Mannheimer Nächte sind lang!
Als er jüngst in der saarländischen Landesvertretung die hochaktuellen Botschaften des staatlich geprüften Beschäftigungsprogrammatikers Ehrenberg präsentierte, rätselten die zahlreich erschienenen Journalisten darüber, wie lange er wohl noch von seinem Dissidentenstatus zehren könne. "Ach, das ist wie bei Karl Schiller damals", mutmaßte eine erfahrene Bonner Journalistin, "nach fünf gut besuchten Veranstaltungen geht keiner mehr hin." 1972 war der populäre Superminister wegen Etatstreitigkeiten zurückgetreten. Tief gekränkt wandte er sich von der SPD ab und trat im folgenden Wahlkampf an der Seite Ludwig Erhards als marktwirtschaftlicher Kronzeuge gegen die eigenen Spitzengenossen auf.
Doch er sollte scheitern. Brandt gewann die Novemberwahl auch ohne seine vormalige Wahllokomotive. Schiller hatte verloren, seine missionarischen Devianzen zur Mutterpartei garantierten kein volles Haus mehr. Also trat er ohne größeres Aufsehen wieder der SPD bei, schrieb Brandt zu dessen Kanzlerrücktritt einen rührenden Brief und war bei Parteitagen bis zu seinem Tode in der Seniorenloge ein gern gesehener Gast, dem die eitlen Ausflüge zu den Konservativen nachgesehen wurden.
Auch der weitaus weniger populäre Lafontaine versucht nunmehr über Wochen seinen Abgang als Minister und Parteichef zum Grundsatzstreit zu stilisieren: "Soziale Gerechtigkeit oder Neoliberalismus" lautet seine krude Devise, die bei schlichten Politgemütern von links genauso zu verfangen scheint wie früher "Freiheit oder Sozialismus" bei rechten Betonköpfen. Die "ergrauten alten Herren" aus dem deutschen Zentralbankrat hätten seine segensreiche Zinsbotschaft immer noch nicht erhört, tönte er beleidigt während der Ehrenberg-Präsentation.
Andrea Fischer, die couragierte Gesundheitsministerin, plauderte einmal gegenüber "Bild am Sonntag" aus dem Kabinettsnähkästchen: Schröder führe souverän, lasse die Leute ausreden und entscheide, wenn es an der Zeit sei. Lafontaine dagegen gebärde sich als ewiger Besserwisser, der immer das letzte kluge Wort für sich beanspruche. Im Klartext: Oskar nervt.
Mit seinen Rechthabereien wandelte Lafontaine schon immer auf dem populistischen Holzpfad zur wahren Macht. Nur in einer Underdog-Provinz wie dem Saargebiet (Heinz Becker, verzeih′ mir!) oder in einer gremienautistischen Funktionärspartei wie der Enkel-SPD vermochte er damit zu landen. Als er 1990 mit sozialökonomischen Kassandrarufen die Wahl zur deutschen Einheit vergeigte, stachelten ihn seine Mediengroupies mit Straußens Kultparole an, zwar Recht gehabt, aber noch nicht bekommen zu haben. Der Saarfürst bekam indes 1998 sowenig Recht wie Bayernfürst Strauß 1980 gegen Helmut Schmidt; obwohl Oskars Anhänger nichts unversucht ließen, um den SPD-Wahlsieg in ein Plebiszit über die gewerkschaftlichen Wahlprüfsteine umzudeuten.
Mannheimer Nächte sind lang. Erinnern wir uns an den Putsch vom November ′95, da der Festzelttribun den Parteitag in einen Gänsemarsch auflöste. Loyale Spitzensozis, die sich zuvor für Rudolf noch in eine Pfälzer Leberwurst hätten verwandeln lassen, riefen plötzlich tränenerstickt "Bravo Oskar!" Das alles wegen einer hochrotköpfigen Rede, von der nur die Verwechslung zwischen Schillers "Ode an die Freude" und dem Text der Internationalen haften blieb. Das Mannheimer Medley.
Zwei Jahre später auf dem Hannoveraner Konvent lag ihm bereits der sozialdemokratische Funktionärskörper bereitwillig zu Füßen und konnte sich das fordernde Do it! nur schwer untersagen. Lediglich das nahende Landesvotum von Niedersachsen schien Schröder vor einem Mannheim Teil II zu bewahren.
Die Superlative kannten plötzlich keine Grenzen mehr. 1996 galt er schon als der beste SPD-Chef nach Willy, 1997 war er gar noch besser als der späte (nur noch präsidiale ) Brandt. Und 1998 nach der siegreichen Bundestagswahl sah mancher in ihm schon den "neuen Bebel".
Danach folgte jene Rumpelstilzserie, Scharping erneut zu demütigen, Wahlhit Stollmann abzuservieren und bei der Ämtervergabe Frauen gegen Ossis und Ossis gegen Frauen auszuspielen. Schließlich der missionarische Part: der internationalen Finanzwelt die Jacketkronen zu zeigen, vor allem aber: über dem empirischen Kanzler als sozialdemokratischer Wahrheitskanzler zu posieren. Helmut Schmidts böses Wort von der nahgereisten Pygmäenzucht selbstherrlicher Landesfürsten machte die Bonner Runde.
Jüngst auf dem Zürcher Genusssymposion, wo er seine keynesianische Nachfragelitanei herunterbetete, mussten sich die Teilnehmer wie in einem Stripteaselokal vorkommen, in dem Wintermäntel präsentiert werden. Dabei hatte Lafontaine nur jene "Mannemer Brigg" überquert, die seit jeher die biedere Botschaft mit einem exzentrischen Stil verbindet.
Übrigens, die Bonner Journalistenschar erreichte die sensationelle Kunde von Lafontaines letztem Putsch während Anthony Giddens′ Buchpräsentation in der niedersächsischen Landesvertretung. Ein vom drakonischen Saar-Presserecht ausgenommener Lafontaine-Bewunderer unter der schreibenden Zunft stammelte schmallippig, dass man wohl jetzt "eine neue Partei" gründen müsse. Frage: In Butter gebraten oder in Olivenöl gedünstet?