Mit dem Scheinwerfer ins Hinterzimmer

Es ist das Recht jeder Lobbygruppe, die Themen auf die Agenda zu setzen, die sie bedrücken. Doch es ist die Aufgabe des politischen Systems, dafür zu sorgen, dass alle gehört werden können. Auf Deutsch heißt das "Arena-Setting"

In jüngster Zeit hat die Debatte um Politik und Moral erneut für vielfältige Schlagzeilen gesorgt. Dies verrät einiges über den - fehlenden - Diskurs zum ethischen Fundament moderner Politik. Das Misstrauen gegenüber den Politikern wächst. Deren moralische Integrität wird stärker denn je bezweifelt. Mit Empörung reagiert die Öffentlichkeit auf Beispiele der offensichtlichen Verquickung von öffentlicher Macht und wirtschaftlichem Interesse. Dennoch bleiben die konkreten Auswirkungen solcher Vorgänge meist gering. Immerhin mussten im vorigen Sommer mit Rudolf Scharping, Çem Özdemir und Gregor Gysi gleich drei Politiker ihre politische Karriere - zumindest einstweilen - beenden. Alle drei verstießen vermeintlich gegen ethische Regeln. Scharping ließ sich für Vorträge bezahlen, ohne dies der Bundestagsverwaltung als Nebeneinkunft anzuzeigen. Özdemir und Gysi setzten durch Dienstreisen angesammelte Freimeilen für Privatflüge ein. Darüber hinaus hatte Özdemir sich bei dem Vorgesetzten eines Freundes, der als Rüstungslobbyist tätig ist, Geld geliehen. Zur Verteidigung wurde die freie Wirtschaft zitiert, in der die private Nutzung von beruflich erworbenen Freimeilen zum Alltag gehört. Fragwürdig ist nicht allein die finanzielle Vorteilnahme, sondern die potentielle Beeinflussung der betroffenen Politiker durch die großzügigen Vertreter wirtschaftlicher Interessen: Özdemir stand plötzlich in der Schuld eines Lobbyisten, Gysi und andere werden von der Lufthansa nicht nur mit Bonusmeilen verwöhnt, sondern gelangten qua Amt zu etlichen anderen Vorteilen, etwa die "Senator Card" mit ihren zahlreichen Vergünstigungen und Privilegien.


Alles noch nicht lange her. Die massenmediale Hysterie, mit der die betroffenen Politiker wegen - scheinbarer - Banalitäten verfolgt wurden, mag aus heutiger Sicht als überzogen beurteilt werden. Die Debatte zeigt allerdings deutlich, dass Politiker als Sachwalter der Bürgerinteressen besonders hohen moralischen Maßstäben genügen müssen. Der Verweis auf die in der freien Wirtschaft üblichen Verhaltensweisen genügt zur Legitimierung der Verfehlungen nicht. Die Integrität eines öffentlichen Amtes unterliegt anderen Kriterien als die Integrität einer - wie auch immer ausgerichteten - privaten Tätigkeit.

Ganz legal - und doch illegitim

Die Vergehen der drei Politiker sind durchaus unterschiedlich zu bewerten. Während der eine klar gegen Spielregeln verstoßen hat, die schriftlich fixiert sind, hat der andere nur ein "Geschmäckle" provoziert. Mit "Geschmäckle" bezog sich Grünen-Chef Kuhn wohl auf ein in der Bevölkerung latent vorherrschendes moralisches Bewusstsein, nach dem ein Verhalten, das rechtlich nicht explizit verboten ist, dennoch die Grenzen der Moral überschreiten kann. Die Verteidigungsstrategie der Betroffenen macht deutlich, dass wir es hier mit einer Grauzone zwischen der Politik einerseits und den zahlreichen gesellschaftlichen Interessenvertretungen andererseits zu tun haben. Manche dieser wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Verquickungen scheinen legal zu sein - und werden in der öffentlichen Meinung dennoch als illegitim betrachtet.


