Löhne aus Warschau?
Neulich auf der Heimfahrt von einer Tagung sprach mich ein hauptamtlicher Gewerkschaftsfunktionär an. Er verstehe nicht, wie man heute noch eine wissenschaftliche Laufbahn anstreben könne, sagte er. Nach der Besoldungsreform verdiene heute ein Juniorprofessor weniger als seine Sekretärin. Warum würden sich die jungen Menschen heute nur so anstrengen? Für ihn selbst wäre eine W3-Professur finanziell nicht attraktiv.
Der Kommentar ließ mich ratlos zurück. Nicht weil mich die Gehälter der Gewerkschafter erstaunt hätten. Vielmehr fragte ich mich, wie der Kollege auf meine aktuellen Erfahrungen bei der Besetzung von Sekretärinnenstellen an der Berliner Hertie School of Governance reagiert hätte. Im Bewerberpool befanden sich hoch qualifizierte Akademikerinnen, auch promovierte Bewerber mit Auslandserfahrung waren keine Seltenheit. Die Gehaltserwartungen der Bewerber gaben ebenfalls einen tiefen Einblick in den Berliner Arbeitsmarkt. Betreten war die Stimmung, nachdem sich ein Bewerber im Gespräch ein Gehalt wünschte, das nicht weit über der ALG II-Grenze lag.
Der Umbruch der deutschen Wirtschaft seit dem Beginn der neunziger Jahre hat die Lohnstruktur mächtig durcheinander gewirbelt. Zwischen 1991 und 2003 sind die Realeinkommen der Privathaushalte um ein mageres Prozent gestiegen. Wenn wir uns umschauen, sehen wir, dass sich hinter den stagnierenden Einkommen eine große Umwälzung in der Verteilung von Einkommen verbirgt. Während die Gehälter von Professoren flexibilisiert und deren Grundgehälter um 20 Prozent gekürzt wurden, blieben die Gehälter der Lehrer unangetastet. Ärzte beklagen sich über Gehälter, die international am unteren Ende der Skala stehen. Die Privatisierung von Post und Bahn hat manchen Berufen eine Halbierung der Einstiegslöhne beschert. In der privaten Industrie wurden übertarifliche Leistungen massiv abgebaut und Arbeitszeiten verlängert. Hochschulabsolventen werden mit unentgeltlichen Praktika oder auf kurzfristigen Verträgen mit Gehältern von knapp über 1.000 Euro in Vollzeitstellen beschäftigt. Wie viel Arbeit wert sein soll, dafür scheint es keine Kriterien mehr zu geben.
Mindestlohn oder Löhne senken?
Der problematischste Umbruch findet am unteren Ende des Arbeitsmarktes statt. Frisch graduierte Praktikanten können langfristig auf eine Festanstellung hoffen und die mageren Jahre irgendwie überbrücken. Unqualifizierte Arbeitnehmer haben diese Hoffnung nicht. Wenn sie nicht zum großen Heer der Langzeitarbeitslosen gehören wollen, müssen sie die Bedingungen akzeptieren, die ihnen angeboten werden. Die Frage ist, wie weit sie dafür gehen sollen. Die niedrigsten Gehälter finden sich im privaten Dienstleistungsbereich: Wachmänner, Bäckereiverkäuferinnen und Hilfsarbeiter verdienen nach Angaben des Tarifarchivs der Hans-Böckler-Stiftung in den neuen Bundesländern Tariflöhne von weniger als fünf Euro. Für frisch ausgelernte Friseurinnen ist der Gang zur Arbeitsagentur normal, selbst wenn sie eine Vollzeitanstellung finden. In den neuen Cut-and-Go-Geschäften wird ausgelernten Friseuren schon mal für eine volle Stelle ein Nettolohn von 500 Euro angeboten. Haushaltshilfen in öffentlich geförderten Beschäftigungsprogrammen kommen auf Gehälter von 400 Euro für Vollzeitstellen, wenn man die Wegezeiten zwischen den Putzstellen mit einrechnet.
Sind diese tariflichen Mindestlöhne Einstellungsbarrieren? Oder sind sie nicht vielmehr eine Zumutung für erwachsene Arbeitnehmer mit Vollzeitstellen? Sollte man Einstiegslöhne weiter senken, um Beschäftigungschancen zu erhöhen? Oder vielmehr einen allgemeinen Mindestlohn einführen, der darüber liegt?
Nulllohn plus Transferleistung?
Ökonomen entscheiden diese Frage anhand von Modellen und grundsätzlichen Überlegungen. Löhne oberhalb der Grenzproduktivität der Arbeitnehmer vernichten Beschäftigung. Derzeit bestehe ein impliziter Mindestlohn durch die Höhe des Arbeitslosengeldes II, der für Alleinverdiener in mehrköpfigen Familien schnell in die Höhe springt. Um Beschäftigung zu fördern, solle man die Transferleistungen reduzieren, Zuverdienstmöglichkeiten fördern und auf jeden Fall die Finger vom Mindest-lohn lassen. Niedrigverdienste würden so durch Transferzahlungen auf die Höhe des impliziten Mindestlohns hoch subventioniert. Die Lohnfindung verbleibe zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer und könne beliebig nach unten ausschlagen.
