Mehrheitsfähig werden
Union und SPD regieren auf Bundesebene bereits zum zweiten Mal innerhalb eines Jahrzehnts in einer Großen Koalition – nachdem die SPD bei den beiden letzten Bundestagswahlen nur Ergebnisse um die 25 Prozent erzielen konnte. Angesichts dieser Entwicklungen sind strategische Diskussionen darüber notwendig, wie die SPD ihre Mehrheitsfähigkeit wiedererlangen kann. Aus meiner Sicht sollten dabei vier wesentliche Aspekte berücksichtigt werden:
Erstens: Hoffnung und Optimismus vermitteln. Die Ideen der Sozialdemokratie waren von Anfang an mit der Vorstellung verbunden, dass demokratische Politik in der Lage ist, die bestehenden Verhältnisse zu ändern und eine positive Vorstellung von der Zukunft zu entwickeln. Der Fortschrittsoptimismus früherer Jahrzehnte, insbesondere der sechziger und siebziger Jahre, ist zunehmend einer Rhetorik der Krise und der Angst gewichen. Schwierige Zustände werden heute schon fast als schicksalhaft wahrgenommen, das Vertrauen in die Gestaltungskraft der Politik nimmt ab. Stattdessen begegnen uns auf unterschiedlichen Themenfeldern politische Erzählungen der Angst: Angst vor Umweltzerstörung, Angst vor der nächsten Finanzkrise, Angst vor dem Ende der Demokratie oder vor dem Islam. Gerade jetzt sprechen viele wieder von der Angst und machen damit Politik.
Diese Haltung, verbunden mit der Vorstellung, in der Zukunft werde alles schlechter, entspricht nicht der sozialdemokratischen Perspektive. Angst war noch nie die Triebfeder der SPD. In den über 150 Jahren ihrer Geschichte war es immer die Hoffnung. „Mit uns zieht die neue Zeit“ – so heißt es in einem der alten Lieder der Arbeiterbewegung. Und die SPD hat es in der Tat oft geschafft, durch politische Initiativen eine Aufbruchstimmung zu erzeugen. Diesen Optimismus sollte man sich zurückwünschen, denn es darf nicht die Sache der Politik sein, den Zustand der Welt zu beklagen. Vielmehr müssen wir durch unser Handeln in der Demokratie dafür eintreten, dass die Verhältnisse besser werden. Und dafür stehen, dass man als Individuum in einer solidarischen Gesellschaft erreichen kann, was man sich für das eigene Leben vornimmt.
Zweitens: Volkspartei bleiben. Eine Volkspartei ist dadurch gekennzeichnet, dass sie mehrheitsfähige Positionen entwickelt, Integrationsleistungen erbringt und verschiedene Milieus anspricht. Sie strebt die Führung der Regierung an. Auf der Bundesebene bedeutet dies, den Kanzler oder die Kanzlerin zu stellen. Volkspartei zu sein ist keine Frage der Mitgliederstärke oder der Wahlergebnisse: Man kann mit 22 Prozent eine Nischenpartei sein und mit 23 Prozent eine Volkspartei. In den fünfziger und Anfang der sechziger Jahre war es der bewusste Entschluss der SPD, Volkspartei zu werden. Diese Entscheidung muss immer wieder aufs Neue getroffen werden. Dazu gehört das Bekenntnis, den Staat regieren zu wollen. Die SPD muss sich außerdem als progressive Partei präsentieren, die sich neuen Entwicklungen nicht verschließt und für die pragmatisches Handeln ein wesentliches Kennzeichen demokratischer Politik ist. Eine solche Politik der Vernunft zielt auf die gesellschaftliche Mitte.
Drittens: Regieren wollen. Eine Mehrheit der Bürgerinnen und Bürger teilt Umfragen zufolge bei vielen Themen die Haltung der SPD, ihre Positionen und Vorschläge finden überwiegend Zustimmung. Natürlich muss die inhaltliche Ausrichtung der SPD beständig diskutiert werden. Aber für die strategische Frage, wie es gelingen kann, dass sie nicht nur an der Bundesregierung beteiligt ist, sondern die deutsche Regierung führt, scheint die inhaltliche Positionierung nicht ausschlaggebend zu sein. Die Bürgerinnen und Bürger müssen bereit sein, uns die Führung des Landes anzuvertrauen. Das heißt auch, sie müssen sicher sein, dass die SPD in der internationalen Politik und auf europäischer Ebene – wenn es beispielsweise um den Euro geht –, in Fragen der Landesverteidigung oder der Inneren Sicherheit das Richtige tun wird. Das Gleiche gilt für Fragen des wirtschaftlichen Wachstums und der Beschäftigung. Solches Zutrauen kann nur allmählich wachsen. In den Ländern gelingt das schon. Die SPD ist an 14 Landesregierungen beteiligt, in neun Bundesländern stellt sie den Regierungschef oder die Regierungschefin. Die Bürgerinnen und Bürger sind erkennbar davon überzeugt, dass das jeweilige Land bei ihr in guten Händen ist. Die SPD spielt also im politischen Geschehen der Bundesrepublik nach wie vor eine wesentliche Rolle, trotz der schlechten Ergebnisse bei den Bundestagswahlen.
Viertens: Glaubwürdig sein. Verlässlichkeit und Glaubwürdigkeit sind wichtige Erfolgsfaktoren demokratischer Politik. Dazu gehört, niemals anders zu regieren, als es zuvor im Wahlkampf und im Wahlprogramm angekündigt wurde, und nichts zu versprechen, was man später nicht halten kann. Für Koalitionsverträge und Koalitionen bedeutet dies: Selbst wenn Kompromisse unvermeidbar sind, müssen sich die eigenen Wählerinnen und Wähler im Verhandlungsergebnis wiederfinden und die Kompromisse nachvollziehen können.