Melancholie und Herzlichkeit
Es gibt sie nicht, die berühmte russische Seele. Und in Berlin schon mal gar nicht, obwohl hier unzählige Russen und Russlanddeutsche leben. Allein im Bezirk Marzahn-Hellersdorf sollen es 25.000 sein.
In den zwanziger Jahren, nach der russischen Oktoberrevolution, brodelte das russische Leben an der Spree. 360.000 russische Emigranten hatten in der Hauptstadt Zuflucht gefunden, darunter viele Künstler und Schriftsteller. Die Russen betrieben ihre eigenen Geschäfte, Restaurants, Kneipen, Kabaretts. Sage und schreibe 39 russische Zeitungen kamen aus Berlin.
Von dieser Vielfalt ist nicht viel geblieben, zumindest was das Nachtleben betrifft. Wo sitzen Russen beisammen, die uns von der russischen Seele und vom wahren Zustand der deutsch-russischen Beziehungen berichten könnten? „Die Russlanddeutschen treffen sich überwiegend privat“, sagt Elena Marburg, Integrationsbeauftragte des Bezirks Marzahn-Hellersdorf. In der Russenhochburg gebe es zwar russische Geschäfte, aber keine russischen Kneipen. Ähnlich scheint es in Charlottenburg-Wilmersdorf zu sein, wo viele jüdische Russen leben. „Von einer russischen Ausgehkultur in dem Bezirk weiß ich nichts“, sagt Zeit-Redakteur Adam Soboczynski, der gerade ein großes Dossiers über das russische Berlin geschrieben hat. Selbst die Mitarbeiter der russischsprachigen Zeitschrift Russkij Berlin, Russkaja Germania zucken auf unsere Frage hin nur mit den Schultern. Es ist wie so oft: An den Folklore-Bezirken Prenzlauer Berg und Mitte führt kein Weg vorbei.
Das Gorki Park zählt zu den bekannten Cafés in Berlin-Mitte. Dort bekommt man russische Crêpes („Bliny“), Teigtaschen („Pelmeny“), herzhafte Soljanka und mildes Moskwa-Bier. Die Spezialität des Hauses ist der selbst eingelegte Pfeffer- und Moosbeerenwodka. Fehlen nur die russischen Gäste. Bardame Ines enttäuscht uns: „Russen kommen selten.“
„Von Eurem Geld kaufen wir Raketen“
Doch wir haben Glück. Zwei tätowierte junge Männer mit Baseballmützen setzen sich an den Nebentisch. Demi und Vlad betreiben den CCCP-Club in der Torstraße, der zusammen mit der „Russendisko“ im Kaffee Burger das Zentrum des russischen Tanzlebens in Berlin bildet. „Die russische Seele existiert überhaupt nicht, sie kommt allerhöchstens in der Sprache zum Ausdruck“, sagt Demi. „Russland ist ein Vielvölkerstaat, die einzelnen Volksgruppen haben so wenig gemein wie Deutsche und Spanier.“ Schon die Bewohner verschiedener russischer Großstädte würden sich kulturell fundamental voneinander unterscheiden. „In St. Petersburg lebt die Intelligenz, in Moskau der Geldadel“, sagt Demi. Das deutsch-russische Verhältnis könnte sicher besser sein, doch Schuld an der Beziehungskrise sei eindeutig Deutschland. „Wir haben euren Krieg gewonnen, dafür müsst ihr zahlen – und von dem Geld kaufen wir Raketen“, sagt Vlad und klopft sich auf die Schenkel vor Lachen. Auf zur nächsten Station.
Die Bar Gagarin in der Knaackstraße im Prenzlauer Berg ist nach Fliegermajor Juri Alexejewitsch Gagarin benannt, dem ersten Menschen im All. „Beobachte die Erde. Sicht gut. Höre euch ausgezeichnet“, hatte der „Held der Sowjetunion“ 1961 aus seiner Raumfähre zur Erde gefunkt. Das Gagarin verfügt über ein nobles Interieur im Sowjetstil, das zwölf Kunststudenten der Freien Universität Berlin im Auftrag der deutschen Besitzer gestaltet haben.