Allein diese Tatsache ist schon Anlass genug zu fragen, inwieweit die bestehenden Regeln und etablierten Prozesse ausreichen, um den Rahmen der komplexen Beziehungen zwischen Politik, Wirtschaft, Verbänden und anderen Interessengruppen zu regeln. Diese Frage ist explizit von der Debatte darüber zu unterscheiden, ob gegen diese Regeln in den besagten Fällen verstoßen wurde. Kompliziert wird die Diskussion durch den ständig wachsenden Informations- und Kommunikationsbedarf der Politik gegenüber allen anderen gesellschaftlichen Subsystemen, um in der Komplexität der Moderne überhaupt noch steuerungsrelevantes Wissen generieren zu können. Eine enge Vernetzung zwischen Politikern und diversen gesellschaftlichen Interessengruppen scheint dabei nicht nur unvermeidbar, sondern im Sinne rationaler Entscheidungsfindung sogar geboten.

Politiker haben es auch nicht leicht

Politiker haben es nicht leicht. In hohem Tempo müssen sie Entscheidungen treffen und Gesetze formulieren, sich mit den unterschiedlichsten Themen auseinandersetzen, für deren umfassende Beurteilung sie die notwendige tiefere Kompetenz gar nicht mitbringen können: Heute wird ihnen eine Entscheidung über die Gentechnologie abverlangt, morgen sollen sie sich mit komplexen Steuergesetzen beschäftigen und übermorgen über den Einsatz der Bundeswehr in Krisengebieten abstimmen, deren geographische Lage sie nur vage erahnen. Um in einer hochdifferenzierten Gesellschaft seriöse Entscheidungen treffen zu können, sind politische Entscheidungsträger deshalb darauf angewiesen, das Expertenwissen jenseits des politischen Systems abzurufen. Der Experte zeichnet sich allerdings nicht nur durch sein überlegenes Spezialwissen aus, er vertritt zugleich das Partikularinteresse seiner jeweiligen Klientel. Er kann kein objektives Wissen und unverrückbare Wahrheiten liefern, da er sich seinerseits im Konkurrenzkampf mit anderen Experten um öffentliche Aufmerksamkeit für die eigene Position befindet.


In der Theorie wägt der Politiker die Argumente und Positionen ab und trifft seine Entscheidung gemeinwohlorientiert. In der Praxis unserer pluralistischen Gesellschaft ist es allerdings kaum möglich, so etwas wie Gemeinwohl zu formulieren. Außerdem gibt es persönliche Vorlieben, Seilschaften und Vernetzungen, Experten mit guten und schlechten Vermarktungsfähigkeiten, Medien, die Positionen aufgreifen oder ignorieren. Kurz, es gibt all jene Verzerrungen, die auch den normalen Bürger in seinen Entscheidungen beeinflussen. Gefährlich wird der Einfluss der Experten auf die Politik dort, wo sich die Verantwortung des Politikers auf die Bedienung der jeweils eigenen Klientel reduziert.

Der Druck der Interessengruppen nimmt zu

Kein Zweifel, der Rüstungskonzern, der um die Aufmerksamkeit des Verteidigungsministers ringt und auf Lobbyisten zurückgreift, stößt uns besonders auf. Das Problem ist allerdings komplexer, als die massenmediale Aufbereitung der Hunziger-Affäre suggeriert. In der Diskussion um die Vernetzung von Politik und gesellschaftlichen Akteuren spielen neben den Konzernen und ihren Unternehmensverbänden auch Gewerkschaften, Nichtregierungsorganisationen und Medien eine wichtige Rolle. Auch sie trachten danach, Entscheidungen in ihrem Sinne zu beeinflussen.


Der Druck dieser unterschiedlichsten Interessengruppen auf das politische System hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen:


- Von Seiten der Unternehmen, weil im Zuge der Globalisierung die Macht der Unternehmen steigt und die Macht der Politik sinkt. Unternehmen können mit der Drohung der Verlagerung eigener Aktivitäten in ein anderes Land die Regierungen in einen Wettbewerb der niedrigsten sozialen und ökologischen Standards zwingen. Die Politik wird in die Rolle des Verteidigers der eigenen Wirtschaft gezwungen. Dabei sind es neben den Unternehmensverbänden vermehrt auch einzelne Unternehmen, die den unmittelbaren politischen Einfluss suchen.


