Lasst tausend interkulturelle Gärten blühen!
Spätestens seit den Bildern von den brennenden Pariser Vorstädten und dem Brandbrief aus der Neuköllner Rütli-Schule steht die Integrationspolitik ganz oben auf der politischen Tagesordnung. Sogar die Bundeskanzlerin hat das Thema publikumswirksam auf ihre Agenda gesetzt und im Juli zum Integrationsgipfel geladen. Dieses „fast historische Ereignis“ (Angela Merkel) hat unmissverständlich deutlich gemacht: Deutschland ist ein Einwanderungsland und Integration eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe. Vor allem die Städte mit ihren hohen Migrantenanteilen müssen diese Aufgabe bewältigen. Viele Einwanderer wohnen in Stadtteilen mit hoher Arbeitslosigkeit, Bildungsdefiziten, Armut, schlechten Wohnverhältnissen, Gewalt und Kriminalität.
In Deutschland leben 15,3 Millionen Menschen mit Migrationshintergrund, fast ein Fünftel der Bevölkerung. Das ergab der Mirkozensus 2005, der erstmals nicht nur die Staatsangehörigkeit erfasst, sondern auch die Herkunft. Zu den Menschen mit Migrationshintergrund zählen auch Spätaussiedler oder eingebürgerte Ausländer sowie die „zweite Generation“ ihrer Kinder. Der Anteil dieser Gruppe ist in Deutschland doppelt so hoch wie der bisher statistisch erfasste Ausländeranteil.
Die Einwanderer in Deutschland leben zum größten Teil in den westdeutschen Großstädten und Ballungszentren, hier vor allem in den Altbauquartieren der Kernstädte, in alten Arbeitersiedlungen und Großwohnsiedlungen am Stadtrand. Diese urbane Konzentration wird sich in den nächsten Jahren weiter verstärken. Städte mit einem hohen Anteil von Bewohnern ohne deutschen Pass, etwa München (23 Prozent), Frankfurt am Main (26 Pro-zent) oder Offenbach (31 Prozent), müssen mit einer Zunahme dieses Anteils auf 40 bis 50 Prozent rechnen. Stadtteile wie Köln-Chorweiler (40 Prozent) gar mit einem Anstieg auf über 60 Prozent. Nachbarschaften wie die Lenzsiedlung in Hamburg-Eimsbüttel, wo Menschen aus 26 Nationen leben, werden künftig keine Seltenheit mehr sein.
In den Problemquartieren überlagern sich ethnische und soziale Konflikte. Wer es sich leisten kann, zieht spätestens mit der Einschulung seiner Kinder in andere Stadtteile oder ins Umland. Zurück bleiben überwiegend Menschen mit geringem Einkommen, die ihren Wohnort nicht frei wählen können, wegen hoher Mietpreise zum Beispiel oder aufgrund von Diskriminierungen.
Die Vor- und Nachteile des Milieus
Lange hat die Städtebau- und Wohnungspolitik vergeblich versucht, unterschiedliche Bevölkerungsgruppen zu durchmischen. Doch Zuzugssperren und Quotierungen bei der Wohnungsvergabe haben wenig bewirkt. Heute verringern Wohnungsverkäufe kommunaler Gesellschaften und abnehmende Belegungsbindungen die politischen Steuerungsmöglichkeiten zusätzlich.
Ein hoher Einwandereranteil in einem Stadtbezirk muss jedoch nichts schlechtes sein. Eine ethnisch homogene Umgebung kann besonders Neuzugewanderten helfen: Netzwerke und eine soziale, kulturelle und wirtschaftliche Infrastruktur erleichtern das Ankommen. Der Städtebauliche Bericht der Bundesregierung resümiert: „Eine durchlässige ethnisch-kulturelle Milieubildung (kann) durchaus positive Wirkungen haben, wenn sie zur Anerkennung der Verschiedenheit bei gleichzeitiger Vermeidung von Ausgrenzung führt.“ Nicht von ungefähr entscheiden sich Zuwanderer oft sehr bewusst für ihren Wohnort.
Damit rückt das Stadtquartier mehr und mehr in den Blick der Integrationspolitik, während der Arbeitsmarkt seine Bedeutung als Integrationsfaktor angesichts hoher Arbeitslosenzahlen verliert. Waren bis Anfang der neunziger Jahre die Zuwanderer in Deutschland noch gut in den Arbeitsmarkt integriert, sank die Erwerbsquote vor allem bei Aussiedlern und Türken deutlich, die Erwerbsquote von Frauen ausländischer Herkunft war ohnehin stets weit unterdurchschnittlich. Ein sozialräumlicher Ansatz kann die Bemühungen um Integration in den Arbeitsmarkt zwar keinesfalls ersetzen. Aber Angebote vor Ort können die Voraussetzungen schaffen für den Zugang zu Bildung, Berufsbildung, Beruf und gesellschaftlicher Partizipation.
