Krieg mit anderen Mitteln
Da sind die Fernsehgesellschaften, die mit Profiten rechnen. Länder, die als Fußballnationen wahrgenommen werden wollen - was für die politische Führung der meisten Länder bedeutet: Präsenz zeigen auf den Tribünen, Verbundenheit mit den Kickern ihrer Nationalelf demonstrieren, der wichtigsten und prominentesten Sportart der Welt huldigen. Selbstverständlich buhlen Bundeskanzler Gerhard Schröder und sein Herausforderer Edmund Stoiber im Wahljahr 2002 als Fußballfans um die Gunst des Fußballwahlvolks. Der bayerische Ministerpräsident sitzt im Vorstand des FC Bayern, der Kanzler ist Ehrenmitglied bei Borussia Dortmund. Der derzeitige DFB-Vorsitzende Gerhard Mayer-Vorfelder war lange Jahre Finanz- und Kultusminister in Baden-Württemberg. Vielfältige personelle Vernetzungen zwischen Fußball und Politik lassen sich ohne weiteres und für jede Phase der Bundesrepublik benennen. Viel bedeutsamer für Identität und Selbstverständnis einer Gesellschaft sind jedoch die kulturgeschichtlichen Vernetzungen von Fußball und Politik. Diese zeigen sich zwar auf nationaler wie auf internationaler Ebene nicht immer auf den ersten Blick. Doch vor allem solche weniger sichtbaren und nicht sofort greifbaren Verbindungen sind es, die viel über nationale Identitätsbildung, über Vergangenheitspolitik, über Phänomene wie Rassismus und Nationalismus aussagen.
Fußball und Politik, zwei Größen, deren Zusammengang immer wieder verneint wurde - von Fußballfunktionären wie von Politikern. Fußball und Politik, dazu gibt es schon viele Ideen, Aufsätze, glänzende Metaphern und Vergleiche. Da wurde die Spielweise der Nationalmannschaft mit der politischen Lage der Republik gleichgesetzt, fanden Politiker ihre Gegenstücke auf dem Fußballfeld, wurde aus der Haarlänge der Spieler sogleich ein Politikum. Darum soll es hier nicht gehen. Es kann auch nicht so einfach sein. Fußball ist Sport, und Sport bestimmt nicht die Politik eines Landes. Aber der Fußball ist auch keine blankgewischte Tafel, auf der die Politik ihre Botschaften hinterlassen kann. Dennoch sind Fußball und Politik zwei wichtige Sphären der Gesellschaft, die sich wesentlich häufiger überschneiden und ergänzen, als man gemeinhin glaubt. Man muss nur an jene Episode denken, in der jüngst, nach der Kirch-Pleite, Regierungen in Deutschland die Rettung der Bundesliga planten, um die Nähe von Sport und Politik zu erkennen.
Gerade im Fußball lassen sich vergangenheitspolitische und gegenwartsbezogene Ereignisse und Handlungen besonders gut erkennen, die unter anderen Bedingungen nicht zu greifen gewesen wären. Fußball kann zu einem Austragungsort von Konflikten werden, die noch nicht abgeschlossen sind, selbst wenn sie nach außen abgeschlossen wirken. Besonders das Verhältnis zwischen Deutschland und den Niederlanden - oberflächlich besehen ein freundschaftliches - zeigt auf diese Weise, durch den Fußball, seine tatsächlichen Konfliktpunkte. Gleichzeitig tragen besondere Fußballereignisse dazu bei, nationale Mythen und Legenden aufzubauen, die für das Selbstverständnis einer Gesellschaft eine besondere Rolle spielen. Für das Verständnis dieser Mythen ist ein genauer Blick auf die Bedeutung nötig, die der Sport und ganz besonders der Fußball, für eine Gesellschaft haben.
Sport ist für unsere Gesellschaft wesentlich mehr, als auf den ersten Blick erkennbar ist. Er erfährt seine Ausprägung im Rahmen kultureller Wertesysteme und soziokultureller Gegebenheiten. Dabei kommt es auf die Wechselwirkungen an, denn gleichzeitig bietet der in seiner Gesellschaft geprägte Sport auch die Möglichkeit zur Repräsentation nach außen und zur Darstellung der Gesellschaft nach innen. Sport unterliegt der Politisierung, der Ökonomisierung und der Professionalisierung durch den wachsenden Einfluss, den Sponsoren, Medien und Sportausstattungsindustrie auf ihn nehmen. Sport ist integraler Bestandteil einer Gesellschaft. Er ist mit derartig vielen unterschiedlichen gesellschaftlichen Gebieten verbunden, dass gesellschaftspolitische Analysen nicht an ihm vorbeikommen. Der Sport steht mit der Ökonomie, der Politik, der Religion und den Medien in ständigem Austausch.
