Menetekel Magdeburg?

Die Wahl von Sachsen-Anhalt belegt: Nur wenn die SPD den Gerechtigkeitserwartungen der Mitte gerecht wird, kann sie im Herbst ihren Triumph von 1998 wiederholen. Die Distanzierten aufs Neue zu gewinnen erfordert jetzt alle analytische Kraft der Partei

Ist das Scherbengericht, mit dem die Wähler in Sachsen-Anhalt die SPD nach achtjähriger Regierungszeit in die Verbannung geschickt haben, zugleich auch ein Menetekel für die Bundestagwahl im Herbst? Und erlaubt das erste und einzige wirkliche Kräftemessen der Parteien an den Wahlurnen fünf Monate vor dem 21. September Einsichten in den weiteren Verlauf des Wahlkampfes und Hinweise auf die Mechanik des Wählerverhaltens auch für den Rest der Republik?

Es sind diese Fragen, die sozialdemokratischen Wahlkampfstrategen derzeit im stillen Kämmerlein umtreiben müssen. Auch wenn erste Analysen im Willy-Brandt-Haus unmittelbar nach dem Erdrutsch von Sachsen-Anhalt zu dem Befund kommen, Rückschlüsse auf die bundespolitische Stimmungslage ließen sich aus den Ergebnissen der Landtagswahl kaum ziehen, und dies mit dem Hinweis auf das im Vergleich zur Landespartei wesentlich bessere Ansehen der Bundes-SPD und den nach wie vor deutlichen Popularitätsvorsprung des Bundeskanzlers begründen: Die Wahl von Sachsen-Anhalt ist trotz der außergewöhnlich elenden wirtschaftlichen Lage dort bereits Teil einer allmählichen politischen Aufladung der öffentlichen Wahrnehmungen. Sie liegt schon innerhalb jenes von dem amerikanischen Soziologen Angus Campbell beschriebenen "Trichters der Kausalität", in dem die Parteien, ihre Themen und ihre Kandidaten Dynamik entwickeln oder in die Defensive geraten, in dem sich die Siegeserwartungen in der Öffentlichkeit herausbilden und in dem schließlich die politischen Präferenzen der Wähler ihre endgültige Gestalt annehmen.

Gewiss lassen die Wahlergebnisse vom 21. April keine harten Prognosen für den Wahlgang im Herbst zu. Gleichwohl aber zeigt ein Rückblick auf die Wahlen seit 1990, dass in Sachsen-Anhalt sehr wohl recht konstante Beziehungsmuster zwischen dem Abschneiden der Parteien bei den jeweils im selben Jahr stattfindenden Landtags- und Bundestagswahlen entstanden sind. Zum einen stellten sich die politischen Kräfteverhältnisse, die sich jeweils bei der Landtagswahl ergeben hatten, stets auch beim Landesergebnis der im selben Jahr stattfindenden Bundestagswahl wieder ein.

Dabei bewegten sich die Streuungen in den Stimmanteilen der drei großen Parteien SPD, CDU und PDS fast immer in einem vergleichsweise schmalen Korridor von 2,5 Prozentpunkten. Lediglich die SPD-Ergebnisse des Jahres 1994 und die CDU-Ergebnisse von 1998 - beide Parteien hatten jeweils bei den Landtagswahlen verloren - lagen etwas weiter auseinander. Beide Male konnten die Verlierer bei der Landtagswahl bei der darauf folgenden Bundestagswahl etwa einen fünf Prozentpunkte höheren Stimmenanteil erringen. Allerdings galt für alle drei Wahljahre 1990, 1994 und 1998 die Faustregel: Wer in Sachsen-Anhalt bei der Landtagswahl vorne lag, der lag dann auch bei dem bundesweiten Ergebnis vorne.

Der ursächliche Kern dieser auf den ersten Blick verblüffenden Zusammenhänge liegt darin, dass trotz der relativ starken Fluktuationen in der ostdeutschen Wählerschaft die Zeitspanne zwischen den beiden Wahlen für völlige Um- und Neuorientierungen der politischen Präferenzen zu kurz ist. Trotz allgemein schwächerer Parteibindungen im Osten wird das grundsätzliche Streben der Wähler nach einem schlüssigen und stabilen Wahlverhalten ja nicht außer Kraft gesetzt. So erscheint es ratsam, die in den Umfragen gerade im Osten immer wieder hervortretenden Stimmungsschwankungen nicht vorschnell mit einer Disposition zu einem dann auch wirklich veränderten beziehungsweise labilen Verhalten gleichzusetzen. Hinzu kommt eine auch im Osten durchaus erhebliche regionale Stabilität der Wahlergebnisse, die eine jüngst erschienene Analyse der Politogen Jürgen Maier und Karl Schmitt belegt.

