Lasst endlich die Jungen ran!
Das deutsche Parteiensystem ist nicht in der Krise, es ist schon tot. Hirntot bei lebendigem Leibe. So tot, dass es nicht einmal mehr die Intensivstation wieder zum Leben erwecken kann. Die Hüllen der großen Volksparteien, die Namen, die Slogans leben noch (Freiheit, Gleichheit, Wachstum, soziale Gerechtigkeit et cetera), aber sie sind inhaltsleer geworden.
Wohl wahr: Es trifft die Großen mehr als die Kleinen. Die schlankeren Parteien – FDP und Grüne, mitunter auch die CSU – tun sich leichter, in den Zeiten der Globalisierung auf das Neue zu reagieren. Jedoch können die kleinen Parteien den Staat alleine nicht tragen, nolens volens sind sie auf das Funktionieren der Volksparteien angewiesen. Und auch ihr eigenes Führungspersonal ist nur noch schöner Schein vergangener Zeiten: Ein abgehalftert-abgehobener Joschka Fischer, ein ängstlich-weltfremder Edmund Stoiber und ein unernst-vergnügungssüchtiger Guido Westerwelle – alle drei entstammen der Ära Kohl und werden nicht diejenigen sein, mit denen die im Vergleich zu den trägen Volksparteien CDU und SPD flexibleren Koalitionspartner dieses Jahrhundert in den Griff bekommen können.
Erneuerung muss her, auf allen Ebenen. Lasst endlich die Jungen ran, verdammt noch mal! Oder sollen die Nachfolger der machtgeilen Achtundsechziger wie der Prince of Wales direkt von der ewigen Nachwuchsförderung ins Altenheim wandern? Ungekrönt und ungebraucht bis zum Sterbebett? „Geräte abschalten, alle lebenserhaltenden Maßnahmen einstellen und nur noch Schmerzmittel verabreichen, um das Sterben zu lindern!“ – das möchte man den Patienten zurufen. Und sie dann in Frieden sterben und wieder auferstehen und neu anfangen lassen.
Nein, dies ist kein Plädoyer für die Abschaffung des Parteiensystems. Auch keines für totale Anarchie. Diese Demokratie ist ohne demokratisch legitimierte, lebendige Parteien nicht denkbar. Nicht nur Vertrauen in die Politik, sondern die Parteien sind der Kitt einer stabilen Demokratie. Aber so kann es nicht weitergehen. „Ein Weiter-so kann es nicht geben“, haben Schröder und Merkel einstimmig am 1. Juli vor dem Bundestag erklärt. Sie meinten die Politik. Ihr gemeinsamer Denkfehler: Solange ihre eigenen Parteien so weitermachen, wird es keine echte Reformpolitik in diesem Land geben.
Die Parteien sind gelähmt vor Angst
Das Top-Down-Prinzip von Gerhard Schröder und Angela Merkel ist gleichermaßen gescheitert: Innovation von oben nach unten der Basis zu verordnen, die eigene Partei nicht mitzunehmen. „Volksparteien sind zu Unterstützungsvereinen für das politische Spitzenpersonal geworden“, schreibt Bettina Gaus. Vor diesem Hintergrund gewönnen Amtsinhaber und Herausforderer beständig an Bedeutung, ganz besonders deren Flexibilität und Sensibilität. Die nächste Wahl wird nicht links oder rechts entschieden, sondern geht an den, der die scheinbar besten Managementqualitäten vorweisen kann, das Land aus der Erstarrung zu holen. Aber wie soll das einem oder einer gelingen, dessen oder deren Partei selbst gelähmt ist und Angst vor der Globalisierung hat?
Die Soziologen Alexander Krafft und Günter Ulrich sehen in dem gegenwärtigen Reformdiskurs eine Angstkommunikation: „Die Angst vor dem Ausbleiben der Reform und die Angst vor der Reform bilden nur zwei Seiten derselben Medaille.“ In Deutschland wollte man schon unter Adenauer „keine Experimente“ und doch zugleich, dass sich „endlich was ändern“ müsse. Bloß keine Experimente! Bloß nicht so weiter!
