Mehr Empirismus, weniger Dogma
UNTERSCHEIDBARKEIT. Nachdem die Teilung der Welt in zwei antagonistische Lager überwunden und der damit verbundene Glaube an eine "Systemalternative" verflogen ist, stellt sich die Frage nach grundsätzlichen Unterschieden in der Politik neu. Konstitutiv für unterscheidungswillige politische Haltungen, Lager oder Parteien sind unterschiedliche Bilder von den Menschen und der Gesellschaft, die sie miteinander bilden; unterschiedliche kollektive Lebenserfahrungen und Tra-ditionen; unterschiedliche Wert- und Glaubenssetzungen; unterschiedliche politische Zielformulierun-gen. Grundlagen des Unterscheidungsdiskurses sind ohne Wenn und Aber Freiheit, parlamentarische Demokratie und soziale Marktwirtschaft.
LINKS. Es ist gut, dass nach einem Jahrhundert mörderischer ideologischer Kämpfe im Weltmaßstab die politische Unterscheidung zwischen Rechts und Links ihre Unbedingtheit, Ausschließlichkeit und Feindseligkeit verloren hat. "Links" ergibt in der Demokratie nur einen Sinn, wenn es auch eine politische Rechte gibt - und umgekehrt. Die Links-Rechts-Markierungen innerhalb von Parteien allerdings erscheinen immer verwaschener - übrig gebliebene Symbole früherer Hegemonialkämpfe. Die Linke als Partei strebt nach Aufklärung, menschlicher Emanzipation, demokratischer Gestaltbarkeit des gesellschaftlichen Lebens. Sie steht für den Primat der Politik. Dafür, dass wir unsere Geschichte, wenn auch nicht aus freien Stücken, so doch selbst und immer bewusster selbst machen. Links ist im Übrigen niemals das Mittel oder Instrument, mit dem ein Ziel erreicht werden soll, sondern allenfalls das Ziel. Mittel sind mehr oder weniger tauglich, nicht links oder rechts. Aus der Praxis vieler regierender sozialdemokratischer Parteien in Europa und darüber hinaus kann die deutsche Sozialdemokratie taugliche Instrumente - best practice - auswählen.
ELEND UND GLÜCK. Die rationale Methode zur Erarbeitung einer fortschrittlichen Programmatik sollte weniger als in der Vergangenheit ein dogmatischer Deduktionismus als vielmehr ein kritischer Empirismus sein. Auch der spektakuläre Wechsel von einer deduktionistischen Ideologie zur anderen, von der jungsozialistischen Verstaatlichungs-Ver-götzung zur Anbetung einer radikalen Privatisier-ungsstrategie, vom doktrinären Bindestrich-Sozia-lismus jeder Art zum doktrinären Liberalismus macht nicht alles gut. Er zeigt nur, wie beliebig die Unbedingtheit von individuellen politischen Bekenntnissen sein kann. Die Moden wechseln. Für Sozialdemokraten gilt, wie es Karl Popper formuliert hat, "das Prinzip, dass der Kampf gegen vermeidbares Elend ein anerkanntes Ziel der staatlichen Politik sein sollte, während die Steigerung des Glücks in erster Linie der Privatinitiative überlassen bleiben sollte." Die Balance wäre unter wandelnden Umständen immer wieder neu zu organisieren.
SCHUTZ DER SOZIALEN UMWELT. Stärker als bisher wird uns in Zeiten des Umbruchs, der Globalisierung und Flexibilisierung der Wert stabiler Institutionen bewusst. Familien, Nachbarschaften und Vereine, öffentliche Verwaltung und staatliche Daseinsvorsorge geben uns Sicherheit im Wandel. Die Verlässlichkeit des sich nicht oder nur langsam Wandelnden schafft erst die Voraussetzung dafür, dass Menschen sich in neuen Verhältnissen behaupten, sie gestalten und weiterentwickeln können. Eine intakte soziale Umwelt ist so wichtig wie die Luft zum Atmen. Deshalb unterliegen wir nicht der Zwangsvorstellung, immer sofort alles ändern zu müssen, was sich - und sei es um des geringsten Vorteils willen - ändern lässt. Der vollmobile, egoistische, bindungslose, flexible Mensch entspricht nicht dem sozialdemokratischen Menschenbild. Wir werden nicht helfen, ihn zu züchten.
INDIVIDUALISIERUNG. In der gesellschaftlichen Produktion und Reproduktion ihres Lebens spielen die Individuen sukzssive oder gleichzeitig verschiedene Rollen: Eltern, Mieter, Autofahrer, Konsument, Arbeitnehmer, Aktienbesitzer, Steuerzahler, Wähler, Patient, Sozialversicherungsbeitragszahler. Diese Rollenidentitäten verlaufen immer weniger entlang von Klassen-, Milieu- oder "Zielgruppen"-Grenzen. Wir Patchwork-Individuen tragen einen größer werdenden Teil der gesellschaftlichen Interessen- (und das heißt eben auch: Rollen-) Konflikte in uns aus - beziehungsweise wir verhalten uns widersprüchlich. Sozialdemokratische Politik sollte deshalb künftig immer weniger versuchen, Zielgruppen zu identifizieren und bedienen zu wollen, sondern die neue politische Identität eines verantwortungsvollen, selbstbewussten, sozialgebundenen Individuums anbieten. Die Bevölkerung besteht nicht vorwiegend aus politischen Nutzenmaximierern und will auch nicht so gesehen werden. Eine neue Integrationsformel könnte "Gemeinwohl" heißen. Viele Menschen interessieren sich tatsächlich für die Frage: "Welche Politik ist gut für Deutschland?"