Kein einziger russischer Gast sitzt in der Bar. „Die Russen, die zu uns kommen, wirken oft neureich und dubios“, erzählt Kellnerin Lena. Auch Stammgast Nick, der aus Kansas in den Vereinigten Staaten stammt, sind die Russen nicht ganz geheuer: „Wir Amerikaner pflegen das Vorurteil, dass die Russen sehr starke und gefährliche Menschen sind.“
Im Hintergrund läuft russische Popmusik. Auch im Gagarin schenken sie Moskwa aus, andere russische Biersorten wie Baltika sind in Berlin nicht so leicht zu bekommen. „Sto Gram“ Moskowskaja und Schwarzbrot komplettieren unsere Bestellung. Der Koch des Hauses ist so nett und setzt sich zu uns an den Tisch – Arthur, der einzige Russe weit und breit. Er stammt aus Jekaterinnenburg und lebt seit zehn Jahren in Berlin. „Ein Stück deutsche Seele hatte ich immer in mir“, sagt Arthur. Von seiner Großmutter hat er Deutsch gelernt und sich einige deutsche Gerichte abgeguckt. Im Gagarin kocht er russisch. Aber: „Es gibt viel Ähnlichkeit zwischen beiden Küchen.“
„Ich war Pionier und bin stolz darauf“
Arthur stößt mit uns an: „Allmählich verschwimmen die Unterschiede zwischen Deutschland und Russland.“ Er will in Deutschland bleiben, auch wenn hier „nicht alles Gold ist, was glänzt“. An Russland stört ihn die Kluft zwischen Arm und Reich, die in den vergangenen Jahren deutlich zugenommen habe. „Unsere Mittelschicht ist viel zu klein“, so Arthur. Die Menschen in Deutschland hätten mehr Lebenschancen, aber auch mehr Existenzängste als die Russen. Die Freiheiten der jungen Generation in Deutschland sieht der Familienvater allerdings skeptisch. „Ich war Pionier und bin stolz darauf“, sagt er. Ein bisschen mehr Führung würde den jungen Menschen gut tun.
Das Gespräch wird politisch. Putin sei der richtige Mann für Russland und „viel besser als die Präsidenten vor ihm.“ Auch zu den deutsch-russischen Beziehungen hat Arthur eine klare Meinung: „Deutschland sollte sich mehr in Richtung Russland als in Richtung USA orientieren.“ Schließlich bestünden die Verbindungen zwischen Deutschen und Russen länger, als die Vereinigten Staaten überhaupt existierten. Aber wo sind denn nun die Rus-sen in Berlin? „Überall“, behauptet Arthur. Wir versuchen es im Restaurant Pasternak gleich nebenan.
Hinterm Tresen des Pasternak arbeitet der russischstämmige Artjom, der zweisprachig aufgewachsen ist und beide Kulturen kennt. Auf die deutsch-russischen Beziehungen hat Artjom einen nüchternen Blick: „Russland hat mehr natürliche Ressourcen und ein größeres militärisches Potenzial als Deutschland; eine Beziehung auf Augenhöhe kann es deshalb nicht geben.“ Aus diesem Grund könne Deutschland auch nicht endlos anprangern, dass Russland die Menschenrechte missachtet. „Obwohl viele Russen das Problem tatsächlich verdrängen, weil es mit ihrem großen Nationalstolz unvereinbar ist“, sagt Artjom. Zwar gebe es durchaus eine russische Seele: „Für mich ist das die Offenheit, die Herzlichkeit, die Melancholie, das zotige Verhalten, die schnelle Intimität.“ Doch seien in Berlin viele Russen so gut integriert, dass sich die russische Seele bereits im deutschen Geist aufgelöst habe.
Wodkaselig geworden, ein Bild des Dichters Pasternak betrachtend, spüren wir sie dann doch ein wenig, die russische Seele. An diesem Abend in Berlin hat sie sich vor allem in russischer Folklore offenbart – und in sehr aufgeschlossenen, freundlichen Menschen. Wir prosten uns zu. „Nastrowje“.
gorki park – Café & Bar – Weinbergsweg 25 – Berlin-Mitte – www.gorki-park.de
gagarin – Bar – Knaackstraße 22/24 – Berlin-Prenzlauer Berg – www.bar-gargarin.de
pasternak – Restaurant – Knaackstraße 24 – Berlin-Prenzlauer Berg – www.restaurant-pasternak.de
cccp-club – Club & Bar – Torstraße 136 – Berlin-Mitte
russendisko – regelmäßig im Kaffee Burger – Torstraße 60 – Berlin-Mitte – www.russendisko.de