Dabei spielt der Fußball eine herausragende Rolle. Denn Fußball ist, vor allem in Europa und Südamerika, nicht einfach bloß ein Teilbereich des Gesellschaftsgebietes Sport - Fußball ist in diesen Ländern der Nationalsport schlechthin. Daher bleibt er nicht mehr Sport allein, denn mit den Siegen und Niederlagen der Nationalmannschaften verbinden viele Menschen in Europa und anderen Teilen der Welt Hoffen und Bangen, Freude und Leid. Fußball dient der Repräsentation und dem Ansehen eines Landes bei wichtigen internationalen Turnieren. Zugleich bedeutet die Gründung eines nationalen Fußballbundes und die Aufnahme in internationale Verbände und Teilnahme an Wettkämpfen auch so etwas wie eine Bestätigung junger Nationen. Wie Pascal Boniface, Leiter des Instituts für internationale und strategische Studien in Paris, herausgefunden hat, gehört das Beitrittsgesuch zur FIFA häufig zu den ersten Amtshandlungen der Regierungen von gerade unabhängig gewordenen Staaten.
Im Zuge des Zusammenwachsens von Europa scheinen nationale Rivalitäten der Mitgliedsstaaten besonders im Sport zu Tage zu treten. Norbert Elias meinte, dass es besonders Angehörigen älterer Nationen schwer fallen werde, ihre inneren Bindungen an die nationale Gemeinschaft zugunsten eines supranationalen Zusammenschlusses - wie der EU - aufzugeben. Gerne spricht man deshalb davon, dass Fußballwettspiele heute zu einem friedlichen Ersatzkampfplatz der Nationen geworden seien.
Ist der Sport die Religion der Gegenwart?
Die Legenden und Mythen des Fußballs bilden einen großen Anteil am kollektiven Gedächtnis einer Gesellschaft. Fußball ist ein hoch ritualisierter sozialer Handlungsraum. So sehr wir uns bemühen, das Phänomen zu fassen, es mit den anderen Bereichen einer Gesellschaft zu verknüpfen und in Beziehung zu setzten, gelingt es dem Fußball doch, in seiner sozialen, historischen und kulturellen Bedeutung relativ undurchsichtig zu bleiben. Fußball ist von einer Vielzahl von Ideologien geprägt. Der Historiker und Kulturwissenschaftler Johan Huizinga war überzeugt, dass "sein Charakter als der einer Tätigkeit im Rahmen fester Regeln ... das Spiel in die Nähe des Religiösen - als Ausdruck des immer Waltenden und Bestehenden - zu rücken" vermag. So wird in den Sport ein beinahe religiöser Sinn projiziert, der komplexe Vorgänge auf einfache Geschichten reduziert und sie häufig genug mit einer Heilsbotschaft ausstattet, welche die Neigung zur Mythen- und Legendenbildung noch verstärkt. Auch die evangelische Bischöfin Maria Jepsen erkannte in einem Interview mit der Frankfurter Allgemeinen im Juni 1998: "Die Religionsgemeinschaften haben ihre Rituale kleingeschrieben. Andere, wie der Sport, haben sie übernommen und nutzen die Begeisterung, in der die Menschen aufgehen und ihre positiven Gefühle zeigen. Ich muss voller Neid anerkennen: Das haben wir noch nicht geschafft."
Mythen und Legenden kennt beinahe jede fußballverückte Nation. Für die Bundesrepublik endete der "zwanzighundertjährige geschichtliche Irrweg" im Wankdorfstadion in Bern und schon damals erkannte der Spiegel die Bedeutung dieses Sieges für die Identifikation der Deutschen mit der jungen und noch nicht wirklich akzeptierten Republik: "Vor aller Welt gaben sie sich, als hätten sie nun, Ende Juni 1954, nach zwanzighundertjährigem geschichtlichem Irrweg den alleinigen verheißungsvollen Sinn und die wahre Bestimmung ihrer nationalen Existenz entdeckt. Deutschland erhob sich, und Europa erbebte, weil Josef Herberger ... die von ihm trainierte deutsche Mannschaft zum größten Triumph der deutschen Sportgeschichte geführt hatte. ... Niemals zuvor in Europa aber schäumten die kollektiven Gefühle der Deutschen so ausschließlich für nichts als ihre Fußballnationalmannschaft." (Der Spiegel vom 7. Juli 1954).
