Merkels türkisches Problem
In Berlin wird in diesen Wochen kontrovers über den Umgang mit der Türkei und Präsident Erdog˘ an debattiert. Nachdem er Premierminister Ahmet Davutog˘ lu während eines Machtkampfes im Mai 2016 aus dem Amt gedrängt hat, haben die Europäer einen zentralen Gesprächspartner in Ankara verloren – und das in einer Phase, in der die Beziehungen zur Türkei von entscheidend sind für die gegenwärtige Flüchtlingspolitik der Bundesregierung und der EU insgesamt. Erdog˘ an hingegen ist nicht nur aufgrund seiner politischen Überzeugungen und seines reizbaren Temperaments ein unberechenbarer Partner. Er hat über die Jahre hinweg auch immer wieder aktiv und provozierend in Richtung der deutschen Öffentlichkeit kommuniziert. Der Angriff auf Bundestagsabgeordnete mit türkischem Migrationshintergrund nach Verabschiedung der Armenien-Resolution ist dafür nur das jüngste Beispiel.
Avisiert wurde eine »dauerhafte Lösung«
Es ist eine berechtigte Frage, ob sich die Bundesregierung in der Fluchtkrise sehr von der türkischen Führung abhängig gemacht hat. Bundeskanzlerin Merkel brauchte das im März 2016 ausgehandelte Abkommen über die Rückführung von Flüchtlingen zwischen der EU und der Türkei deutlich dringender als alle anderen EU-Staaten. Sie musste den Deutschen zeigen, dass ihre Politik nicht hilflos ist, sondern dass es Steuerungsmöglichkeiten zur Begrenzung der Zahl der Flüchtenden nach Deutschland und in die EU gibt. Dabei ist Ankara derzeit der wichtigste Partner.
In ihrer Regierungserklärung im März beschrieb die Kanzlerin den Deal mit der Türkei – von offizieller Seite wird man gerne daran erinnert, doch bitte „Abkommen“ zu sagen – als „eine echte Chance auf eine dauerhafte und gesamteuropäische Lösung in der Flüchtlingsfrage“. Damit hat sie die Latte hoch gelegt: Der Fokus liegt nun vor allem auf diesem Abkommen, das alles andere als stabil ist.
Wer sich in Berlin in den vergangenen Wochen umgehört hat, spürte nach monatelang wachsendem Druck bei den beteiligten Akteuren Erleichterung, ja fast Begeisterung über das Abkommen. Die Zahlen der Neuankömmlinge sei doch umgehend drastisch runtergegangen! Die Abschottung der Balkanroute hatte die Zahlen zwar bereits im März deutlich sinken lassen. Gleichzeitig stauten sich aber in Griechenland die Menschen – eine Situation, der jetzt mit dem Türkei-Abkommen begegnet worden sei.
Bundesinnenminister de Mazière verkündete im April, dass das Abkommen mit der Türkei funktioniere, auch weil die Zahl der Neuankömmlinge auf den griechischen Inseln gesunken sei. „Die Flüchtlinge haben unsere Botschaft verstanden“, „die Zahlen geben uns Recht“, „dieses Problem ist gelöst“ – dies war in den ersten Wochen nach dem Abkommen in Berlin zu hören. Und es bestand Optimismus, dass das Zugeständnis an Ankara, im Gegenzug die EU-Visabestimmungen für türkische Staatsbürger zu liberalisieren, noch vor dem Sommer in die Tat umgesetzt werden könnte.
Berlin hat einiges in der EU in Bewegung gesetzt, um diesem Abkommen zum Durchbruch zu verhelfen. Und die Kanzlerin hat am meisten zu verlieren, wenn es scheitert. Mit der Brechstange gelang es, die EU insgesamt an Bord zu holen. In Berlin insistiert man zwar (zumindest offiziell), dass es sich um ein gemeinsames europäisches Abkommen handele, aber andernorts in Europa wird diese Demonstration deutscher Macht offen kritisiert. Die Bundesregierung hat die Türkei als zentralen strategischen Partner regelrecht wiederentdeckt – und die neue deutsch-türkische Allianz hat in anderen europäischen Hauptstädten zu Stirnrunzeln über die neue deutsche „Überrealpolitik“ geführt. Sollte das Abkommen scheitern, dann wird dies auch in der EU eine Niederlage für Angela Merkel sein. Bei ihr lag die Regie für das Abkommen, ihr wird sein Erfolg oder Misserfolg zugeschrieben werden.
