Lissabon
Eines wissen wir genau über die Zukunft der europäischen Sozialdemokratie: Wenn die Parteien der linken Mitte nicht sehr schnell ihre Attraktivität für die Wähler zurückgewinnen, dann wird es diese Zukunft nicht mehr geben. Die Parlamentswahlen, die am 27. September gleichzeitig in Deutschland und Portugal stattfanden, haben gezeigt, dass die dringend benötigte Erneuerung noch auf den Weg gebracht werden muss. José Sócrates bleibt portugiesischer Premierminister, aber er ist heute einer von insgesamt nur noch vier Regierungschefs der linken Mitte in den Staaten der EU-15; noch im Jahr 2000 gab es elf. Heute sind neben Sócrates nur noch Zapatero in Spanien, Brown in Großbritannien und Papandreou in Griechenland übrig. Deutschland fällt jetzt aus der kleinen Gruppe von Ländern heraus, in denen Sozialdemokraten an Koalitionen beteiligt sind. Die Niederlande und Belgien sind die letzten Staaten aus dieser Kategorie. Die deutschen Wahlen endeten desaströs für jene, die gern eine Fortsetzung der Großen Koalition gesehen hätten. Dennoch sollte die Wiederwahl von Sócrates in Portugal nicht unbeachtet bleiben.
Angesichts der trostlosen Vorhersagen in den ersten Monaten dieses Jahres, ist es nahezu atemberaubend, dass die portugiesischen Soziademokraten von der Partido Socialista (PS) überhaupt gewonnen haben. Nach Meinungsumfragen der Tageszeitung Diário Económico hatten sie noch im Juni hinter der konservativen (aber mit irreführendem Namen ausgestatteten) Partido Social Democrata (PSD) zurückgelegen. Nur 34 Prozent gaben an, die PS wählen zu wollen, während sich 35 Prozent für die PSD aussprachen. Innerhalb von nur drei Monaten gelang es den Wahlkämpfern der PS in großen Schritten, den Rückstand wettzumachen. Am Ende gewannen die Sozialisten sicher mit 37 Prozent vor der PSD, die nur 29 Prozent erzielte. Diese Leistung gelang der PS, den traumatisierenden Ergebnissen der Europawahl zum Trotz, aus der Regierung heraus. Sie hatte unpopuläre Reformen durchgesetzt, war Angriffen der Opposition wegen angeblicher Abhöraktionen ausgesetzt gewesen und sah sich zunehmendem Populismus vom linken wie vom rechten Rand des politischen Spektrums ausgesetzt. Und zu allem anderen hinzugekommen war die größte Krise des Kapitalismus seit den dreißiger Jahren des vergangenen Jahrhunderts.
Die Souveränität des Amtsinhabers
Dass der Wahlkampf hochgradig personalisiert verlief, bedeutete einen Vorteil für den amtierenden Premierminister. Im Rampenlicht wirkte Sócrates weitaus souveräner und autoritativer als seine direkten Widersacher. Nach den Hiobsbotschaften vom Juni passte er seine Rhetorik und seinen Stil blitzschnell der neuen Lage an und verwandelte die Wahl damit zu einem Referendum über seine persönliche Leistungsbilanz. Inhaltliche Unterschiede spielten ebenfalls eine Rolle, wenn auch in engen Grenzen. Die wichtigsten Differenzen betrafen die Pläne der PS, in neue Infrastrukturprojekte zu investieren, wohingegen die Konservativen weitgehende Ausgabenkürzungen befürworteten. Ferner strebte die konservative PSD die Privatisierung der Sozialversicherung an – ein Vorhaben, das die regierenden Sozialisten vehement ablehnten.
Die Sozialisten profitierten auch von der Schwäche der Opposition. Die konservative PSD fand keine effektive Strategie, um sich die genannten Schwierigkeiten der Regierung zunutze zu machen und enttäusche Wähler der Sozialisten oder rechts orientierte Wähler anzuziehen; diese entschieden sich stattdessen für randständige Parteien. Die Spitzenkandidatin der Konservativen, Manuela Ferreira Leite, auch bekannt als „Portugals Eiserne Lady“ (aber ohne die Beharrlichkeit und rhetorische Begabung einer Margaret Thatcher), beging eine Serie schwerer Stockfehler, die ihre Kampagne schon Wochen vor dem Wahltag zunichte machte. Hierzu gehörte ein peinliches Treffen mit Angela Merkel. Sehr zum Missfallen der PSD-Delegation weigerte sich die deutsche Kanzlerin, dieser Begegnung Journalisten beiwohnen zu lassen – was in Portugal unweigerlich zu negativen Schlagzeilen führte. Ferreira Leites empörte Erklärungen wiederum, Portugal sei „keine Provinz von Spanien“ (als Reaktion auf Ausbaupläne für das spanische Hochgeschwindigkeitszugnetz), ließen sie eher als vorgestrige Nationalistin erscheinen und nicht als zeitgemäße Politikerin im Einklang mit der europäischen Wirklichkeit, die in der Lage wäre, ihr Land in Zeiten der globalen Weltwirtschaft zu führen.
Jetzt ist neues Nachdenken nötig
Trotzdem können sich die Sozialisten nach diesem Wahlsieg nicht beruhigt zurücklehnen. Ganz im Gegenteil: Die linke Mitte in Portugal hat jetzt genauso viel Selbstkritik und neues Nachdenken vor sich wie die deutschen Sozialdemokraten. Die PS war die einzige Partei, auf die bei diesen Wahlen weniger Stimmen entfielen als 2005. Der Rückschlag um 10 Prozentpunkte (oder eine halbe Million Stimmen) fiel sogar ausgesprochen heftig aus. Damit erzielte die PS ihr schlechtestes Ergebnis seit 1991 und konnte in keinem einzigen Wahlkreis Mandate hinzugewinnen.