- Von Seiten der Nichtregierungsorganisationen, weil die zunehmende Pluralisierung von Wertvorstellungen, Zielen, Lebensentwürfen und Bedürfnissen zu einer Krise der Repräsentation führt. Parteien müssen Interessen filtern und bündeln, was bei der wachsenden Individualisierung und Pluralisierung zu vermehrtem Frust bei den Bürgern führt, die ihre jeweiligen Interessen in dieser Filterung und Bündelung nicht mehr wiederfinden. Sie organisieren sich und ringen - wie etwa Greenpeace, Amnesty International oder Attac - um die Durchsetzung ihrer Interessen außerhalb des Parteiensystems:


- Von Seiten der Gewerkschaften, weil sie noch zu stark an eine Vorstellung von Nationalstaat und Industriegesellschaft gebunden sind, die für die Lösung wirtschaftlicher und sozialer Probleme immer weniger tauglich ist. Eigene Verunsicherung wird durch besonders viel Lärm, Drohgebärden und Kompromisslosigkeit übertüncht.


- Von Seiten der Medien, weil diese einfach zu transportierende Informationen brauchen, die sich leicht zuspitzen lassen. Diese können allerdings kaum der tatsächlichen Komplexität gerecht werden. Zusätzlich schafft die wachsende Bündelung in und von Medienkonzernen ihrerseits neue Formen von Abhängigkeit zur Wirtschaft.

Finden die "Info-Eliten" den Hunzinger gut?

Die Interaktion dieser Akteure geschieht nicht im luftleeren Raum. Regeln beeinflussen entscheidend die Art und Weise, wie in unserer Gesellschaft politische Macht ausgeübt und in Entscheidungen transformiert wird. Es stellt sich daher die Frage, welche Regeln im 21. Jahrhundert beim Spiel der Interessen gelten müssen. Besondere Beachtung muss dabei der zunehmend entfremdeten Beziehung zwischen den Menschen im Land und den tagtäglich in Berlin zu beobachtenden Seilschaften und Vernetzungen aus Politikern, Journalisten und Lobbyisten geschenkt werden.


Hunzinger verwies darauf, dass die "Info-Eliten" durchaus Verständnis für die Arbeitsweise seines Unternehmens hätten. Solche Äußerungen verstärken in der Bevölkerung die Vorstellung, dass manche Interessen über einen besonders wirksamen, aber vor der Öffentlichkeit verborgenen Zugang zur politischen Macht verfügen. Auf diese Weise gerät die Legitimität des politischen Systems in Gefahr, denn der Einfluss der Partikularinteressen auf die Politik erscheint weder demokratisch tragfähig, noch besonders balanciert und chancengleich organisiert.

Empörung als politische Strategie

Dass Partikularinteressen sich durchsetzen wollen, ist in einer Demokratie legitim, dass sie dies ungebremst unter Umgehung politischer Diskurse tun wollen, ist schädlich. Unterschiedliche Interessengruppen nutzen dabei unterschiedliche Formen der politischen Beeinflussung. Die wirtschaftlichen Akteure erzeugen ihren Druck in Hinterzimmergesprächen, abseits von politischer Öffentlichkeit. Sie erzeugen diesen Druck durch Gefälligkeiten für Parteien und Vertreter von Parteien, oder indem sie mit der Verlagerung von Arbeitsplätzen ins Ausland drohen. Dass dies vielfach in Form mehr oder weniger verbrämter pekuniärer Vorteile geschieht, ist das Gefährliche. Die Nichtregierungsorganisationen suchen die Mobilisierung der Medien und die Empörung der Öffentlichkeit. Hier wie dort ist das strategische Kalkül, die eigenen Interessen unmittelbar in politische Entscheidungen einfließen zu lassen. Wenn hier Positionen mit beinahe fundamentalistischem Pathos und erhobenem Zeigefinger vertreten werden, ist dies gefährlich. Die Gewerkschaften nutzen das politische Hinterzimmer ebenso wie die Straße. Auch die Beeinflussung mittels Geld ist ihnen nicht fremd: In den Vereinigten Staaten gehören die Gewerkschaften zu den größten Parteispendern. Besonders problematisch wird es, wenn Vertreter dieser Interessengruppen selbst im Parlament sitzen und Politik machen. In Italien lässt sich beobachten, was geschieht, wenn eine der Interessengruppen sogar regieren darf: Berlusconi vertritt nicht nur die politische Macht im Lande, er ist zugleich der größte Unternehmer. Er schneidet Gesetze auf seine privaten Interessen zu. Da er gleichzeitig die überwiegende Mehrheit der privaten Medien und die staatlichen Medien in der Hand hat, wird die transparente Darstellung der politischen Entscheidungen und die Mobilisierung öffentlicher Empörung mindestens erschwert.


