London

In spätestens sechs Monaten trifft es auch New Labour

Die verheerende Niederlage der deutschen Sozialdemokraten lässt Labour frösteln. In spätestens sechs Monaten droht der Partei bei den britischen Unterhauswahlen ein ähnliches Schicksal. Ein dräuendes Menetekel sind Umfragen, die Labour auf dem dritten Rang hinter den Konservativen und den Liberaldemokraten sehen. Demnach würde Labour ein Ergebnis erzielen, das mit dem Resultat der SPD bei den Bundestagswahlen fast identisch ist.


Eigentlich ist es nicht ungewöhnlich, nach 13 Regierungsjahren die Macht zu verlieren. Parteien, die viele Jahre regiert haben, neigen unvermeidlich zum Verschleiß. Fehler häufen sich. Es mangelt an neuen, zündenden Ideen. Zudem tendieren sie dazu, den Verfall noch zu beschleunigen, indem sie ideologische Lieblingsprojekte verwirklichen, die sie zu Beginn ihrer Regierungszeit niemals propagiert hätten, und damit Wechselwähler eher vergraulen. Ein Beispiel dafür liefert in Großbritannien die „Gleichheitsagenda“, die Harriet Harman, Ministerin für Gleichheit und stellvertretende Parteichefin, mit Macht durchzudrücken versucht – zum Entsetzen von Wirtschaftsminister Peter Mandelson. Das bestätigt, was auch internen Untersuchungen von Labour zufolge die meisten Briten über die Partei denken: Labour vertritt nicht ihre Interessen, sondern die Anliegen von Immigranten und alleinstehenden Müttern.


Zum Verschleiß und zur erkennbaren Drift nach links gesellt sich das personelle Problem. Mit Gordon Brown steht ein Politiker an der Spitze von Partei und Regierung, über dessen Eignung für diese Ämter bereits so viel Negatives gesagt worden ist, dass hier im Grunde nichts mehr hinzugefügt werden muss. Brown hat durch seine vielleicht beste Parteitagsrede am 29. September 2009 einen letzten Versuch vereitelt, ihn noch vor der Wahl zu stürzen und durch eine attraktivere, beim Wähler weniger verhasste Figur zu ersetzen. Die Folge: Labour findet sich jetzt resignierend mit der unweigerlich bevorstehenden Niederlage ab.

In Zukunft immer in der Minderheit?

Natürlich gefiel es dem Parteitag, dass Brown die Banker zum obersten Feind erklärte. Schließlich gibt es die verwegene Hoffnung, mittels einer kräftigen Dosis von linkem Populismus die vernichtende Niederlage vielleicht doch noch abzuwenden. Doch gleichzeitig wissen die Parteimitglieder, dass es Brown selbst war, der die City von London über 12 Jahre mit butterweicher Regulierung bei Laune gehalten hat. Ähnliches gilt für die härtere Gangart, die Brown  gegenüber Problemfamilien und ihren verwahrlosten Sprösslingen anschlagen will: Der Premierminister hat Blairs Respect Agenda gegen „antisoziales Verhalten“ wieder hervorgekramt,  die er zuvor fallen gelassen hatte, weil sie dem linken Juste Milieu als zu autoritär galt.


Hinter all dem verbergen sich die entscheidenden Fragen, die alle Sozialdemokraten in Europa umtreiben: Welche Funktion erfüllen sie noch? Werden sie noch gebraucht? Können sie überhaupt noch eine Mehrheit erreichen? Oder sind sie dazu verdammt, in Zukunft die Rolle einer Minderheitenpartei zu spielen, so wie die holländische Parttij van de Arbeid. Einflussreiche Akteure der britischen Labour Party sind zutiefst pessimistisch. Ihnen zufolge hat die Sozialdemokratie in den modernen, individualisierten Gesellschaften ausgespielt, weil diese Gesellschaften geprägt sind von breiten Mittelschichten und ihre Industriearbeiterschaft dramatisch geschrumpft ist. Andere Beobachter sehen die einzige Chance der Erneuerung und eines mehrheitsfähigen Bündnisses zwischen Arbeiter- und Mittelschichten in einer neuen Phase des radikalen Revisionismus, einer Art „Dritter Weg plus“. Dieses Bündnis würde zugleich das „liberale Dilemma“ beenden, nämlich die Spaltung des progressiven Lagers in Liberale und Sozialdemokraten, die sich bereits zu Beginn des 20. Jahrhunderts vollzog.

Auf die Mittelschichten kommt es an

So also lautet die leise Hoffnung. Die Realität sieht überall in Europa düster aus. Bald schon könnte es keine einzige linke Regierung mehr geben. Vergeblich haben sich viele Sozialdemokraten Auftrieb von der derzeitigen Krise des Kapitalismus erhofft. Auf ihren linken Flügeln herrschte zeitweilig unverhohlene Genugtuung. „Neue Mitte“ und „Dritter Weg“ seien passé – und damit auch die Annahme, Marktprinzip und soziale Gerechtigkeit ließen sich miteinander vereinbaren. Nun kehre der Staat zurück, es breche eine neue Ära an. Dabei war der Staat nie verschwunden. In Großbritannien stieg die Staatsquote in den zehn Jahren der Regierung Blair von 38 auf 42 Prozent. Die bittere Wahrheit ist, dass die Sozialdemokratie schon vor der globalen Krise ins Schleudern gekommen war und die Konzepte des Dritten Weges und der Neuen Mitte selbst ihre Strahlkraft verloren hatten.


Nun darauf zu setzen, dass sich bessere Zeiten nach einer Flaute wie von selbst wieder einstellen, wäre ein schlimmer Fehler. Vielleicht hat die Sozialdemokratie ihre historische Mission tatsächlich erfüllt und wird nun nicht mehr benötigt. Bekanntlich prophezeite Ralf Dahrendorf bereits in den siebziger Jahren das „Ende des sozialdemokratischen Zeitalters“. Seither hat sich die traditionelle Klientel der Sozialdemokraten, die Industriearbeiterschaft, enorm dezimiert. Die Gesellschaften sind vielfältiger geworden und die Mittelschichten angewachsen.


 Umso dringender muss die Sozialdemokratie die breiten  Mittelschichten ansprechen und Mehrheiten in der Mitte gewinnen. Sozialdemokraten wie Schmidt, Blair und Schröder haben dies stets beherzigt und ihren Kurs gegen eine oft maulige und nostalgische Basis durchgesetzt. Jetzt hat eine solche Strategie geradezu existenzielle Bedeutung.  


Ganz sicher erwächst Rettung nicht aus einer Strategie des „Vorwärts in die Vergangenheit“, auch wenn der Ruf nach mehr Sozialismus das Blut vieler Aktivisten an der Basis in Wallung bringt. Der Kurs der Reformer muss, um Erfahrungen und Lernprozesse ergänzt, fortgesetzt werden. Trotz gieriger Banken und der Exzesse des Kasinokapitalismus gibt es keine plausible Alternative zur Marktwirtschaft. Alle anderen Systeme haben sich als untauglich erwiesen. Sie sorgen weder für mehr Massenwohlstand, noch sind sie mit Freiheit und Demokratie vereinbar.

Ein realistisches Bild der menschlichen Natur

Krisen sind dem Kaptialismus immanent. Wir machen derzeit nicht die letzte Verwerfung durch. Es sollte Sozialdemokraten zu denken geben, dass ihnen die Mehrheit der Wähler die Erneuerung und soziale Ausgestaltung des Kapitalismus offenbar nicht zutraut, sondern diese Aufgabe lieber bürgerlichen Parteien überträgt. Womöglich ist die Furcht im Spiel, dass zu viele Sozialdemokraten unterwegs sind, die nie ihren Frieden mit dem Kapitalismus gemacht haben und nur darauf warten, das Marktprinzip insgesamt zu demontieren.


Die linke Mitte muss aus ihren Erfolgen wie aus ihren Fehlern lernen. Gordon Brown und Tony Blair zogen ihre Sozialreformen nicht konsequent durch. Sie holten Millionen ausländischer Arbeitskräfte ins Land, während die Zahl der untätigen einheimischen Sozialleistungsempfänger auf mehr als fünf Millionen anstieg. Und Gerhard Schröder zögerte zu lange, bevor er unumgängliche Reformen in Kraft setzte. So brachte er Rot-Grün um den Erfolg der sinkenden Arbeitslosenzahlen. Stattdessen schlugen die Früchte der Reform für Angela Merkel zu Buche.


Wie jetzt weiter? Allem anderen voran brauchen Sozialdemokraten ein realistisches Bild der menschlichen Natur. Die treibende Kraft des Menschen ist das Eigeninteresse und nicht der Altruismus. Reformen und Systeme, die das nicht berücksichtigen, erleiden zwangsläufig Schiffbruch – ganz gleich, ob es sich um Gesundheitspolitik, Sozialleistungen oder Ausgabenregelungen für Abgeordnete handelt. In der Geschichte hat sich mangelnder Realismus stets als der schwächste Punkt der Sozialdemokratie erwiesen. So sind auch eine allzu naive multikulturelle Orientierung und eine Einwanderungspolitik zu erklären, die viele Wähler aus der Arbeiterschicht in die Arme von Links- oder Rechtspopulisten treibt.


