Mama, müssen wir fliehen? Die deutsch-polnische Normalität ist gar keine

Politiker loben die deutsch-polnische "Normalität". Doch diese Normalität ist hohl und oberflächlich. Denn für keines ihrer Nachbarländer interessieren sich die Deutschen so wenig wie für Polen. Ungefährlich ist das nicht

Fast 20 Jahre hatte Krystyna F. in Schleswig-Holstein gelebt. Eine neue Stelle im brandenburgischen Angermünde zu übernehmen erschien der 40-jährigen Akademikerin von Anfang an sehr verlockend. Selbstständige und verantwortliche Arbeit lag dort vor ihr, interessante neue Aufgaben kündigten sich an. Und die günstige geografische Lage des Städtchens in der Uckermark würde ihre ständigen Reisen nach Berlin und Stettin viel einfacher machen. Auch auf die neue Wohnung freute sich Krystyna F., als sie an einem wunderbaren Frühlingstag ihren Wagen vor dem Haus parkte, wo in einer frisch renovierten Altbauwohnung schon eine Immobilienmaklerin auf sie wartete. "Sie sind doch Polin, nicht wahr?", fragte sie. "Ja", sagte Krystyna F. und lächelte die Maklerin an. "Sind Sie auch zahlungsfähig?", lautete die nächste Frage. "Nein", sagte Krystyna und verließ die Wohnung. Erst dann fing sie an zu zittern.

"Du solltest es nicht zu ernst nehmen", versuchte später eine neue Bekannte sie zu trösten. "Hier ist das üblich, völlig normal. Mach dir keine Sorgen, wir finden schon was.

"Üblich. Normal. Normalität. Ist es etwa diese Normalität, die schon seit Jahren führende Politiker beider Seiten loben? Natürlich, die neue Qualität der deutsch-polnischen Beziehungen ist nicht zu übersehen. Vor allem haben wir Verträge, die eine Unantastbarkeit der Grenze, gute Nachbarschaft und freundschaftliche Zusammenarbeit vorschreiben und garantieren. Wir haben das Weimarer Dreieck, wir haben deutsch-polnische und polnisch-deutsche Parlamentariergruppen, wir haben das Deutsch-Polnische Jugendwerk, das Deutsche Polen-Institut, die Kopernikus-Gruppe. Und so weiter und so fort. Aber zehn Jahre nach dem Abschluss des deutsch-polnischen Vertrages ist und bleibt Polen für den durchschnittlichen Deutschen fast genauso unbekannt, uninteressant und unbeliebt wie vorher.

Nach den Polenwitzen nur noch Stille

Noch zur Zeit des Kalten Krieges hat Stanisl′aw Stomma, Nestor der deutsch-polnischen Aussöhnung vorhergesagt, dass die deutsch-polnischen Beziehungen nur zwischen Eliten beider Länder stattfinden werden. Fast zwölf Jahre nach der Wende muss man mit Bedauern feststellen, dass er Recht hatte - und eine ernste Veränderung dieser Lage ist leider nicht im Sicht. Denn was helfen Tausende von kulturellen Ereignissen, die jedes Jahr in Deutschland stattfinden, wenn sie immer nur solche Menschen erreichen, die sich ohnehin schon für Polen interessieren?

Was nutzen dem Durchschnittsdeutschen die Politikerbesuche, der florierende wissenschaftliche Austausch, die Städtepartnerschaften, die unzähligen Tagungen, Symposien, Austellungen, Kulturfestivale, wenn er - im besten Fall - keine Beziehung zu Polen hat und auch nicht einsieht, warum er überhaupt eine haben sollte. Proportional zur Entfernung von der Grenze Richtung Westen wächst auch die Gleichgültigkeit, so dass einen manchmal das komische Gefühl beschleicht, viele Westdeutsche verdankten ihre Polenkentnisse ausschließlich den seinerzeit populären Polenwitzen. Doch diese meistens menschenverachtenden, diskriminierenden, ungerechten und eigentlich traurigen Witze haben - ob im Taxi, während einer Zugreise oder auch bei anderen gesellschaftlichen Angelegenheiten - für Gesprächsstoff gesorgt, was sich oft immerhin erfrischend auswirkte. Heute, da die Polenwitzewelle passé scheint, vermisse ich sie - paradoxerweise. Denn danach kam nur noch Stille. Tödliche Stille, sozusagen.