Aber Erneuerung eben geht nicht ohne Risiko. Die Risikogesellschaft weiß das längst. Der FDP-Vorsitzende Guido Westerwelle hatte recht, als er in seiner Replik auf den Misstrauensantrag des Bundeskanzlers am 1. Juli sagte, Schröder sei nicht an der Agenda 2010 gescheitert, nicht am Bundesrat und auch nicht am Vermittlungsausschuss, sondern vor allem an den eigenen Leuten in der traditionsreichen SPD. Aber warum traut sich der Freie Demokrat nicht zu, in den eigenen Reihen eine liberale, allerdings keinesfalls populistische Volkspartei nach dem Vorbild von Karl-Hermann Flach zu fordern, wie sie beim Liberalismuskongress der FDP im Jahr 2004 durchaus diskutiert wurde?
Der Ruf nach der starken Frau hilft nicht weiter
Die Volksparteien sind in einer äußerst bedenklichen Verfassung. In einem Zustand, der zur politischen Entscheidungsfindung in einem demokratischen Gemeinwesen unter Bedingungen der Globalisierung nicht mehr taugt. Sie sind immer weniger Transmissionsriemen in die Gesellschaft, die lange nicht so rückständig ist, wie immer behauptet wird. In Deutschland florieren NGOs wie Greenpeace und Transparency International seit vielen Jahren, das Land wird nicht nur von Politikverdrossenheit geprägt, sondern auch von bürgerschaftlichem Engagement auf kommunaler Ebene – das heute allerdings lieber außerhalb von Parteien stattfindet. Das muss CDU und SPD zu denken geben. Nicht das Volk ist das Problem, sondern die Volksparteien sind es. Sie sind kein Motor für die Innovationen, die sie so gern beschwören, und sie sind auch keine Orte echter Demokratie.
Deswegen das Ende der Volksparteien auszurufen wäre ebenso unklug wie der Ruf nach dem starken Mann – oder der starken Frau. Doch diese Sehnsucht wird schon spürbar. Und die Volksparteien spielen mit. Statt sich selbst zu modernisieren, wollen sie eine Gesellschaft erneuern, die viel innovativer ist als sie selbst. Das Land steckt in einer Doppelzwickmühle: Wir erleben nicht nur die grundlegende Reformbedürftigkeit des Sozialstaates, für den die Agenda 2010 nur ein kleiner, wenn auch mühsamer Anfang war. Wir erleben auch eine Reformbedürftigkeit des Parteiensystems.
Als sich in den neunziger Jahren die Sozialdemokratien in Großbritannien und Skandinavien diesem Erneuerungsprozess unterzogen, als die amerikanischen Demokraten unter Bill Clinton dasselbe taten – da schliefen die Sozialvisionäre der SPD tief und fest. Die Union hielt derweil an überkommenen Gesellschaftsbildern fest und meinte, dass Frauen mehr Kinder bekommen, wenn man sie mit Kindergeld an den Herd bindet. Jetzt ist es für eine ganze Generation schon fast zu spät: Die Kinder der Achtundsechziger reiben sich zwischen Familie und Beruf auf, ohne Hilfe der Gesellschaft zu bekommen, und sei es nur in Form eines funktionierenden Bildungs- und Betreuungssystems. Oder sie wagen sich gleich gar nicht mehr, eigene Kinder zu bekommen. Nun erst ist man in Kanzleramt und Konrad-Adenauer-Haus aufgewacht – und stellt fest, dass Deutschland doch anders organisiert werden muss, wenn es nicht ganz aussterben soll.