Noch wichtiger ist, dass die PS ihre absolute Mehrheit im Parlament verloren hat und nun unter erheblich erschwerten Bedingungen weiterregieren muss. Wachsende Spannungen zwischen Cavaco Silva, dem Staatspräsidenten und früheren Parteichef der PSD, und José Sócrates erschweren den Plan des Premierministers, über die gesamte neue Wahlperiode eine Minderheitsregierung anzuführen. Gerade da die Große Koalition in Deutschland zu Ende geht, müssen die portugiesischen Sozialdemokraten nun ihr eigenes Modell konsensueller Politik finden. Die rechtsgerichtete Partido Popular (PP), mit 10,5 Prozent der Stimmen der große Wahlsieger, dürfte am ehesten als Koalitionspartner in Frage kommen. Die PS muss so gründlich wie ehrlich darüber nachdenken, warum sie ihre absolute Mehrheit verloren hat, besonders auch darüber, warum ihnen etliche Wähler (so wie SPD-Wähler, die sich für die Linkspartei entschieden) zugunsten des linken Bloco de Esquerda (BE) den Rücken gekehrt haben, der ebenfalls auf fast 10 Prozent gekommen ist.
Zu guten Teilen liegt die Antwort im bisherigen Unvermögen der traditionellen sozialdemokratischen Parteien, sich auf die dramatischen Veränderungen einzustellen, denen die europäischen Parteiensysteme in jüngerer Zeit ausgesetzt sind. Die Wahlen in Deutschland und Portugal haben dies aufs Neue gezeigt. Die heftigsten Veränderungen betreffen den Niedergang der herkömmlichen Arbeiterschaft und der Gewerkschaften, die wachsende intergenerationelle Ungerechtigkeit sowie die Polarisierung zwischen Insidern und Outsidern auf dem Arbeitsmarkt. Die wachsende Unterstützung für die Populisten von links und rechts basiert auf diesen Entwicklungen.
Die Jungen wenden sich enttäuscht ab
Die populistischen Parteien setzen gezielt darauf, Ressentiments gegen Globalisierung und Einwanderung anzustacheln. Dabei sprechen sie eine Sprache, mit der die Leute offenbar etwas anfangen können. In Portugal wie in Deutschland, wo 40 beziehungsweise 30 Prozent der Stimmberechtigten nicht zur Wahl gingen, scheinen die jungen Leute enttäuscht von der Politik zu sein – und besonders unattraktiv sind für sie die sozialdemokratischen Parteien. Die linke Mitte, ob in der Regierung oder in der Opposition muss diese neue Wirklichkeit zur Kenntnis nehmen. Sie muss zugleich die Verbindung zu ihren traditionellen Wählern wiederherstellen und Kontakt zu den jungen Leuten aufnehmen – unter anderem, indem sie die jeweiligen Bedürfnisse der Menschen anspricht und ihre Besorgnisse angesichts von Globalisierung, Einwanderung und ungewisser ökonomischer Zukunft lindert. Dafür braucht sie ein ebenso klares wie positives Narrativ, eine „Erzählung“ also, die die Menschen verstehen können und die ihnen einleuchtet.
Auch Sozialdemokratie kann obsolet werden
Viele Beobachter haben vor der deutschen Bundestagswahl dargelegt, warum es Angela Merkel (und möglicherweise auch die SPD) dem Widerwillen der deutschen Bevölkerung gegen radikalen Wandel in ökonomisch unsicheren Zeiten zu verdanken haben werde, wenn sie wiedergewählt werde. Eine etwas denkfaule Interpretation der portugiesischen Wahl könnte zu demselben Schluss verleiten. Tatsächlich waren Stabilität und Kontinuität die Trumpfkarten, welche die Amtsinhaber in beiden Fällen gezielt ausspielten. Genau diese Strategie könnte sie aber um die Chance gebracht haben, größeren Zuspruch zu erzielen – die SPD hat dies besonders schmerzlich zu spüren bekommen.
Anders als es die gängigen Deutungen nahelegen, haben sich die Wähler in Portugal und in Deutschland gerade nicht für Kontinuität entschieden, sondern für Wandel. Die Sehnsucht nach Veränderung fand ihren Ausdruck eher ungeordnet. Zum einen standen bislang randständige Parteien als große Gewinner da, zum anderen kann der Wunsch nach Wandel auch in Wahlverweigerung zum Ausdruck kommen. Im portugiesischen Fall überdeckt der Machterhalt diese unangenehme Wahrheit. Die neuerdings oppositionellen deutschen Sozialdemokraten sehen zwar schwierigen Aufgaben entgegen – aber diese liegen nun wenigstens klar zutage. In Portugal haben wir einen bemerkenswerten Sieg erzielt, dennoch wäre die PS gut beraten, ihr Ergebnis als Warnschuss zu begreifen, statt sich als selbstgewisse Inhaberin der Macht aufzuführen. Sozialdemokraten sollten sich nicht mehr als unverzichtbaren Bestandteil der politischen Normalität betrachten. Auch Sozialdemokratie kann obsolet werden. Nur wo sie ihre Argumente energisch vorbringt, wird sie dies verhindern.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr