Matteo Renzi darf nicht scheitern
Ein Blitztrip nach Bagdad und Erbil, warme Worte auf der Baustelle der Weltausstellung Expo 2015 in Mailand, Besuch bei einem Pfadfinderlager, Auftritte in Neapel, Reggio di Calabria und in Sizilien, Regierungsvisite in Kairo. Das sind nur einige Stationen des rastlosen Matteo Renzi im August. Italiens Premierminister hat sich nur ein paar Tage Pause mit der Familie in Forte dei Marmi gegönnt, als das Land in Ferien war. Der 39-Jährige prescht im Eilschritt durch sein Land und wohin immer die internationale Politik es erfordert. Schnell soll alles gehen, Schlag auf Schlag. Jeden Monat werde er eine Reform anpacken, hatte er angekündigt, als er im Februar die Regierung übernahm. Auch das war schlagartig gegangen: Über Nacht beförderte er seinen Vorgänger Enrico Letta aus der eigenen sozialdemokratischen Partito Democratico (PD) ins Aus.
Jetzt kommen die Mühen der Ebene
Ein gutes halbes Jahr ist der dynamische Regierungschef jetzt im Amt. Noch wird er auch vom großen Aufwind des Erfolgs bei der Europawahl im Mai getragen. Doch nun steht ein Herbst mit den Mühen der Ebene bevor. Auf der Agenda stehen eigentlich zweitrangige, aber schwer umkämpfte Themen wie die Gehälter für Staatsbedienstete und die Bildungsreform. Aber schon zuvor ist nicht alles so schnell und einfach gegangen, wie Renzi sich das erhofft hatte. Eine der Schlüsselreformen für das politische System Italiens, die Abschaffung des Senats in seiner bisherigen Form, drohte sich im Gestrüpp von Parteienränken und 8 000 Änderungsanträgen zu verfangen – trotz der heftig kritisierten Einigung mit Ex-Premierminister Silvio Berlusconi, dem Erzfeind der PD. Mit Ach und Krach wurde sie vor der Sommerpause doch noch in erster Lesung durchgebracht. So blieb Renzi ein schwerer Rückschlag erspart.
Auch in der internationalen Diplomatie und Verhandlungspraxis hat er Lehrgeld gezahlt. Dabei war er es als Bürgermeister von Florenz gewohnt, dass sein Wille und seine Wortmacht ausreichen, um Zustände zu verändern.
Trotzdem: Bremsen lässt sich Matteo Renzi bisher nicht. Auch sein unbefangenes, jungenhaftes Auftreten hat er sich bewahrt, und weiterhin macht er vieles anders als bisher üblich. Das weiße Hemd ohne Krawatte behält er als Markenzeichen bei, wo immer es geht (obwohl Giorgio Armani den Look als langweilig bezeichnet hat). Und Premier Renzi bleibt dabei, bei jeder Gelegenheit positive Botschaften zu verbreiten und Scherze zu machen, auch wenn es gerade nicht so gut läuft. Der Politologe Ernesto Galli della Loggia rieb dem Premier deshalb in der Tageszeitung Corriere della Sera unter die Nase, dass „Witze nicht reichen“. Er wünsche sich nicht die kalte Nüchternheit von Renzis Vor-Vorgänger Mario Monti zurück, so Galli della Loggia, doch brauche ein Land in einer so schwierigen Lage einen ernsthafteren Ton der öffentlichen Debatte, damit es einen Ruck bekomme.
Angst hat der Verschrotter keine
In die Falle des ewigen Schönredens sollte Renzi in der Tat nicht tappen, das könnte irgendwann zu viele Erinnerungen an Berlusconis Propaganda wecken und zu viel Glaubwürdigkeit kosten. Seine Art zu reden gehört zu Renzis unbefangenem Naturell, aber auch zu seiner Kommunikationsstrategie. Er ist begnadet im Umgang mit Medien, und er gibt ohne Unterlass Botschaften von sich. Seine täglichen Tweets sind gelegentlich sehr banal, aber sie finden immer irgendein Echo. Und Renzi will alle erreichen. Jeden Italiener will er von der Idee überzeugen, dass das Land sich ändern kann – und muss. Dass Renzi so rastlos und mitteilsam ist, liegt auch daran, dass er um die geringe Zeitspanne weiß, die er hat, um das auch zu beweisen. Er weiß auch, dass es zu ehrgeizig sein könnte, alles, was Italien seit Jahrzehnten lähmt, in wenigen Monaten beseitigen zu wollen. Aber wenn einer wie er nicht ans Werk geht, ist er von vornherein verloren. Und von vornherein verloren gibt Matteo Renzi nichts.