Der ehemalige Staatssekretär im Bundeswirtschaftsministerium Professor Johannes Eekhoff denkt dieses Modell zu Ende und plädiert für die vollständige Vertragsfreiheit zwischen Arbeitgeber und Arbeitnehmer. Selbst für einen Nulllohn sollten Arbeitnehmer sich anbieten können und zugleich Transferleistungen beziehen. Sie würden in den Arbeitsmarkt integriert, der Arbeitgeber würde ihre Qualitäten schätzen lernen und die dadurch abgeschaffte Arbeitslosigkeit würde über kurz oder lang zu einem Anstieg des allgemeinen Lohnniveaus und damit zum Verschwinden der „Null-Euro-Jobs“ führen.
Für Gewerkschafter und Arbeitssuchende ist diese Sicht nur schwer zu ertragen. Sie befürchten, dass sich das Lohnniveau dann langfristig für alle Jobs im Niedriglohnsektor auf dem Null-Euro-Level einpendeln wird. Man könnte auch argumentieren, dass es dieses Modell auf dem Arbeitsmarkt schon längst gibt. Arbeitlose, die Beschäftigung suchen, finden diese oft in 400-Euro-Jobs oder Werkverträgen, deren Stundenlohn weit nach unten ausschlagen kann, und werden zugleich durch Transferleistungen oder ein höheres Familieneinkommen subventioniert. Allerdings geht keiner der Beteiligten davon aus, dass diese Jobs wirkliche Arbeitsplätze darstellen. Die Subventionierung bleibt vielmehr dauerhaft bestehen, und für Arbeitgeber in bestimmten Sektoren ist es sehr sinnvoll, solche Arbeitsplätze im Unterschied zu Vollzeitbeschäftigung einzuführen.
Was den Thüringer Wachmann erwartet
Ein Mindestlohn würde diese Form von Beschäftigung zum Nulltarif beschneiden. Würde der Mindestlohn darüber hinaus dem Wachmann in Eisenach den Job kosten, wenn er statt des Tariflohns von 4,32 Euro nun 5,50 oder 6 Euro Mindestlohn in der Stunde bezahlt bekäme? Man kann es bezweifeln. Die allermeisten Jobs mit Niedriglöhnen befinden sich in Sektoren, die nicht dem internationalen Wettbewerb ausgesetzt sind. Die Thüringer Wachdienste hätten mit dem Mindestlohn gemeinsam mit anderen Wachdiensten eine feste Grundlage, auf der sie ihre Angebote kalkulieren würden. Die Kostenkonkurrenz nach unten wäre im Hinblick auf die Löhne begrenzt. Allerdings besteht die Gefahr, dass die Einführung eines Mindestlohns heutige Vollzeitstellen durch subventionierte Mini- und Midijobs verdrängen würde. Dem Wachmann, der heute einen Verdienst von 850 bis 900 Euro hat, würde dann vielleicht stattdessen ein 400-Euro-Minijob angeboten – verbunden mit dem Ratschlag, sich den Rest von der Arbeitsagentur zu holen.
Die Ergebnisse der empirischen Wirtschaftsforschung sind in dieser Frage nicht eindeutig. Die Erfahrungen nach der Einführung des Mindestlohns in Großbritannien sind einhellig positiv. In Frankreich hingegen wird der Mindestlohn für die hohe Jugendarbeitslosigkeit verantwortlich gemacht. Jedoch gibt auch der Sachverständigenrat in seinem vehementen Plädoyer gegen den Mindestlohn zu, dass „einige (aber nicht alle) empirische Studien zurückhaltend in der Einschätzung der negativen zahlenmäßigen Beschäftigungswirkungen sind, ... und mitunter sogar für sehr spezielle Märkte zu positiven, allerdings in der Literatur nicht unumstrittenen Beschäftigungswirkungen eines Mindestlohns kommen. Dem stehen allerdings empirische Studien gegenüber, die die beschäftigungsfeindlichen Wirkungen eines Mindestlohns zeigen.“ (SVR – Randziffer 710).
Die Signalfunktion des Mindestlohns
Während die Beschäftigungswirkung eines Mindestlohns keinen Hinweis für eine Entscheidungsgrundlage bietet, gibt es andere Gründe, die durchaus dafür sprechen: Zum einen wäre ein moderater Lohnanstieg am unteren Ende der Lohnskala für ungefähr die Hälfte der armen Haushalte in Deutschland, in denen Haushaltsmitglieder einer Erwerbstätigkeit nachgehen, ein Schritt aus der Armut. Dies sind etwa eine Million Personen, deren Armut auf ein niedriges Einkommen zurückgeführt werden kann. (Die andere Hälfte der Haushalte ist arm aufgrund der hohen Zahl von Haushaltsmitgliedern bei niedrigem, aber nicht sehr niedrigem Einkommen.)