Bei den Arbeitern ist die SPD eingebrochen

Dies alles besagt nun nicht, dass es sich bei Sachsen-Anhalt um ein ostdeutsches Gegenstück zu dem berühmten "Bellweather-District" handelt, jenem amerikanischen Wahlbezirk, dessen Wahlergebnisse über Jahrzehnte hinweg exakt die nationalen Wahlergebnisse widerspiegelten. Wir sollten jedoch zumindest davon ausgehen, dass die prägenden Bestimmungsfaktoren und die bundesweiten und bundespolitischen Kommunikationsmuster auch in Zeiten des Landestagswahlkampfes die Wähler beeinflusst haben - oft stärker als ihnen dies unmittelbar bewusst ist.

Das bedeutsamste Indiz für übergreifend wahlverhaltensrelevante Bestimmungsfaktoren sind die Einbrüche, die die SPD in den von der Arbeiterschaft und von Arbeitslosigkeit geprägten Milieus zu erleiden hatte. Hier flossen in großem Stil einerseits Stimmen zur CDU ab; andererseits verharrten weiteste Teile des sozialdemokratischen Potentials in der Wahlenthaltung. Bei den Arbeitern brach die SPD um 19 Prozentpunkte ein und sackte auf nur noch 16 Prozent ab; gegenüber einem Stimmenanteil der CDU von 41 Prozent in dieser Berufsgruppe. Auch bei den Arbeitslosen und bei Gewerkschaftsmitgliedern erging es der SPD ähnlich; hier erlitt sie Verluste von 16 beziehungsweise 18 Prozentpunkten und ist auf den Status einer Minderheitenpartei in diesen Wählersegmenten herabgesunken. Diese Prozentwerte umschreiben ein breites Krisensyndrom, die Abkopplung der SPD vom Bereich der traditionellen Arbeitswelt, ihrer Risikolagen und wohlfahrtsstaatlichen Erwartungen und Hoffnungen. Die ganze Dramatik dieser Abkopplung kommt in dem Umstand zum Ausdruck, dass die Sozialdemokraten gegenüber ihrer triumphalen Wählermobilisierung bei der letzten Budestagswahl nur noch ein Drittel der damaligen Wähler anzusprechen vermochten.

Genau diese Struktur der sozialdemokratischen Verluste aber ist für alle Landtagswahlen seit 1999 kennzeichnend gewesen, auch wenn zwischenzeitlich der Zulauf zur CDU wegen deren Verstrickungen in den Spendenskandal weitgehend zum Erliegen gekommen waren und sich die wohlfahrtsstaatsorientierten Wähler, vormals überwiegend Anhänger der SPD, einstweilen mit dem Rückzug in die Wahlenthaltung, in Resignation und Apathie beschieden.

Statusängste und nicht erfüllte Erwartungen

Die Monotonie dieses Musters in der Wählerschaft über einen Zeitraum von nun beinahe vier Jahren ist in der Tat verwunderlich. Noch erstaunlicher jedoch ist die Hartnäckigkeit, mit der auf sozialdemokratischer Seite die Suche nach den Ursachen für diese stetige Erosion der plausibelsten Erklärung ausgewichen ist: Dabei haben inzwischen gleich mehrere Studien eine konsistente und empirisch gut begründete Erklärung angeboten: Der Schlüssel für die Entfremdung von Sozialdemokratie und weiten Teilen der eher unteren und mittleren sozialen Milieus sind Statusängste und nicht erfüllte Erwartungen im Blick auf wohlfahrtsstaatliche Interventionen. Diese durch den schleichenden Um- und Rückbau und die Privatisierung der sozialen Sicherungssysteme erzeugten Ängste vor sozialer Kälte, schwindender Gerechtigkeit und einem bedrohlich erscheinenden Wandel der Lebensbedingungen in weiten Bereichen der unteren Hälfte der sozialen Pyramide haben bereits die Bundestagswahl 1998 geprägt und entscheidend zur Abwahl der Regierung Kohl und zum Triumph der SPD beigetragen.