Auch die radikalgrüne Klimaproblematik trägt zum Popularitätsverfall der linken Mitte bei. Führende Köpfe des progressiven Lagers innerhalb der Labour-Party, darunter die Brüder David und Ed Milliband, glaubten allen Ernstes, mit dem Klimathema die Massen mobilisieren zu können. Im Überschwang schlug Außenminister David Milliband sogar vor, personalisierte Carbonkredite für jeden Bürger einzuführen, was gewaltige staatliche Datensammlungen und einen bürokratischen Albtraum nach sich gezogen hätte. In Wirklichkeit erweist sich das Thema als todsicheres Rezept zum Verlust der traditionellen Klientel.

Ist Klimapolitik unsozialdemokratisch?

Die SPD hat ganz auf Grün gesetzt, vom Atomausstieg und einem verhaltenen Nein zur Kohle bis hin zum Emissionshandel. Labour entschied sich immerhin für die Kernenergie. Das Dilemma der Sozialdemokraten aber bleibt hier wie dort: Die Wählerschaft wird grüne Positionen nicht honorieren. Und sie wird noch weniger zum Verzicht bereit sein, falls sich die prognostizierte Erwärmung nicht einmal einstellen sollte. Höhere Steuern sind unpopulär, ob sie nun als „grün“ deklariert werden oder nicht. Die meisten Menschen möchten nicht auf ihre Mobilität verzichten, auch nicht auf eine warme Wohnung oder den Urlaub am Mittelmeer, nur um der vagen Aussicht willen, dadurch den Planeten zu retten. Die Last „grüner“ Steuern aber trifft nun einmal vor allem die unteren Einkommensschichten. Eine radikale Klimapolitik lässt sich schwer mit dem Anliegen sozialdemokratischer Politik vereinbaren, das Los der großen Zahl zu verbessern. Verbunden mit diesem Ziel war in der Vergangenheit der optimistische Blick nach vorn, der Glaube an den technologisch-wissenschaftlichen Fortschritt, ohne den sich die gerechtere Gesellschaft nicht würde verwirklichen lassen. Diese Überzeugung ist den Sozialdemokraten weitgehend abhanden gekommen.


Vor allem für Großbritannien gilt, dass mehr und mehr Menschen die Gängelung durch eine rasant wuchernde Bürokratie leid sind, selbst wenn diese aus hehren Motiven ins Leben gerufen wurde. Gewiss sind Sozialdemokraten nicht allein für die zunehmende Bürokratisierung des Alltages verantwortlich, doch wird diese Entwicklung zwangsläufig derjenigen Partei angekreidet, die eine größere Affinität zu staatlichen Bürokratien besitzt.

Am Ende siegen immer die Revisionisten

Vielen Aktivisten und Delegierte sozialdemokratischer Parteien war ein reformerischer Kurs nie geheuer. Sie sehnen sich nach den Gewissheiten der Opposition, nach einer Lage, in der keine Kompromisse und Abstriche von edlen Zielen verlangt werden. Schon seit der Debatte zwischen Karl Kautsky und Eduard Bernstein zieht sich die Auseinandersetzung der Utopisten mit den Revisionisten wie ein roter Faden durch die Geschichte der Sozialdemokratie. Am Ende haben sich stets die Revisionisten durchgesetzt, auch wenn es oft einer langen Phase oppositioneller Machtlosigkeit bedurfte, bis Sozialdemokraten zur Vernunft kamen. Der Sieg der Revisionisten, ob sie Bad Godesberg oder New Labour durchsetzten, war stets die Voraussetzung für die Mehrheitsfähigkeit der Linken. Heute gilt das mehr denn je. Doch selbst wenn sich die Revisionisten ein weiteres Mal durchsetzen – es könnte sein, dass es nicht mehr gelingen wird, die Sozialdemokratie mehrheitsfähig zu machen.


Für die britischen Sozialdemokraten jedenfalls gibt es angesichts weit verbreiteter Labour-Tristesse eigentlich nur einen einzigen Hoffnungsschimmer: Begeisterung für eine künftige konservative Regierung ist nirgendwo zu verspüren. Aber das war 1979 nicht anders – vor dem ersten der drei Wahlsiege von Margaret Thatcher.

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