Nur wenige Triumphe hatte die Fußballnationalelf der DDR vorzuweisen, aber nicht nur Menschen aus Ostdeutschland erinnern sich heute noch daran, wo sie waren, als in Hamburg 1974 das Sparwassertor fiel. Unvergessen ist die Reportage des legendären österreichischen Reporters Edi Finger über die schicksalhafte Begegnung zwischen der Bundesrepublik und Österreich in Cordoba 1978. Und in England heißt es "two world wars and one world cup" - in Erinnerung an das umstrittene Tor von Wembley im Finale zwischen der Bundesrepublik und England von 1966.
Diese Legenden ermöglichen einer Gesellschaft auf der einen Seite die Identifikation mit der eigenen Nation und die Erzeugung von Wir-Gefühlen. Auf der anderen Seite erlauben sie Abgrenzung zum Anderen, Fremden. Die Geschichte des Fußballsports begleiten Ressentiments und Vorurteile, vor allem beim nationalen Fußball. Fußball im Ländervergleich war und ist Anlass zu nationaler Mythenbildung und Feindbeschwörung. Michael Johns Ansicht, dass der moderne Fußball aus einem alten Kampf- und Kriegsspiel entstanden ist, lässt Rückschlüsse auf seine Bedeutung für den modernen Nationalismus zu. Folgt man der These Dieter Langewiesches, dass Krieg ein negativ-konstituierender Faktor für die Nationsbildung sei, könnte man in Versuchung geraten, Fußball als Fortsetzung des Krieges mit anderen Mitteln zu beschreiben. Scheint diese These in einigen Fällen zuzutreffen, so ist ihr im Grundsatz selbstverständlich nicht zuzustimmen. Das Grundmuster aber, die negative Abgrenzung zu anderen Nationen, kann gerade im Fußball so ähnlich erzeugt werden wie im Krieg. Internationaler Fußball liefert jedoch nicht nur Indizien für die Entwicklungen innerhalb einer Gesellschaft, an Fußballmannschaften wurden und werden auch binationale Konflikte, gar Systemunterschiede festgemacht. So stellt Michael John fest, dass der innerjugoslawische Konflikt bereits anlässlich von Fußballspielen sichtbar wurde. Und Dubravko Dolic ist der Ansicht, dass es noch lange Jahre schwer bleiben wird, eine bosnisch-herzegowinische Nationalmannschaft zu bilden, da sich ein Bekenntnis der drei unterschiedlichen Gruppen, der Kroaten, Serben und moslemischen Bosniaken zu einer solchen Mannschaft nur schwerlich herstellen lasse. Erinnert sei hier auch an den viertägigen "Fußballkrieg" zwischen El Salvador und Honduras, der 1969 bei einem WM-Qualifikationsspiel der beiden Mannschaften ausbrach.
Sepp Herberger fand seine Strategien bei Clausewitz
In Deutschland gewann der Fußball nach dem Zweiten Weltkrieg einen Stellenwert, den er vor und während der nationalsozialistischen Diktatur nicht erreicht hatte. Der Gewinn der Weltmeisterschaft 1954 symbolisiert mit seinen frenetischen Siegesfeiern die Akzeptanz der neuen Republik bei ihrer Bevölkerung. Der Mythos von Bern lebt bis heute aus einer Mischung von der Glorifizierung der 54-er Spieler als Kämpfer und der liebevollen Erinnerung an die männerbündische Kameradschaft und den "Geist von Spiez", der diesen individuellen kämpferischen Einsatz, den Zusammenhalt und damit den Erfolg dieser Außenseitermannschaft ermöglichte. Der Mythos der Wundermannschaft um den genialen Strategen Herberger (der Ideen für seine Strategien, die er in seinem legendären Notizbuch notierte, unter anderem aus Clausewitz′ Buch Vom Kriege bezog) wird immer wieder reproduziert. Gab es doch bisher keine Fußballweltmeisterschaft, bei der nicht die Bilder von Bern, unterlegt mit der legendären Radioreportage von Herbert Zimmermann, über den Bildschirm liefen. Mindestens alle vier Jahre und wohl auch dieses Jahr im Juni hören wir: "Aus! Aus! Aus! Deutschland ist Weltmeister!"
