Menschen schützen. Aber wie?

EDITORIAL


Wenn die beiden großen deutschen Parteien eine zentrale Lehre gezogen haben aus der vergangenen Bundestagswahl, dann diejenige, dass es keinen Vorteil verspricht, im Wahlkampf umfangreiche Umbauprojekte anzukündigen. Der Begriff "Reform" steht seit der unpopulären Agenda 2010 auf der Schwarzen Liste der Parteienkommunikation. Und als sich Angela Merkels Union in der Kampagne des Jahres 2005 anschickte, grundsätzlichen strukturellen Veränderungen auf den Gebieten der Steuer- und der Gesundheitspolitik das Wort zu reden, fiel es Gerhard Schröder ziemlich leicht, die Vorhaben der CDU als Ausgeburten durchgeknallten Umstürzlertums zu brandmarken. Dass Schröder dabei die im Gefolge der eigenen Agendapolitik entstandene Beharrungsstimmung zu nutzen verstand, um seine Konkurrentin zu bezichtigen, sie wolle das Land mit noch mehr Veränderungen endgültig aus den Angeln heben, entbehrte nicht der Ironie - erwies sich aber als ausgesprochen cleverer Schachzug.

Vier Jahre später haben es alle verstanden: Wer den Deutschen grundlegenden Wandel in Aussicht stellt, den werden eben diese Deutschen an der Wahlurne Mores lehren. Und was schon in "normalen" Zeiten stimmt, das gilt nun vermeintlich erst recht im Angesicht der dramatischen Weltwirtschaftskrise: Wenn Sturmwolken aufziehen, errichtet man nicht voller Zukunftsgewissheit ein neues Bauwerk, sondern versucht erst einmal, das vorhandene Haus wetterfest zu machen. Die Politiker beider Volksparteien meinen zu wissen: Was die meisten Bürger gerne hören wollen, ist die Zusage, zumindest am Ende der Krise werde wieder das über Jahrzehnte Gewohnte und Gewordene stehen. Darum kündigt Angela Merkel an, sie wolle "schnell zurückkehren zu den alten Regeln". Darum ruft auch Frank-Walter Steinmeier, der ja im Übrigen Aufbruch und Erneuerung favorisiert: "Wir müssen mit aller Kraft daran arbeiten, ein Unternehmen wie Opel zu retten."

Verständlich ist die verbreitete Rhetorik der Rückkehr, der Rettung und des Schutzes (also der Protektion) existierender Strukturen in einem Wahl- und Krisenjahr wie diesem durchaus. Zukunftsweisend ist sie nicht. Denn das Denken und Argumentieren in derartigen Kategorien verleitet auf gefährliche Weise dazu, die Radikalität der gegenwärtigen Weltwirtschaftskrise zu unterschätzen. Ist sie wirklich ernst und grundstürzend (und sie ist wirklich ernst und grundstürzend), dann werden gerade moderne Sozialdemokraten noch einmal ganz neu darüber nachdenken müssen, was eigentlich "Schutz" unter den Bedingungen umfassender Umbrüche sinnvollerweise bedeuten kann. Der Kampf um den Bestand jedes einzelnen existierenden Arbeitsplatzes in Deutschland wird in sehr vielen Fällen nicht zu gewinnen sein, der Kampf um bessere Lebens- und Bildungschancen für mehr Menschen hingegen schon " auch der um würdige zweite und dritte Chancen für ehemalige Industriearbeiter. Nach der Wahl werden wir viel darüber reden. Noch besser wäre, wir täten es schon jetzt.


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