Diese Erklärungsthese ist in der Sozialdemokratie entweder verdrängt oder verkürzt worden; die Dringlichkeit der Besorgnisse und wohlfahrtsstaatlichen Erwartungen in der Bevölkerung wurde in jedem Fall unterschätzt. Stattdessen wurde der Wahlsieg von 1998 in den Kategorien der neuen Heldentheorie der Umfrageforschung als Sieg des dynamischen Herausforderers Gerhard Schröder über einen überfällig gewordenen Helmut Kohl oder als Aufforderung zur Modernisierung interpretiert, wobei mit Modernisierung in erster Linie die Anpassung der Sozialsysteme an budgetären Vorgaben gemeint war. In der Folge dieser verkürzten Erklärung des eigenen Wahlsieges drohte die beherrschende Rolle des Gerechtigkeits- und Wohlfahrtsstaatsparadigmas für die Darstellung der SPD gegenüber der Wählerschaft verschiedentlich aus dem Blick zu geraten.

Wolkiger Jargon oder soziale Inklusion?

In dieser für die SPD prekären Situation kam es zu einer verhängnisvollen sozialwissenschaftlichen Intervention. Die analytische Blindheit für klassische gesellschaftliche Polarisierungen auf der politischen Ebene wurde überdies zu einer gesellschaftstheoretischen Tugend verklärt, indem der wolkige, postmoderne Jargon einiger Soziologen mit dem Hinweis auf "reflexive Modernen", "leere Zentren der Gesellschaft", "die neue Abmessung von Risiken in Bezug auf Chancen", den Eindruck erweckte, als seien klassische gesellschaftstheoretische Paradigmen wie Wohlfahrt, Gerechtigkeit, Solidarität und soziale Inklusion nun außer Kraft gesetzt. Ja, mehr noch, schon die schüchterne Frage, wie es sich denn mit diesen Grundelementen normativer Integration verhalte, gilt in diesem Diskurs nahezu als unschicklich, in jedem Falle aber als altmodisch.

Schon ein zufälliger Blick in den Armutsbericht der Bundesregierung oder auf die Befunde der PISA-Studie lässt erahnen, dass es soziale Gruppen und Schichten mit erheblichen Benachteiligungen gibt, die von Regierungen erwarten, dass diese Benachteiligungen korrigiert werden, und die wenig Verständnis zeigen, wenn sie stattdessen auf das neue Prinzip "gesellschaftlicher Selbstrelativierung" verwiesen werden. In den sozialdemokratischen Diskursen der letzten Jahre tauchen diese Gruppen eher selten auf. Stattdessen dominieren Abgesänge auf "ominöse Stammwähler" oder "abschmelzende Traditionsmilieus", die auf suggestive Weise die Fragen von oben und unten, arm und reich auf die hinteren Ränge der politischen Tagesordnung drängen.

Reformen brauchen einen roten Faden

Vor diesem analytischen und gesellschaftstheoretischen Hintergrund entfaltete sich eine Regierungstätigkeit auf Bundesebene, die in der Vielzahl der richtigen Anstöße und wichtigen Reformprojekte, die sie auszeichnete, gleichwohl nicht den roten Faden einer konsistenten Geschichte von solidarischer und gerechter Modernisierung durchgängig sichtbar werden ließ und auch nicht unter diesem Vorzeichen kommuniziert wurde. Damit jedoch wurde dem Zerfall eben jener breiten Wählerkoalition Vorschub geleistet, die der Sozialdemokratie zum Wahlsieg von 1998 verholfen hatte.

Seit 1999 vollzog sich - fast ausnahmslos von einer Landtagswahl zur anderen - immer wieder der Rückzug wohlfahrtsstaatlich orientierter SPD-Potentiale in verunsicherte oder resignierte Wahlenthaltung, auch wenn zusätzliche andere landespolitische Faktoren im Spiel waren. Diese Resignation und Verunsicherung gegenüber einer SPD, die plötzlich als unsicherer Kantonist in Gerechtigkeitsfragen erschien, fielen im Osten besonders stark aus. Sowohl die dort noch schwächer ausgeprägten Parteibindungen, vor allem aber die besonders tief verwurzelten und nicht erfüllten Erwartungen einer wohlfahrtsstaatlichen Absicherung von riskanten Lebenslagen haben die massenhafte Abkehr der Wähler von der SPD ausgelöst, die man am 21. April in Sachsen-Anhalt beobachten konnte.