Nach dem Zusammenbruch des "Dritten Reiches" boten sich auf der Suche nach Loslösung und Absetzung vom Nationalsozialismus Sportvereine und die Identifizierung mit sportlichen Siegen geradezu an. Die Propagierung des Unpolitischen, die bei einigen Sportfunktionären bis heute vorhält, half mit, diese Identifikationen als ungefährlich einzustufen und Begeisterung und Jubel in vermeintlich unverfängliche unpolitische Bahnen zu lenken. Doch Belege für die politische Brisanz des Spiels gibt es zuhauf: Die Gewinner von Bern als sportliche Sieger aus einer besiegten Nation: Der Glaube, als Titelverteidiger 1958 - diesmal auf dem Fußballfeld in Schweden - wieder den Krieg gegen die Alliierten führen zu müssen. Der nach dem Ausscheiden in Göteborg erschreckend offen ausbrechende Hass auf die Schweden. Oder auch das einzige Länderspiel gegen die DDR, das jemals gespielt und gleich verloren wurde.
Der Titelgewinn der deutschen Elf bei der Weltmeisterschaft 1990 löste nicht nur neue Fußballbegeisterung aus (nachdem es zuvor ernsthafte Befürchtungen gegeben hatte, Tennis könne zum Nationalsport Nummer eins aufrücken), er verhalf auch einem wieder erstarkten Chauvinismus zu neuer Blüte - nicht allein unter den Fußballfans. So verkündete der scheidende Teamchef Franz Beckenbauer: "Wir sind über Jahre hinweg nicht mehr zu besiegen. Tut mir leid für den Rest der Welt, aber es ist so." Die prophetischen Worte des "Kaisers" sollten sich als falsch erweisen. Nach wenig erfolgreichen Turnieren 1992 und 1994 wurde 1996 noch einmal eine Europameisterschaft durch die deutsche Nationalmannschaft gewonnen, aber weder in Frankreich 1998 noch in den Niederlanden und Belgien 2000 glänzte die deutsche Elf. Im Gegenteil, bei der Europameisterschaft 2000 gelang es ihr noch nicht einmal, sich für die Finalrunde zu qualifizieren. Norbert Seitz, Autor der Bücher Bananenrepublik und Gurkentruppe und Doppelpässe: Fußball und Politik, ist daher überzeugt: "Bisher hatte noch jede Ära bundesdeutscher Geschichte die Nationalmannschaft, die sie verdiente." Die Nationalmannschaft ist des Deutschen liebstes Kind, und was ehemalige Nationalspieler zum Thema Arbeitslosigkeit beitragen, schlägt Wellen bis ins Kanzleramt.
www.ohne-holland-zur-wm.de
Zu zwei europäischen Ländern besitzt Deutschland ganz besondere Fußballverbindungen. Eines der beiden hat es in diesem Jahr nicht mit zur WM geschafft, was in Deutschland besondere Schadenfreude hervorgerufen hat: "Ohne Holland fahr′n wir zur WM." Die spätestens seit 1974 zu den Erzrivalen erklärten Niederländer sind nicht dabei. In Deutschland, obwohl die eigene Nationalmannschaft nur mit Hängen und Würgen und dem typisch deutschen Dusel das Ticket zur WM erhalten hat, jubelte man über das Ausscheiden des Oranje-Teams. Stefan Raab trug die frohe Botschaft während seiner Sendung auf dem T-Shirt, es gibt Internetseiten zum Thema (www.ihrseidnichtdabei.de, www.ohne-holland-zur-wm.de) - die Häme über das Ausscheiden der Niederländer scheint nicht aufhören zu wollen. Zu fragen bleibt, warum sich der Spott der Deutschen ausgerechnet über die Holländer ergießt. Unsere westlichen Nachbarn sind bisher erst in den Genuss eines einzigen internationalen Titels gekommen, den des Europameisters von 1988. Oder nimmt man in Deutschland immer noch die Szene aus dem Achtelfinale der WM 1990 - vor zwölf Jahren also! - übel, als Frank Rijkaard sich für einen Moment vergaß und Rudi Völler anspuckte? Klar, bei den letzten beiden großen Turnieren hat die Mannschaft im orangenen Trikot wesentlich besseren Fußball gezeigt als die deutsche. Aber welche andere europäische Mannschaft hat das nicht?