Im Zuwanderungsgesetz, das Rot-Grün im Jahr 2004 gegen große Widerstände durchsetzte, ist erstmals eine konzeptionelle Integrationspolitik angelegt. Zum ersten Mal bekannte sich Deutschland dazu, ein Einwanderungsland zu sein. Und es erkannte die Notwendigkeit einer gezielten Integrationspolitik an, bei der das Erlernen der Sprache eine Schlüsselstellung einnimmt. Auch die neue Bundesregierung versteht die Integration von Einwanderern als eine zentrale Zukunftsaufgabe. Im Koalitionsvertrag heißt es, Integration lasse sich nur „durch eine ressortübergreifende Zusammenarbeit im Rahmen einer Gesamtkonzeption bewältigen. ... Die Integration von Ausländern und Aussiedlern in die deutsche Gesellschaft ist eine Querschnittsaufgabe vieler Politikbereiche.“
Aktivierung und Beteiligung im Quartier
Diesem ressortübergreifenden Ansatz trägt das Programm „Soziale Stadt – Förderung von Stadtteilen mit besonderem Entwicklungsbedarf“ in besonderer Weise Rechnung. Aufgelegt wurde es im Jahr 1999 als Bund-Länder-Programm im Rahmen der Städtebauförderung. Es geht weit über Städtebauförderung im klassischen Sinne hinaus und verbindet investive, städtebauliche Maßnahmen – etwa die Verbesserung der Wohnsituation und des Wohnumfeldes – mit nicht-investiven Maßnahmen wie Jugend-, Kultur- und Sozialprojekten oder Gründer- und Beschäftigungsinitiativen. „Soziale Stadt“ stellt die Menschen und ihr unmittelbares Lebensumfeld ins Zentrum und setzt auf die Aktivierung und Beteiligung der Quartiersbewohner.
Das Programm bildet auch eine Klammer für Aktivitäten anderer Ressorts. Beispielsweise konzentriert das Bundesjugendministerium seit Jahren Mittel der Programme „Entwicklung und Chancen junger Menschen in sozialen Brennpunkten“ und „Lokales Kapital für Soziale Zwecke“ in Gebieten der „Sozialen Stadt“. Die Bündelung von Programmen ist ein wichtiger Erfolgsfaktor für eine positive Quartiersentwicklung.
Nach fünf Jahren Laufzeit wurde das Programm evaluiert. Die Gutachter kamen zu dem Ergebnis, dass „Soziale Stadt“ Segregationstendenzen entgegenwirkt, negative Auswirkungen auf die Lebenschancen der Quartiersbewohner verringert und das Zusammenleben verschiedener ethnischer Gruppen verbessert. „Die Verständigung mit Migrantenorganisationen und der Aufbau interkultureller Kommunikation und Kooperation ist sicher eine der schwierigsten Aufgaben der Stadtentwicklung – aber sicher auch eines der größten Potenziale zur Verringerung der Problemlagen“, so das Gutachten.
Die SPD, die Grünen und die Union stimmten im Sommer 2005 im Bundestag dafür, das Programm weiterzuentwickeln und auszuweiten, mit einem Schwerpunkt auf Quartiersentwicklung und Integration von Einwanderern. Für „Soziale Stadt“ sind im aktuellen Bundeshaushalt 40 Millionen Euro mehr vorgesehen als im vergangenen Jahr, insgesamt 110 Millionen Euro.
Auf die „weichen Faktoren“ kommt es an
Die zusätzlichen Mittel können eingesetzt werden für Modellvorhaben zum Spracherwerb, zur Verbesserung von Schul- und Bildungsabschlüssen, zur Betreuung von Jugendlichen in der Freizeit sowie zur Förderung der lokalen Wirtschaft. Das Programm berücksichtigt also besonders die „weichen Faktoren“ für die Quartiersentwicklung und ist somit noch mehr zur Schnittstelle von Stadtentwicklungs- und Integrationspolitik geworden. Die Strukturen des Quartiersmanagements, aber auch die ressortübergreifende Zusammenarbeit von Politik und Verwaltung wie die Einbeziehung externer Akteure lassen neue Synergieeffekte entstehen zwischen Städtebaupolitik, Arbeitsmarktpolitik, Jugendpolitik, Bildungspolitik und Integrationspolitik.