"Man muss die Faszinationen, Phobien und Traumata des Partners kennen, um gut mit ihm auszukommen", hat der polnische Schriftsteller Stefan Chwin vor einiger Zeit in einem Essay über das "Land des Papstes und der Autodiebe" geschrieben (Frankfurter Rundschau vom 1.9.1999). Sympathie kann man nicht erzwingen, aber für Aufklärung kann man doch sorgen. Oder? Es gibt doch in Deutschland alle Instrumente, die dafür nötig sind: Es gibt Kultusministerien, die dazu da sind, neue unbelastete Generationen deutscher Bürger zu erziehen und zu bilden; es gibt die Bundes- und Landeszentralen für Politische Bildung (im Hinblick auf "Ausländer in Deutschland" nicht ganz zu Unrecht auch "Zentralen für Politische Einbildung" genannt); es gibt die öffentlich-rechtlichen Rundfunk- und Fernsehenanstalten; und es gibt unzählige andere Institutionen, die hier tätig werden müssten. Ihre besondere Rolle muss man, glaube ich, nicht erklären.

Wenn schon Symbole, dann richtig

Deshalb werde ich auch nicht verstehen, warum beispielsweise polnische Literatur bis heute nicht in den Lehrkanon aufgenommen wurde, warum bilaterale Schulprojekte in der Grenzregion "mangels Geld" gestrichen werden und warum die polnische Sprache (besonderes in den mit Polen grenzenden Bundesländern) als zweite Fremdsprache nicht allgemein eingeführt wird. Im Schulunterricht ist Polen fast überhaupt nicht präsent. Noch nicht einmal im Literaturunterricht - einem Fach, das den Nachkriegsgenerationen polnischer Kinder und Jugendlichen noch in der Zeit des Kalten Krieges Deutschland näher brachte. Doch auch in diesen äußerst seltenen Fällen, wenn es passiert, scheint eine gewisse Gefühllosigkeit die Autoren der Schulbücher zu beherrschen. So stand beispielsweise in Baden-Württemberg in einem Lesebuch für die siebte Klasse unter dem Fragment eines Textes von Janusz Korczak eine kurze biografische Note, in der man liest: "Verstarb 1944". Sollen die Kinder nicht erfahren, wo und warum er starb? Janusz Korczak ist ein Symbol - und wenn man schon Symbole benutzt, dann muss man es richtig tun.

Unbekannt und deshalb nicht wichtig

Warum geht die in vielen Verträgen festgelegte Zusammenarbeit zwischen polnischen und deutschen Rundfunk- und Fernsehenanstalten nur schleppend voran? Und weshalb berichten die Beiträge meistens von den ehemaligen deutschen Ostgebieten? Wieso wird die Sendezeit der polnischen Sendung der Deutschen Welle ständig gestutzt und das Budget der Redaktion kontinuierlich gekürzt? Wissen die Polen denn schon genug von Deutschland? Seit Jahren kämpft die Redaktion ums Überleben.

Hierzulande ist das Angebot nicht besser: die beiden Fernsehsendungen - "Kowalski trifft Schmidt" (im Osten) und "Babylon" (im Westen) - samt Rundfunksendungen von Radio Multikulti und Funkhaus Europa reichen leider nicht aus. Die hervorragende Arbeit deutscher Korrespondenten für die renommiertesten Zeitungen und Zeitschriften Deutschlands erreicht, mangels Interesse, das breite Publikum nicht. Von der Mehrheit der deutschen Gesellschaft wird Polen nicht wahrgenommen. Polen ist unbekannt und deshalb nicht wichtig. Polen ist nicht interessant genug.

Viele Organisationen und Stiftungen leisten unglaublich mühselige und außerordentlich wichtige "organische Arbeit": die Deutsch-polnischen Gesellschaften oder die Deutsch-polnische Journalistenvereinigung etwa, die Evangelischen und Katholischen Akademien, die Polnischen Kulturinstitute und das Deutsch-Polnische Jugendwerk, lokale Behörden in vielen Teilen Deutschlands und Privatpersonen. Doch das alles scheint doch nur ein Tropfen auf den heißen Stein zu sein. Aber auch die Rolle der in Deutschland lebenden Polen als Vermittler zwischen den beiden Kulturen könnte größer sein, hätten sich deren Organisationen mehr an dem Prozess beteiligt, statt sich nur auf sich selbst zu konzentrieren.