Im Sport hat es ein David Europas immer noch schwer gegen den Goliath. Da sind ja nicht nur die Niederlande. Auch Irland und Wales, Österreich und die Schweiz, um nur ein paar andere zu nennen, werden häufig nicht ernst genommen. Aber dieser David kann mit einer Steinschleuder umgehen: Als "Bondscoach" Louis van Gaal nach der gescheiterten Qualifikation im November 2001 seinen Rücktritt ankündigte, konnte man sich in holländischen Fußballkreisen durchaus vorstellen, einen Ausländer als Nationaltrainer anzustellen - unter einer Bedingung: Auf gar keinen Fall sollte ein Deutscher den Job bekommen.
Die unterschiedlichen Ansichten über Trainingsmethoden und Politik in den beiden Nachbarstaaten offenbarten sich allerdings bereits Jahre früher. Schon bei der Weltmeisterschaft 1974 in der Bundesrepublik staunten die Deutschen über die lockere Atmosphäre im WM-Quartier der Holländer, in dem sogar die Frauen und Kinder der Spieler nächtigten, während die deutsche Mannschaft für die Dauer des Turniers nach alter Väter Sitte kaserniert wurde. Vier Jahre später bei der Weltmeisterschaft in Argentinien waren es die Spieler aus dem Oranje-Team, die den Machthabern der Militär-Junta den Handschlag verweigerten. Die deutschen Spieler dagegen, bewacht von denselben GSG-9 Beamten, die bei der Befreiung der Flugzeuggeiseln von Mogadischu im Oktober 1977 mitgewirkt hatten, äußerten sich nicht zu der Diktatur in Argentinien - oder stellten einfach ihr Desinteresse zur Schau.
Oma, wir haben dein Fahrrad gefunden!
Doch die Geschichte der deutschen Schadenfreude über das Scheitern des Oranje-Teams in der WM-Qualifikation beginnt nicht, wie viele meinen, mit den roten Karten für Frank Rijkaard und Rudi Völler, auch nicht mit dem Gewinn der Europameisterschaft durch die Niederländer 1988 und erst recht nicht mit dem WM-Finalspiel von 1974. Sie beginnt vor 62 Jahren, als, im Mai 1940, die deutsche Wehrmacht das kleine westliche Nachbarland überrollte, als eine fünfjährige Besatzungszeit begann, deren Schrecken tief im kollektiven Gedächtnis der niederländischen Gesellschaft verankert ist. Als die Niederlande 1988 Europameister wurden, versammelten sich rund 9 Millionen Menschen spontan auf den Straßen und Plätzen zwischen Amsterdam und Rotterdam, Groningen und Maastricht. Es war die größte öffentliche Versammlung seit der Befreiung des Landes 1945. Fußballfans hielten Schilder hoch: "Oma, wir haben dein Fahrrad gefunden", mit denen sie darauf anspielten, dass die deutsche Wehrmacht während der Besatzungszeit Tausende von Fahrrädern konfiszierte, um den niederländischen Widerstand zu schwächen. Deutschland im Halbfinale zu schlagen und in Deutschland Europameister zu werden - das bedeutete einen immensen Schub für das niederländische Selbstbewusstsein als europäische (Fußball-)Nation.
Damit ist allerdings noch immer nicht geklärt, warum die deutsche Häme bei niederländischen Niederlagen so besonders emporkommt. Schließlich haben die Deutschen zwar den Krieg verloren, dafür aber mehrfach Welt- und Europameisterschaften gewonnen. Doch im Gegensatz zum deutsch-englischen Fußballverhältnis, dessen schärfere Töne sich hauptsächlich in den Massenmedien - vor allem den englischen - niederschlagen, zeigt sich die Brisanz des deutsch-niederländischen Verhältnisses im Stadion und vor allem auch unter den Spielern, wie die Beispiele des "Bondscoach" und der Ereignisse von 1988 und 1990 verdeutlichen.
Vielleicht hat die Aufzählung dieser Ereignisse nur anekdotischen Charakter, womöglich aber steckt doch etwas hinter der These, dass sich in unterschiedlich gewachsenen politischen Systemen auch andere Haltungen herausbilden. Die deutsche Schadenfreude über Hollands Ausscheiden ist im Grunde vielleicht auch bloß der Neid der großen Nation mit schwieriger Vergangenheit auf das kleine Nachbarland mit seiner anderen, länger gewachsenen politischen Kultur, das es sich leisten kann, moralische Ansprüche auch an die Fußballnationalmannschaft zu haben - der Neid also auf den vermeintlich freieren, liberaleren und individuelleren "Nationalcharakter", der durch die ursprünglich calvinistischen Erwartungsmuster der niederländischen Vergangenheit noch bestärkt wird.