Das zentrale Handlungsfeld für Integrationspolitik und Stadtteilentwicklung sind Spracherwerb und Bildung, sowohl im schulischen und vorschulischen Bereich als auch bei Erwachsenen. Vor allem Schulen können eine positive Trendwende im Stadtteil befördern, indem sie mit dem Stadtteilmanagement zusammenarbeiten und sich für Eltern, Vereine und andere lokale Akteure öffnen.
Genau dies hat die Erika-Mann-Grundschule in Berlin-Wedding getan. Über 40 Prozent der Bewohner des Einzugsgebiets haben einen ausländischen Pass, im Jahr 2004 lebte ein Viertel von ihnen von Sozialhilfe, unter der ausländischen Bevölkerung sogar fast jeder zweite (das Arbeitslosengeld II war zu diesem Zeitpunkt noch nicht eingeführt). Rund 60 Prozent der Kinder in der Schule haben eine ausländische Staatsbürgerschaft, sie stammen aus über 20 Nationen, für 86 Prozent von ihnen ist Deutsch nicht die Muttersprache. Trotz dieser schwierigen Rahmenbedingungen bekommen zwei Drittel der Kinder eine Empfehlung für die Realschule oder das Gymnasium. Dieser Erfolg ist das Ergebnis zahlreicher Aktivitäten und der gezielten Förderung der Kinder.
Was ist das Erfolgsrezept? In den Klassen unterrichten die Lehrer häufig nicht allein, sondern in Teams. Die Schüler lernen in kleinen Gruppen. Außerdem steht in jeder Klasse einmal in der Woche Theaterspielen auf dem Stundenplan. Die Schule hat ein großes Netzwerk mit externen Partnern gesponnen, dabei sind ein Theater, ein Kindermuseum, die Universität der Künste, die Berliner Baugenossenschaft und die Berliner Philharmoniker. Zum Beispiel haben die Schüler gemeinsam mit Architekturstudenten das Schulgebäude umgestaltet – und dafür sogar den Preis „Soziale Stadt“ erhalten.
Integration im interkulturellen Garten
Zudem gehören niedrigschwellige Angebote für Eltern mit geringen Deutschkenntnissen zum Schulkonzept. Parallel zum Schulunterricht finden Eltern-Sprachkurse statt. Und eine „Elternschule“ erfreut sich großer Beliebtheit, wo Eltern, Freunde und Verwandte unter Anleitung der Lehrer mit den Kindern spielen, ihnen vorlesen, mit ihnen basteln oder für sie kochen.
Niedrigschwellige Angebote sind besonders für Einwanderer wichtig, die sich sonst kaum beteiligen würden. Ein anderes Beispiel dafür sind die mittlerweile 24 „interkulturellen Gärten“ in Deutschland. Rund 40 weitere sind im Aufbau. Sie werden von der Münchener Stiftung Interkultur unterstützt und folgen dem Vorbild der „community gardens“ in New York und London. Ziel ist, dass zugewanderte und einheimische Familien ihr Wohnumfeld gemeinsam gestalten. In einem interkulturellen Garten in Marburg bewirtschaften 14 Familien aus acht verschiedenen Nationen ein 3.000 Quadratmeter großes Grundstück. Der Garten ist über den Kreis der Familien hinaus zu einem sozialen Treffpunkt geworden.
Das konkrete Zusammenleben verbessern
Viele interkulturelle Gärten organisieren sogar Sprach- und Weiterbildungskurse. Die „Bunten Gärten Leipzig“ beispielsweise verkaufen ihre Produkte auf dem Wochenmarkt und in einem eigenen Laden – und finanzieren so ihre Bildungsarbeit. Zum einen verbessern interkulturelle Gärten also die Qualität des Wohnumfeldes und schaffen Orte der Begegnung; zum anderen fördern sie die Selbstorganisation und die Beteiligungskompetenzen der Mitwirkenden und bereiten so den Boden für Partizipation sowie die Integration von Einwanderern.
Die Erika-Mann-Grundschule und die interkulturellen Gärten sind zwei gute Beispiele, die sich um viele andere vorbildliche Integrationsprojekte ergänzen lassen. Sie sind es, die fernab aller integrationspolitischen Grundsatzfragen vor Ort das konkrete Zusammenleben in einer multikulturellen Gesellschaft verbessern. All diese Projekte müssen in ein langfristiges, als Querschnittsaufgabe angelegtes Integrationskonzept eingebunden werden, das dann vor allem in den Städten umgesetzt wird. Die Städte tragen die Hauptlast der Integration. Dafür brauchen sie verlässliche Unterstützung.