Gegenüber dieser seit 1999 erkennbaren Grundströmung resignierter Skepsis fallen die oftmals unbeholfenen Aktionen der Regierung Höppner, die ungeklärten Koalitionsperspektiven im Lande, aber auch auf Seiten der Opposition die Strahlkraft der CDU und Edmund Stoibers nur wenig ins Gewicht: Die CDU in Sachsen-Anhalt war alles andere als eine leuchtende Hoffnungsträgerin. Sie war eben da, und auch das allein kann bisweilen ausreichen, um Wahlen zu gewinnen.
Aus den langfristig wirksamen Bestimmungsfaktoren der Wahlentscheidung in Sachsen-Anhalt ergeben sich einige Fingerzeige im Blick auf die Anlage der Wahlkampagnen vor aller der beiden großen Parteien in den kommenden Monaten.

Die Unionsparteien haben ihren stärksten Verbündeten in der Skepsis und Apathie, die erhebliche Bereiche der sozialdemokratischen Anhängerschaft von 1998 befallen hat, und sie werden nach dem Abklingen der lähmenden Wirkung des Kohl-Skandals auf die eigenen Wähler auf schon jetzt recht deutlich kalkulierbare Mobilisierungsvorteile setzen: Bürgerliche Wähler gehen normalerweise in signifikant höherem Maße zur Wahl als Wähler aus den unteren sozialen Schichten, und sie werden dann auch in signifikant höherem Maße für die Unionsparteien und die FDP stimmen.

Bei diesem Mobilisierungskalkül fällt nicht sonderlich stark ins Gewicht, dass der christdemokratische Spitzenkandidat Edmund Stoiber - wie von vielen Betrachtern erwartet - außerhalb des bayerischen Medienreservats nur mäßige Popularität und ein eher schwächliches Profil entwickelt. Es sei im Übrigen daran erinnert, dass auch Helmut Kohl über viele Jahre seiner Kanzlerschaft hinweg nur bescheidene Sympathie- und Kompetenzwerte aufwies, ohne dass dieses Manko einem guten Abschneiden der Union sehr hinderlich gewesen wäre. Die Union wird also - das deutet sich bereits in diesen Wochen an - einer zugespitzten Persönlichkeits- und Kandidatenwahl ausweichen und stattdessen auf eine "normale" Parteienwahl setzen.

Personalisierung kann nicht alles sein

Für die Sozialdemokratie als führende Kraft der Bundesregierung gibt es zu dem Konzept eines Kanzlerwahlkampfes keine Alternative, zumal Gerhard Schröder hinsichtlich seiner Popularität und seines Geschicks im Umgang mit Medien und Massen seinem Herausforderer haushoch überlegen ist. Gleichwohl sollte man bei der Entscheidung für einen Kanzlerwahlkampf die vielerorts in den Medien und von vermeintlichen Medienfachleuten propagierte These von dem unaufhaltsamen Vormarsch der Personalisierung von Politik mit Vorsicht betrachten. Der Politikwissenschaftler Frank Brettschneider hat erst kürzlich in einer breit angelegten und international vergleichenden Studie auf die Ambivalenz der Personalisierungsthese hingewiesen. Der dramatische Vormarsch der Personalisierung auf der Ebene der politischen Inszenierung, der Kommunikation und des politischen Marketings ist keineswegs gleichbedeutend mit einem ebenso dramatischen Bedeutungszuwachs des Faktors Personalisierung für das Zustandekommen der Wahlentscheidung.

Auch für die Wahlen der achtziger und neunziger Jahre gilt - entgegen dem landläufigen Urteil -, dass der Persönlichkeitsfaktor der Abstützung und Verstärkung durch die beiden anderen Elemente der Trias "parties, candidates und issues" bedarf. Alle großen Kanzlerwahlen in der Bundesrepublik - Adenauer 1957, Brandt 1972 und Kohl 1990 -, aber auch die überragenden Personalplebiszite in anderen westlichen Demokratien wie USA, Frankreich und England in der jüngsten Zeit belegen dieses Zusammenwirken von großem Thema, klarer Bindung der Kontroverse an eine Partei und Personalisierung der Streitfrage.

Dieser Zusammenhang macht freilich nun die vorab skizzierte Problematik einer nur noch verschwommenen und in ihrer Bedeutung für die SPD angezweifelten Leitmelodie der Solidarität und Gerechtigkeit zwangsläufig zu einem zentralen Problem auch des so unausweichlichen Konzepts eines Kanzlerwahlkampfes: Auch ein so großartiger Kommunikator wie Gerhard Schröder ist auf eine glaubhafte, zündende und ergreifende Geschichte angewiesen, um seine Talente zur Wirkung zu bringen. Ob das Warten auf einen konjunkturellen Aufschwung, im Verein mit den Hinweisen auf eine in der Tat mannigfaltige Bilanz der Regierungszeit, sowie das standhafte Beharren auf einen Kurs der Haushaltskonsolidierung sich zu einer derartigen Geschichte wird verdichten lassen, ist die entscheidende Frage für die kommenden Wochen.