Verdirbt Erdoğans Egotrip das Geschäft?
Nur wenige Wochen nach dem Abschluss des Abkommens spitzte sich nun in Ankara der Machtkampf zu. Erdog˘ an zeigt, dass er die Machtkonzentration beim Präsidenten tatsächlich mit hohem Tempo weiter ausbauen wird. Unterdessen wurde das Recht von kurdischen Abgeordneten auf Straffreiheit beschnitten, und Angriffe auf die Presse- und Meinungsfreiheit unter dem Deckmantel des Anti-Terror-Kampfes gehören inzwischen zur Tagesordnung. Dies ist die Folie, vor der das Abkommen mit der Türkei nun zu Recht debattiert wird.
Bundeskanzlerin Merkel sieht sich deshalb wachsendem Druck der Oppositionsparteien, aber auch kritischen Stimmen aus den eigenen Reihen ausgesetzt. Man habe sich in von der Türkei abhängig gemacht, während das Land offen den Weg in Richtung Autokratie beschreite. Die Grünen hatten das Thema Ende April im Bundestag auf die Tagesordnung gesetzt, und die Debatte zeigte, dass Merkel selbst im Zentrum der Kritik steht.
Während sich die Bundesregierung mit Kommentaren zur Machtverschiebungen in Ankara nach dem Abtritt Davutog˘ lus zurückhielt, wurde der Vorsitzende des Bundestags-Außenausschusses Norbert Röttgen Anfang Mai in einem Interview deutlicher: Diese Entwicklungen seien schlechte Nachrichten für Europa und die Türkei und wiesen auf eine Abwendung der Türkei von der EU hin. Davutog˘ lu habe die Türkei „in allen für Europa wichtigen Fragen“ in Richtung Europa bewegen wollen, Erdog˘ an wolle dies dezidiert nicht.
Aufgrund des wachsenden politischen Drucks in Berlin hat Angela Merkel nicht mehr viel Spielraum, wenn es Erdog˘ an darauf anlegt, den Preis für das Abkommen und für künftige Felder der Zusammenarbeit weiter in die Höhe zu treiben. Andererseits wird sie darauf setzen, dass sie die Mehrheit der Deutschen auf ihrer Seite hat, und den Eindruck eines erneuten Kontrollverlusts vermeiden. Je näher die Bundestagswahl 2017 rückt, umso mehr wird sie die öffentliche Meinung im Blick haben.
Die Machtverschiebungen in Ankara bedeuten derweil vor allem, dass die Bundesregierung stärker in andere Maßnahmen investieren muss, um ihre Außenpolitik in der Flüchtlingsfrage auf eine breitere Basis zu stellen und gegebenenfalls auf Alternativen zurückgreifen zu können. Das tut sie bereits, etwa mit Maßnahmen zur Bekämpfung von Fluchtursachen, dem Vorstoß zur Einstufung von Tunesien, Marokko und Algerien als sichere Herkunftsländer und der Unterstützung der Versorgung von Flüchtlingen in den Nachbarländern um Syrien und Libyen. Angesichts der hitzigen öffentlichen Debatte über die Türkei und den „Flüchtlingsdeal“ dringt die Bundesregierung aber momentan entweder mit diesen Politikansätzen zu wenig durch, oder sie sind so kontrovers, dass sie vielleicht nicht zu verwirklichen sein werden.
Angela Merkel braucht aber dringend eben diese alternativen Politikansätze, auf die sie zurückgreifen kann, falls der türkische Präsident sie hängen lässt (was nicht wahrscheinlich ist, denn dazu profitiert er momentan zu sehr von dieser Kooperation), oder falls Erdog˘ an den Preis der Kooperation in die Höhe treiben will, was deutlich wahrscheinlicher ist. Damit würde er Merkels Kritikern zuhause und in der EU insgesamt weiter Nahrung geben und die Bundeskanzlerin weiter schwächen.