Noch nie sah man vor 1988 so bunte, also orange Triumphfeiern, wie bei dieser Europameisterschaft. Und mögen die Konflikte in der holländischen Nationalmannschaft zwischen den Spielern, die aus den ehemaligen Kolonien stammen und denen, deren Vorfahren aus den Niederlanden kommen, auch heute noch schwelen. Wenn sich niederländische Fans Gullit-Perücken aus Karotten umhängen, dann ist das ein Umgang mit einem prominenten Vertreter einer ethnischen Minderheit im Land, der in Deutschland - trotz der Nominierung Gerald Asamoahs in die Nationalmannschaft - noch undenkbar ist. Hier soll durchaus keine weitere Legende über das Land der Calvinisten gestrickt werden. Doch nicht zuletzt die hohen Moralansprüche, die unsere westlichen Nachbarn an sich und andere stellen - und hat es auch nur symbolischen Charakter wie jüngst beim kollektiven Rücktritt der niederländischen Regierung wegen des Massakers in Srebrenica - scheinen ein Grund für die Schadenfreude der deutschen Fußballfans zu sein.
"Mirror declares Football War on Germany"
Viel stärker als das schwierige deutsch-niederländische Verhältnis wird das der Deutschen zu den Engländern in den Medien wahrgenommen. Die 5:1-Niederlage vom September 2001 schmerzt in Deutschland bis heute, aber mindestens seit dem Wembley-Tor von 1966 besitzen Spiele zwischen der deutschen und der englischen Nationalelf eine besondere Brisanz. Als die beiden Mannschaften bei der Europameisterschaft 1996 im Halbfinale aufeinander trafen - das Turnier fand im Mutterland des Fußballs unter dem Motto Football′s coming home statt -, schlachtete die englische Boulevardpresse das Ereignis in gewohnter Überzogenheit aus. Der Daily Mirror erklärte Deutschland den "Fußballkrieg": "Mirror declares Football War on Germany". Präsentiert wurde auf der Titelseite der Boulevardzeitung die britische Kriegserklärung von 1939 - nur Anlass und Namen waren ausgetauscht worden. In England ist das "Spiel" mit der Kriegsmetaphorik Bestandteil der Fußballkultur in der Yellow Press, wenn es um das Aufeinandertreffen der englischen und deutschen Nationalmannschaften geht. Schon lange nutzt die englische Presse den Fußball als Mittel nationaler Stimmungsmache. Bereits im Ersten Weltkrieg war die Beherrschung des Fußballspiels Teil der politischen Propaganda geworden, mit der deutsche Militärs und der Kaiser karikiert wurden. In den deutschen Medien wird dieses "Spiel" mit Kriegserklärungen und vermeintlicher Feindschaft mit Befremden aufgenommen und kommentiert. Aber es sind nicht nur die Zeitungen: "In England ist die akzeptable Form des Rassismus der Arbeiterklasse das beleidigende Geschwätz über die Deutschen", schrieb die Frankfurter Allgemeine im Vorfeld der Europameisterschaft 2000. Der unbeschwerte Umgang englischer Zeitungen und Zeitgenossen mit dem Krieg kann in Deutschland nicht nachvollzogen werden, hierzulande wirkt die Verwendung von Kriegsmetaphorik anachronistisch. Aber wie das Beispiel Niederlande zeigt, haben wir eigenen Methode, Häme über Fußballrivalen auszuschütten.
Natürlich ist Fußball kein Ersatz für politische Handlungen, und doch lassen sich im Fußball politische Indikatoren ausmachen, die auf das Selbstverständnis, auf das Selbstbild und manchmal sogar auf die mögliche Zukunft einer Gesellschaft verweisen. Was die Weltmeisterschaft in Japan und Südkorea bringt, werden wir erleben. Vielleicht gibt es wieder einmal erstaunliche Überraschungen, tollen Fußball, neue Stars. Vermutlich wird die Finalrunde erneut ohne die deutsche Nationalmannschaft stattfinden - das wäre dann allerdings keine Überraschung. Denn vielleicht bleibt auch alles beim Alten, und der Sport, dessen komplexe Wechselbeziehung mit der Politik zu entdecken war, genauso vorhersehbar wie jene.