 18 (!) Prozent zweitstärkste Kraft, knapp hinter der CDU. Bei den 25- bis 34-jährigen Männern erreichte sie 13, bei Arbeitern 11 und selbst bei Gewerkschaftsmitgliedern noch 9 Prozent, unter den über 60-Jährigen allerdings nur 1 Prozent.
Anders als die NPD bilden die drei großen Parteien in Sachsen-Anhalt kaum deutliche Unterschiede zwischen Wählergruppen heraus: Männer und Frauen stimmten nahezu gleich ab, auch kommt es in den unterschiedlichen sozialen Gruppen kaum zur Ausbildung von Hochburgen. Diese „Angleichung“ deutet darauf hin, dass die Profile der Parteien in Sachsen-Anhalt kaum Schärfen haben und die sozio-ökonomische Konfliktlinie nach wie vor dominiert. Das mag auch der Grund sein, warum sich die scharfe Debatte um die Atompolitik in Sachsen-Anhalt im Gegensatz zu Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz kaum auf die Landtagswahl auswirkte.
Die CDU verlor am 20. März 2011 knapp 4 Prozentpunkte, blieb aber mit 32 Prozent stärkste Kraft. Abgesehen von Sachsen hat damit in keinem ostdeutschen Bundesland die größte Partei mehr als ein Drittel der Stimmen hinter sich. Nachdem die FDP ihr Wahlergebnis 2006 bereits halbiert hatte, verlor sie nochmals 3 Prozentpunkte und kam mit knapp
4 Prozent nur noch auf den sechsten Platz. Das schwarz-gelbe Lager hat bei einer Landtagswahl mit 36 Prozent nur einmal, nämlich im Jahr 1998, noch schlechter abgeschnitten – ein deutliches Zeichen dafür, dass es keine gesellschaftliche Mehrheit hinter sich hat.
Im rot-grün-roten Lager legten vor allem die Grünen zu und kamen mit 7 Prozent erstmals seit 1994 wieder in den Landtag. Die leichten Verluste für die Linkspartei scheinen hingegen darauf hinzudeuten, dass sie eine gewisse Sättigungsgrenze erreicht hat. Gegenüber der Bundestagswahl hat sie ein Drittel ihrer Stimmen verloren.
Das Ergebnis der SPD mit 21,5 Prozent mutet enttäuschend an, zumal Jens Bullerjahn mit Abstand die besten Persönlichkeitswerte aller Spitzenkandidaten hatte. Rund 46 Prozent der Wähler hätten ihn bei einer Direktwahl in die Staatskanzlei geschickt. Doch das Ergebnis kann auch eine gute Ausgangsbasis für die SPD sein. In ihrer alten Kernklientel, den gewerkschaftlich organisierten Arbeitern, ist sie wieder stärkste Kraft, bei Kernkompetenzen wie Bildung und Familienpolitik weist sie ordentliche Werte aus, als Partei wird die SPD sogar am besten bewertet. Und immerhin: Die SPD hat das tiefe Tal der Bundestagswahl verlassen und als einzige Partei gegenüber 2009 nennenswert Stimmen hinzugewonnen. Offenbar ist ganz langsam ein Grundvertrauen in Sachsen-Anhalts Sozialdemokraten entstanden.
Mit schlechtem Gewissen ist nicht gut Regieren
Doch viel wichtiger als einzelne Aspekte des politischen Nahkampfs war den Wählern die Gesamtschau. In ihren Augen arbeitete die Große Koalition effizient und ordentlich. Zwei Drittel der Wähler wollten, dass SPD und CDU weiter die Regierung bilden, unter den SPD-Wählern waren es sogar fast 75 Prozent. Diese Wunschkoalition ließ sich in den Augen der Wähler am sichersten nur erreichen mit einer im Vergleich zur CDU erstarkten, aber nicht allzu starken SPD. Gut möglich, dass die rot-rote Minderheitenregierung der neunziger Jahre in Sachsen-Anhalt eine Art Trauma hinterlassen hat.
Mit diesem Wahlergebnis bleiben die Sozialdemokraten die Partei der Mitte – und „Königsmacher“. Eine Position, die sie mit Ausnahme von Sachsen in allen ostdeutschen Ländern innehaben. Die Wahlen haben gezeigt, wie schwierig es ist, aus dieser Mittellage eine Position der Stärke zu machen. Dafür braucht es auch in Zukunft viel Selbstbewusstsein, Offensivgeist und vor allem Ideen. Die Leute wollen einen Grund sehen, warum die Sozialdemokraten – und nur sie – an der Regierung gebraucht werden.
Mit einer solchen aufrechten Haltung wird die SPD im neuen sachsen-anhaltinischen Landtag auftreten müssen, der einen deutlichen Linksruck verzeichnet. Bisher kam die Opposition von rechts (FDP) und links (Linkspartei) gleichermaßen. Jetzt gehören beide Oppositionsparteien dem linken Spektrum an (Linkspartei und Grüne). Das könnte es gerade der SPD schwer machen. Mit einem schlechten Gewissen ist schlecht zu regieren.
Die Landtagswahl in Sachsen-Anhalt hat dem Land ein erstaunliches Maß an Kontinuität gebracht. So gering waren die Ausschläge bei den Parteien bei keiner Wahl zuvor. Erstmals haben die Wähler eine Regierung im Amt bestätigt. Gegen zufriedene Wähler kann man offenbar nicht ankämpfen – auch nicht mit dem besten Wahlkampf. «