Dabei wird der Platzierung der Sparpolitik in der öffentlichen Debatte neben der traditionellen Leitmelodie eine besondere Bedeutung zukommen. Die Sparpolitik spielt nämlich eine zwiespältige Rolle. Im finanz- und auch wirtschaftspolitischen Diskurs wie auch in den internen Debatten aller Regierungen auf Landes- und Bundesebene nimmt das Problem der Haushaltskonsolidierung einen sehr hohen Rang ein; die öffentliche Schuldenlast gilt als eine langfristige Bedrohung der politischen Gestaltungsspielräume, und es mangelt nicht an Schwüren von Finanzministern und Regierungschefs, die Verschuldung der jeweiligen Haushalte in den kommenden Jahren unbedingt abzubauen.

Wer immerzu spart, hat nicht nur Freunde

Auf der Ebene der Wähler hingegen ergibt sich jedoch ein anderes Bild. Hier zeigen Umfragen zunächst einmal eine erhebliche Skepsis bei den Bürgern im Blick auf die Erfolgsaussichten und die Glaubhaftigkeit der allerseits propagierten Haushaltskonsolidierungsstrategien. Schwerer als diese Zweifel am Sparwillen und der Sparfähigkeit wiegt jedoch der Umstand, dass die regierungsintern als große administrative Kraftanstrengungen und Leistungen empfundenen Einsparungen in ihrer Außenwirkung keineswegs publikumswirksame Knüller sind. Öffentliches Sparen verhindert nicht nur unmittelbar eventuell konjunkturfördernde Maßnahmen, sondern zugleich lässt es immer wieder auch ganze Klientelgruppen und ihre Milieus förmlich austrocknen und stellt ihre Bindungen an die Regierungen vor schwere Belastungsproben. Dass davon nun gerade sozialdemokratische Regierungen in besonderem Maße betroffen werden, weil ihre Anhängerschaft in sozio-ökonomischen Verteilungskämpfen auf öffentlich-staatliche Zuwendungen in besonderem Maße angewiesen sind, macht einen rigorosen Spardiskurs in Wahlkampfzeiten zu einer potentiell selbstmörderischen Angelegenheit.

Wie lassen sich die hier skizzierten Rückschlüsse aus der Landtagswahl von Sachsen-Anhalt zusammenfassen? Solidarität und Gerechtigkeit als bestimmende Elemente der politischen Ziele, der prononcierte Einsatz öffentlicher Gelder als wesentliches Mittel zu ihrer Verwirklichung: dies sind nach wie vor unverzichtbare Komponenten eines sozialdemokratischen Kanzlerwahlkampfes, der darauf abzielen muss, die Herzen und Stimmen der Menschen zurück zu gewinnen, die sich nach dem Triumph von 1998 in den vergangenen Jahren aus dem Umfeld der SPD verabschiedet haben.

Um Milieus und Traditionen geht es nicht

Dabei geht es ausdrücklich nicht um einen Kampf um abschmelzende Milieus, aussterbende Traditionsreviere oder schwindende Stammwählerschaften, weil diese Begriffe allzu leichtfertig suggerieren, es handele sich dabei um ein rückwärtsgewandtes, nostalgisches Unternehmen. Die Aus- richtung an Grundsätzen der Gerechtigkeit und Solidarität, die Erwartungen an einen starken Sozialstaat sind keinesfalls auf die traditionellen Milieus und die sie tragenden Schichten und Gruppen beschränkt. Auch neu entstandene, zum Teil recht heterogene soziale Gruppen mit ihren sozio-ökonomischen Risikolagen - bis weit in die Mittelschichten hinein - teilen diese Werte und Erwartungen. Die Rückeroberung der Skeptischen und Distanzierten unter ihnen bis zur Bundestagswahl im September wird - daran kann nach der Wahlniederlage von Sachsen-Anhalt kein Zweifel bestehen - der SPD alle analytische Kraft und viel politischen Mut abverlangen. Aber alles spricht dafür, dass es hierzu keine Alternative gibt, soll der triumphale Wahlsieg der SPD von 1998 nicht in einer kurzen Regierungsepisode ausklingen.

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