Das Risiko zu scheitern schreckt ihn kein bisschen. In der Politik will er sowieso nicht für immer bleiben, sagte er im Interview mit der Süddeutschen Zeitung: „Ich habe keine Angst.“ Dass er furchtlos ist, hat er schon vor Jahren bewiesen. Als Lokalpolitiker hat er sich mit den großen Politikern des Landes angelegt, mit der alten Führungsgarde, auch mit der seiner eigenen Partei. „Werft sie zum alten Eisen!“, lautete Renzis Botschaft. Daher stammt der Beiname „Rottamattore“ („Verschrotter“), und daher rühren erbitterte Feindschaften in seiner eigenen Partei, deren Vorsitzender er inzwischen ist. Seine Gegner in der von Flügelkämpfen bis an den Rand des Suizids gebeutelten PD sind erst nach dem klaren Erfolg Renzis bei der Basiswahl zum PD-Chef stiller geworden. Und nach dem besten Ergebnis europaweit bei der Wahl des EU-Parlaments einstweilen sogar verstummt. Dass dies seine bisher einzigen demokratischen Legitimationsquellen sind, ist trotz der großen Zustimmung eine Schwachstelle von Renzis Regierung. Eine weitere Schwachstelle ist die eigene Partei, wo der Burgfrieden bisher nie lange hielt.
Viele in der PD misstrauen Renzi. Er ist ihnen auch viel zu wenig links oder wenigstens zu wenig sozialdemokratisch. Verübelt wird ihm teilweise auch, dass er mit dem „kriminellen Berlusconi“ Abmachungen getroffen hat. Das Misstrauen ist gegenseitig. Renzi hat deshalb die alten Parteikader übergangen und sich eine kleine, jüngere Truppe aus der Provinz mitgebracht, mit der er die Partei führt. Und er hat sehr bewusst das alte, ideologische und tief verwurzelte Freund-Feind-Denken hinter sich gelassen, das der Grund für so viele Lähmungserscheinungen in der Politik war. Für Renzi ist es demokratische Normalität, auch mit dem Gegner zu reden, wenn zu Verfassungsänderungen wie der Senatsreform eine Zweitdrittelmehrheit vonnöten ist.
Kein Kungeln mit dem Establishment
Außerdem weigert sich die Anti-Parteienbewegung Fünf Sterne des ehemaligen Komikers Beppe Grillo hartnäckig, mit der PD zusammenzuarbeiten. Alle Angriffe, er lasse sich zu sehr mit dem abgehalfterten Premier ein, weist Renzi deshalb ziemlich entspannt zurück. Wenn Berlusconi als Chef der Forza Italia behilflich ist, macht sich Renzi das zunutze. Zweifellos hat Renzi einen ausgeprägten Machtinstinkt, und dass nun er der Chef und der Mann der Zukunft ist, und nicht mehr der alte Mann mit dem künstlichen Haaransatz, ist ihm sehr bewusst. Allerdings fällt es ihm offenbar leicht, mit Berlusconi zu reden, der sich gerne mit ihm schmückt: Der charismatische junge Mann aus Florenz sei einer, wie er selber mal einer war. Mit anderen von der alten politischen und wirtschaftlichen Führungsgarde des Landes redet Renzi weniger. Das hat ihm den Vorwurf eingebracht, er verstehe es nicht, mit der Elite des Landes ins Gespräch zu kommen.
Vor allem will er sich nicht von ihr vereinnahmen lassen und sich nicht dem Verdacht aussetzen, mit ihr zu kungeln. Demonstrativ blieb er den jährlichen Sommerkongressen der Laienorganisation Comunione e Liberazione ebenso fern wie dem Treffen des Forums Ambrosetti in Cernobbio, wo sich die Spitzenpolitik traditionell präsentiert. All das ist für ihn das ungeliebte „Establishment“. Auch sein Kabinett spiegelt diese Haltung wider: Die vielen jungen, zunächst unbekannten Minister sollen der Veränderung ein Gesicht geben. Nicht einmal die international angesehene ehemalige EU-Kommissarin Emma Bonino durfte Außenministerin bleiben. Böse Zungen behaupten, Renzi wollte niemandem in seinem Team haben, der ihm eindeutig überlegen ist. Für das wichtigste Amt, den Posten des Wirtschafts- und Finanzministers, hat er allerdings jemanden ernannt, der Renzis Ansicht nach eigentlich in Pension gehört. Der Wirtschaftsexperte Pier Carlo Padoan ist mit 64 Jahren deutlich der Älteste im Kabinett – und damit der lebende Beweis, wie pragmatisch Renzi handelt.
Die Schwäche der anderen
Fazit: Matteo Renzi hat gute Aussichten, seinen Weg zu gehen, zumindest bis zum nächsten Frühjahr. Voraussichtlich erst dann wird Italien ein neues, gültiges Wahlrecht haben. In diesem Fall schützt ihn also die Langsamkeit des Apparats. Vor allem aber schützt ihn vorläufig die Schwäche der anderen – Berlusconis Partei liegt darnieder, die Partei der Fünf-Sterne-Bewegung hat keinen profilierten Spitzenkandidaten, da ihr Gründer Beppe Grillo selbst nicht antritt, und die PD hängt vorläufig auf Gedeih und Verderb vom Premier ab. Zu Matteo Renzi gibt es also auf absehbare Zeit keine Alternative. Er wird keine Wunder schaffen, aber scheitert er ganz, steckt Italien in einer politischen Krise, die sich keiner in Europa wünschen kann.