Zum anderen hat ein Mindestlohn eine wichtige Signalfunktion für die Wertschätzung von Arbeit. Er entlastet Arbeitnehmer wie Arbeitgeber von der Frage, wie weit nach unten Löhne gehen dürfen und sollen. Ein Lohn auf Mindestlohnniveau klassifiziert die Art der Arbeit, die dafür verlangt wird. Er ist eine untere Grenze, von der sich qualifizierte Arbeit absetzt. Für die politische Debatte über den Slogan „Vorfahrt für Arbeit“, den Bundespräsident Horst Köhler im letzten März in die Diskussion brachte, kann ein Mindestlohn ein wichtiger Referenzpunkt sein. Die Frage, unter welchen Bedingungen Arbeit stattfinden soll und ob es Grenzen der Beschäftigungsstrategie nach unten gibt, wird bis heute nicht ernsthaft diskutiert. Ein Mindestlohn würde auch das Problem der Arbeitnehmerfreizügigkeit der osteuropäischen Beitrittsstaaten lindern, da der Lohnwettbewerb mit Arbeitsmigranten gelindert würde.
Gewerkschaften und SPD dilettieren
Allerdings sollte man sich von einem Mindestlohn nicht zuviel versprechen. Um negativen Beschäftigungswirkungen vorzubeugen, würde ein Mindestlohn zunächst eher niedrig angesetzt werden und erst im Laufe der Zeit steigen. In der jetzt diskutierten Spanne zwischen 6 und 9,50 Euro würde der Mindestlohn zunächst wohl eher am unteren Ende liegen. Man müsste Arbeitsverhältnisse mit Ausbildungsinhalten ausnehmen, um das duale System der beruflichen Bildung nicht zu gefährden. Der Mindestlohn wäre auch keine Wunderwaffe zur Absicherung der unteren Tarifgruppen der Branchentarifverträge, wie es sich die IG Metall erhofft. Im privaten Dienstleistungssektor blieben noch immer viele Jobs sehr schlecht bezahlt. Er würde daher weder die Arbeit der Tarifpolitiker ersetzen, noch besonders erleichtern.
Zudem löst der Mindestlohn in keiner Weise die weiterhin ungeklärte Frage eines beschäftigungspolitisch sinnvollen Verhältnisses von Löhnen, Transfereinkommen und Lohnnebenkosten am unteren Ende des Arbeitsmarktes. Die Erfahrungen in den Vereinigten Staaten und in Großbritannien zeigen, dass Mindestlöhne kein Hindernis für die Subventionierung niedrig entlohnter Arbeit, sondern vielmehr eine Voraussetzung für die Verhinderung von Mitnahmeeffekten durch Arbeitgeber sind. Niedrig entlohnte Jobs werden zudem eher durch hohe Lohnnebenkosten als durch höhere Löhne aus dem Markt katapultiert. Das zeigt die Beliebtheit der 400-Euro-Jobs wie auch das anhaltend hohe Ausmaß der Schwarzarbeit trotz fehlendem Mindestlohn. Die Frage, wie man die große Spanne zwischen „Arbeitgeberbrutto“ und „Arbeitnehmernetto“ sinnvoll verringern kann, bleibt weiter auf der Tagesordnung. Auch mit Mindestlöhnen bliebe hier noch viel zu tun.
An der Lösung dieser schwierigen Fragen und Themen scheinen die wichtigsten Stakeholder jedoch kein wirkliches Interesse zu haben. Anders kann man sich das dilettantische Vorgehen der Gewerkschaften und der SPD in dieser wichtigen Frage kaum erklären. Ohne jegliches Konzept zu Fragen, wer den Mindestlohn auf welche Weise festsetzt und welche Implikationen er für die Sozialversicherungen hat, plakatierte die Gewerkschaft verdi eine Kampagne für einen Mindestlohn von 7,50 Euro. Auf dem DGB-Kongress zeigten sich die Delegierten ungnädig, als Angela Merkel dem Mindestlohn nicht grundsätzlich abgeneigt war, aber die Höhe nicht bestätigen wollte. Auch im Arbeitsministerium scheint man das Thema vor allem dafür benutzen zu wollen, die Linken der SPD in die Große Koalition einzubinden, und weniger dafür, ein tragfähiges Konzept zu entwickeln, das die Kombilohnproblematik mit berücksichtigt.
Der Mindestlohn ist eine sinnvolle Orientierungsmarke in einer sich schnell wandelnden Welt. Damit er aber kommen kann, muss noch manche Frage geklärt werden.