Faire Regeln und allgemein verbindliche Prozesse sind im Spiel der Interessen nötig, bei denen nicht die Finanzkraft oder die Fähigkeit zur Mobilisierung der Straße die Einflussmöglichkeiten und Macht definiert, sondern die Glaubwürdigkeit der Argumente. Die Spielregeln müssen so beschaffen sein, dass alle Interessen faire Durchsetzungschancen haben und es nicht zu einem Interessenkartell der Eliten kommt. Die Legitimität eines Anspruchs, die Gewichtigkeit eines Argumentes, die Dringlichkeit eines Bedürfnisses und die Ernsthaftigkeit einer Befürchtung (wie diffus sie auch immer sein mag) dürfen nicht an der finanziellen Macht der Interessengruppe gemessen werden.

Je kontroverser, desto besser

Zukünftig wird das politische System stärker dafür sorgen müssen, dass diese lobbyistischen Einflüsse diskursiv gebremst und transparent gemacht werden. Es ist das Recht aller Interessengruppen, diejenigen Themen auf die Tagesordnung zu setzen, die sie bedrücken. Es kann nicht die systematische Aufgabe des politischen Systems sein, sich die eigenen Themen selbst zu suchen. Dies käme einer Entmündigung des Bürgers gleich. Agenda Setting bleibt in der Verantwortung der pluralistisch aufgefächerten Gesellschaft. Allerdings muss die zunehmende Manipulation von politischen Entscheidungsträgern durch die Schaffung öffentlicher Foren entschärft werden. Diese Foren müssen dem parlamentarischen System vorgelagert sein und mit diesem verknüpft werden, dürfen es aber nicht ersetzen. Das politische System muss dazu ein entsprechendes Arena Setting betreiben. Ein erster Schritt wäre die Förderung der zum Teil sehr kontroversen Diskussionen unter den verschiedenen zivilgesellschaftlichen und wirtschaftlichen Akteuren (ein Beispiel ist die jüngste Debatte um die Grenzen der Gentechnologie), um mehr Transparenz zu schaffen und die unterschiedlichen Diskussionen stärker zu vernetzen.

Womit die Hunzingers leben müssten

Der Rat für Nachhaltige Entwicklung, der Ethikrat und das Bündnis für Arbeit sind kleine Ansätze. Die noch stärkere physische Präsenz der Politiker in diesen öffentlichen Debatten ist ein weiteres notwendiges Element der Verknüpfung von politischer Öffentlichkeit und politischem System. Das politische System muss durch die Definition von Akteuren, Räumen, Zeitpunkten und Moderationen von Diskursen versuchen, ein level playing field der politischen Öffentlichkeit zu errichten. Maßstab sollte gesellschaftliche Ausgewogenheit sein. Durch die finanzielle Förderung von Podiumsdiskussionen, öffentlichen Veranstaltungen und anderer Formen der öffentlichen Diskussion zwischen unterschiedlichen Interessengruppen wird das Risiko reduziert, dass allein Geld den Weg zur Aufmerksamkeit der Politiker ebnet. Die Hunzingers dieser Welt müssten dann allerdings damit leben, dass ihre Hinterzimmergespräche stärker von den Scheinwerfern der Medien ausgeleuchtet werden.

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