Das Absurde an dieser politischen Krise, in der die große Reform noch aussteht, die von der künftigen Bundesregierung auf den Weg gebracht werden muss: Der Handlungsspielraum unter Bedingungen knapper werdender Haushaltskassen, der Globalisierung und der Demografie, die eine schrumpfende Bevölkerung mit sich bringt, ist so gering, dass für Ideologie kaum mehr Platz ist.
Die beiden Volksparteien sollten einerseits zur Kenntnis nehmen, dass die ideologische Abgrenzung von Politik in Zeiten der Knappheit beschränkt ist – dass dieser Befund aber andererseits auch kein Grund ist zu verzweifeln. Die Krise erfordert Realitätssinn und Pragmatismus. Sie ermöglicht theoretisch auch den Weg zur Großen Koalition, die die Handlungsunfähigkeit des Landes überwinden könnte – wenn sich die dann regierenden Politiker dazu herablassen, sich einmal nicht um Grabenkämpfe und eigene Profilierung, sondern um das Gemeinwohl zu kümmern. Mit einer schlagkräftigen, gut informierten und frechen Opposition könnte etwas wirklich Neues entstehen. Könnte, wohlgemerkt.
Aber die großen Volksparteien sind weit davon entfernt. Noch versucht sich die SPD als Hüterin der sozialen Marktwirtschaft darzustellen und will im Kontrast dazu die Union mit dem Stigma der sozialen Kälte belegen. Doch das wird nicht funktionieren. In Wahrheit liegen Schröder-SPD und Merkel-Union näher beieinander, als beiden lieb ist. Und sie haben verstanden, dass sie beide dasselbe Problem haben: ihren massiven Glaubwürdigkeitsverlust bei den Menschen in Deutschland. Die Partei der Nichtwähler wächst. Angela Merkel war am 1. Juli am Redepult des Parlaments so frei, dies spontan einzuräumen. Nur: Was fängt das Spitzenpersonal mit dieser Erkenntnis an?
Merkels Hinterstübchen, Gabriels Umkreis
Es ist traurig für die politischen Beobachter in der Hauptstadt, mit anzuschauen, wie viel Energie in den Programmkommissionen der Parteien, in den Grundsatzabteilungen und Planungsstäben buchstäblich verschwendet wird, ohne dass die durchaus gewonnenen Erkenntnisse irgendwie den Weg in das hohe Haus des Parlamentes, in die Köpfe der Abgeordneten oder in Gesetzentwürfe finden.
Die Politiker werfen der Gesellschaft vor, Angst vor der Globalisierung zu haben. Die Wahrheit ist: Sie haben selbst Angst davor! Sie sind unsicher, sie wissen nicht mehr weiter. Sie reagieren mit den Worthülsen der alten Bundesrepublik, die im Deutschland des 21. Jahrhunderts, einem Land in der Mitte eines gerade nach Osten erweiterten Europa, mit neuem Sinn erst gefüllt werden müssen. Was bedeutet Chancengleichheit in einer Europäischen Union, in der Polen bereit sind, in ihrem Land wertvolle Qualitätsarbeit für Löhne weit unter deutschem Sozialhilfeniveau zu leisten? Das muss diskutiert, durchdacht, erarbeitet werden – mühsam und auf vielen Ebenen gleichzeitig, nicht nur in den Köpfen der Herren Hartz, Rürup, Herzog, Lauterbach oder Steinmeier – oder wie sie eben heißen auf den Denkebenen der Parteivorderen.
Es stimmt hoffnungsvoll, wie viel Vernünftiges erarbeitet wird, sei es in den Hinterstübchen von Angela Merkel oder im Umkreis von Sigmar Gabriel, bei der Jungen Union wie bei den Jungen Liberalen. Aber es ist bitter, mit anzusehen wie viel davon niemals das Licht der großen Öffentlichkeit erblickt. Weil den Volksparteien der Mut und die Strukturen fehlen, auch unbequeme Geister in wichtige Positionen zu heben. Das geht so weiter – bis es nicht mehr weitergeht.