Der Pole vom Dienst hat ausgedient

Natürlich, Polen ist keineswegs der Nabel der Welt. Und auch in Europa ist Polen nur eins von vielen ganz normalen, durchschnittlichen Ländern. Aber durch viele Faktoren ist Polen mit Deutschland eng verbunden - und in der nahen Zukunft wird diese Verbindung noch enger sein müssen. Deshalb ist es nicht egal, was Menschen auf beiden Seiten voneinander wissen und was sie von sich halten. Im Allgemeinen wissen Polen viel mehr über Deutschland und die Deutschen als umgekehrt. Anders als die Deutschen haben sie kein Problem damit, von ihrem Nationalstolz, vom Patriotismus und von der Liebe zum Vaterland zu sprechen. Die heilige Kuh der Nation, die Geschichte Polens, kann sie furchtbar stolz, gleichzeitig aber auch sehr verletzbar machen. Dass 1994 der deutsche Bundespräsident und gleich danach der Bundesaußenminister den Warschauer Aufstand mit dem Aufstand im Warschauer Ghetto verwechselten, bezeugt nicht unbedingt deren Ignoranz, sondern eher die Ignoranz Ihrer Redenschreiber. "Wissen Sie", sagte mir kurz danach ein hoher Mitarbeiter des Außenministeriums auf einem Empfang in Bonn, "es tut mir leid, aber in der polnischen Geschichte kennen wir uns nicht so gut aus". Er schien vergessen zu haben, dass es zugleich die deutsche Geschichte war, von der er da sprach. Das hat mich nachdenklich gemacht. Wie viele solche Aufstände haben die Deutschen in den von ihnen besetzten Ländern Europas erlebt? Warum sind sie so unwichtig, dass sie noch nicht einmal im Geschichtsunterricht erwähnt werden? Von anderen, positiveren Ereignissen in der gemeinsamen Geschichte ganz zu schweigen.

Früher gab es sie, die "Polen vom Dienst". Der Schriftsteller und Futurologe Stanisl′aw Lem war so einer, der Filmregisseur Krzysztof Zanussi ein anderer, der Schriftsteller Andrzej Szczypiorski gehörte zu ihnen und der Journalist Adam Krzemin′ski. Es gab sie, und es war gut so, denn sie erfüllten eine wichtige Aufgabe als zivilisatorische Vermittler zwischen den beiden Nationen. Ihre Gesichter waren bekannt, ihre Aussagen - interessant. In den Augen der Deutschen stellten sie die lebende Personifizierung polnischer Gegenwart dar. Aber im Laufe dieses anormalen "Normalisierungsprozesses" sind auch sie verschwunden. In der Normalität werden Moralisten und Relativisten nicht gebraucht. Und doch vermisse ich ihre Stimmen in den Zeiten der deutschen Debatten über Leitkultur und Nationalstolz, Rechtsradikalismus und Zuwanderung.

"Nein", sagte ich, "wir fliehen nicht"

Vor ein paar Jahren, als die Serie der Gewalttaten gegen Ausländer nicht abbrach, und es jede Woche neue erschreckende Nachrichten gab, kam meine damals 13-jährige Tochter eines Tages aus der Schule und fragte: "Mama, müssen wir fliehen?" Mir ist schlecht geworden. "Nein, sagte ich, wir fliehen nicht." Aber mit dieser Frage ist in mir damals etwas verloren gegangen. Vielleicht die Selbstverständlichkeit und Offenheit, mit denen ich zuvor den Deutschen begegnet war? Ich habe keine Lust mehr, jedem die einfachsten Sachen immer wieder zu erklären. Meine Toleranz für Ignoranz und Arroganz ist dramatisch gesunken. Ich kann die allgemein präsente Überlegenheit nicht mehr ausstehen. Ich mag nicht, dass es sich viele so verdammt einfach machen, dass sie sich auch keine Mühe geben, selbst einmal einer Frage nachzugehen oder eine "einfache Wahrheit" über andere in Frage zu stellen. Ich habe festgestellt, dass ich in einem Land lebe, in dem viele Dinge nicht beim Namen genannt werden. Beispielsweise sagt nicht "Ausländer", sondern "ausländische Mitbürger". Bis heute kann ich nicht verstehen, wie jemand, der keine bürgerlichen Rechte genießt, Mit-Bürger genannt werden kann - "Miet-Bürger" wäre der treffendere Begriff.

Doch wie auch immer, wir sind geblieben. Irgendwie schien es uns wichtig. "Ich verschwinde hier", sagte einer meiner Freunde. "Ich werde nicht warten, bis die Grenzen wieder dicht sind und es auf dem letzten Schiff keinen Platz mehr für mich gibt". Nach zwei Monaten war er auf und davon. Er ging nach Italien, wo er in einem Städtchen in Ligurien als dottore polacco mit Begeisterung aufgenommen wurde. Von so etwas kann Krystyna F. in Angermünde nur träumen.

Aber auch ich habe einen Traum. Viele Träume sogar. Ich träume von Werbekampagnen mit ungewöhnlichen Parolen wie etwa: "Ohne Ausländer keine Rente" oder "Ohne Polen keine Erdbeeren" (beziehungsweise keinen Spargel, keinen Moselwein - je nach Region). Ich träume von einer Restaurantkette, die Polnische Wirtschaft heißen sollte, wo sich die Leute aus der Nachbarschaft in fröhlicher Atmosphäre bei polnischem Bier und gutem Essen treffen. Und ich träume davon, dass sich die erschreckende Stille der gegenwärtigen Pseudo-Normalität nur als Dornröschenschlaf erweist, der eines Tages durch den Kuss eines Prinzen beendet wird. Je früher, desto besser.

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