Meckern über Merkel
A uch Wochen nach der Bundestagswahl will es mir nicht in den Kopf: Wie können die Wählerinnen und Wähler Frau Merkel noch mehr Stimmen als beim letzten Mal geben? Wie können sie einer Politikerin das Vertrauen schenken, die für unklare Aussagen und Visionslosigkeit steht? Angela Merkel ist keine Politikerin, die gesellschaftliches Zusammenleben gestaltet. Sie verwaltet lieber. Die Bundeskanzlerin unterstellt, der Staat funktioniere eigentlich von alleine; Politiker brauche er nur im Ausnahmefall. Wenn ein Problem auftaucht, dann löst sie es. Schnell und effizient. Das gilt für politische Themen wie für Konkurrenten. Darin ist sie gut. Die Wähler finden das offensichtlich nicht falsch.
Wieso haben sie eine solche Sehnsucht nach Verlässlichkeit, Ruhe und Schutz? Wenn ich mir die Fülle an Veränderungen, die Vielzahl an Reformen anschaue, die auf die Bürger in jeder Legislaturperiode zukommen, dann entwickle ich plötzlich ein Verständnis für die Wahl von Angela Merkel. Warum gehen denn viele Eltern auf die Barrikaden? Liegt es wirklich an dem neuen Konzept, mit dem die Schule neuerdings dafür sorgt, dass alle mitgenommen werden – oder eher an der Tatsache, dass sie schon fünfmal erlebt haben, wie alles neuer, besser und schöner wird? Regt sich die Wirtschaft wirklich über den absoluten Verwaltungsaufwand auf – oder eher über die ständigen Änderungen der Vorschriften? Wollen die Menschen Aufregung, Panik und Hektik – oder wollen sie jemanden, der ihnen sagt, dass alles in Ordnung ist? Merkel tut ja nicht nichts. Aber sie handelt nur dann, wenn auch die Bürger überwiegend der Meinung sind, es müsse etwas geschehen. Dann findet sie eine Lösung – effektiv und geräuscharm.
Das real existierende Ruhebedürfnis
Nehmen wir die Debatte um den Atomausstieg. Nach Fukushima wollten die Deutschen keine Kernkraftwerke mehr. Merkel setzte diesen Wunsch in die Tat um. Dass sie zuvor den Ausstieg vom Ausstieg ermöglicht hatte, interessierte die Bürger nicht mehr, weil Merkel schnell, ruhig und ohne größere Diskussionen den Wünschen der Bürger entsprach. Dieses Ruhebedürfnis können wir nicht völlig ignorieren. Es ist auch Ausdruck dessen, dass es den meisten Deutschen gut geht und wir Reformen mit Misstrauen begegnen.
Die Deutschen sind nicht dumm, auch wenn sie am 22. September zu 41,5 Prozent Merkel und die CDU/CSU gewählt haben. Im Gegenteil: Wir können uns glücklich schätzen, dass wir hoch demokratische Bürger haben. Die Wahlbeteiligung liegt bei Bundestagswahlen immer noch vergleichsweise hoch. In anderen Ländern ist sie bedeutend niedriger. Das liegt auch daran, dass die Menschen eine Wahl haben, bei allem Klagen über fehlende Unterschiede zwischen den Parteien.
Die Wählerinnen und Wähler, auch das ist positiv, können strategisch denken: Nur weil sie im Bund Merkel wählen, wählen sie in Hessen nicht unbedingt Volker Bouffier. Und in der Stadt kann auch mal der grüne Oberbürgermeister das Kreuz bekommen. Die Bürger sind in der Lage, zwischen den vertikalen Politikebenen und zwischen handelnden Personen zu unterscheiden. Darüber sollten wir uns freuen.
Was heißt das strategisch für uns? Sollten wir die „Übermerkel“ machen? Nein. Unser Auftrag, eine Alternative anzubieten, bezieht sich auch auf den Politikstil. Der Platz „Merkel“ ist besetzt. Heute kommt Merkels Stil gut an im Wahlvolk, morgen vielleicht schon wieder ein anderer. Wichtig ist: Auch in Zukunft müssen wir den Bürgern ein eigenes Angebot machen und sie davon überzeugen.
Das Prinzip Merkel kommt der SPD zur Hilfe
Was aber passiert mit dem Wahlergebnis, das wir nun einmal haben? Schwarz-Gelb ist abgewählt. Die Union allein hat keine Mehrheit. Die gibt es links der Mitte, wenn auch nur knapp. Wir haben ja wirklich schon fast alles gedanklich durchexerziert. Große Koalition? Ist unangenehm, weil Merkel die SPD an den Rand drückt und die eigene Basis mit Austritt droht. Rot-Rot-Grün? Wollen viele aus ideologischen Gründen, wäre aber der Bruch eines Wahlversprechens. Minderheitenregierung Merkel? Sie hätte den schwarzen Peter, aber kann man Merkel als Kanzlerin wählen und gleichzeitig eine gemeinsame Regierung verweigern? Schwarz-Grün? Wäre nett, wir könnten tolle Oppositionsarbeit machen, aber die Grünen müssen das auch wollen. Neuwahlen? Schuld daran wäre dann die SPD – und die FDP kommt wieder rein. Rot-grüne Minderheitenregierung? Auch hier haben wir das Wahlversprechen gegeben, dies nicht zu tun. Und die Möglichkeit, der CDU vier Abgeordnete abzugeben, damit es für eine absolute Mehrheit reicht, ist ebenfalls kein sinnvoller Vorschlag.
Es ist eine Zwickmühle. Die einen kündigen den Austritt aus der SPD an, wenn es eine Große Koalition wird, die anderen drohen damit, nie wieder SPD zu wählen, wenn es keine wird. Es gibt nur einen Weg: Wir müssen Koalitionsverhandlungen führen und schauen, welche politischen Inhalte wir durchsetzen können. Dabei müssen wir aus Merkel alle Zugeständnisse herausquetschen, die möglich sind. Hier kommt uns das Prinzip Merkel zur Hilfe. Da sie keine ideologischen Vorbehalte hat, kann sie bei vielem mitgehen, was wir fordern, vor allem, wenn sie es insgeheim vielleicht sogar für richtig hält. Ein Mindestlohn ist möglich, viele andere gute Dinge auch. Schauen wir also auf das Ergebnis, prüfen wir, ob Deutschland damit besser dasteht als ohne dieses Ergebnis – und dann entscheiden wir als Partei, nicht als Funktionäre, ob wir unter diesen Bedingungen eine Koalition wollen.