Mit Netz und doppeltem Boden

Die Deutsche Bahn will samt Schienennetz an die Börse gehen, obgleich Experten vor den finanziellen und juristischen Risiken dieses Schrittes warnen: Warum sich der Bund nicht von seiner Verantwortung für die Verkehrsinfrastruktur verabschieden darf

Beim Thema Börsengang der Bahn prallen die Wogen aufeinander. Dabei geht es vor allem um die Frage, ob die Bahn samt Schienennetz an die Börse zieht. Die Befürworter sammeln sich um die Deutsche Bahn (DB), viele Verkehrs- und Haushaltspolitiker, Wissenschaftler und Ländervertreter hingegen kritisieren das Konzept. Es ist politisch überlebenswichtig, diese Auseinandersetzung sachlich zu führen und alle Konsequenzen zu bedenken. Schließlich muss der Bundestag eine langfristige und endgültige Entscheidung treffen.

Im Zentrum der Debatte stehen, vereinfacht gesagt, vier verschiedene Modelle:

  • Beim integrierten Modell gehen alle Sparten der DB-Holding an die Börse, auch die Netzsparte.
  • Beim Eigentumsmodell verbleibt die Infrastruktur im Besitz des Bundes, doch in einer von zwei Varianten dieses Modells ist die Bahn für sie verantwortlich.
  • Beim Finanzholdingmodell gehört die Infrastruktur ebenfalls dem Bund, die Holding nimmt jedoch vermögensverwaltende Aufgaben wahr.
  • Das Trennungsmodell unterscheidet strickt zwischen dem börsennotierten Unternehmen und der bundeseigenen Infrastruktur.

Bei den ersten drei Modellen ist der Bund gesetzlich verpflichtet, mindestens 50,1 Prozent der Aktienanteile zu behalten, beim Trennungsmodell hingegen können die Betriebsgesellschaften zu 100 Prozent privatisiert werden.

Vor allem die DB selbst ist für das integrierte Modell. Kein Wunder, dann müsste die Unternehmensstruktur kaum geändert werden, und als Eigentümerin einer riesigen Infrastruktur und zahlreicher Immobilien könnte sie beste Konditionen auf dem Kapitalmarkt erhalten. Dies würde eine weltweite Expansionsstrategie ermöglichen, wie sie sich im Bahnvorstand gelegentlich schon andeutet.

Haushaltspolitiker und andere Skeptiker hingegen befürchten eine permanente Verpflichtung des Bundes, Geld nachzuschießen, um bei Zukäufen nicht unter den gesetzlich vorgegebenen Aktienanteil von 50,1 Prozent zu gelangen. Zudem rechnen viele mit mageren Einnahmen aus den Aktienerlösen und den Aktienanteilen. Der Berliner Finanzsenator Thilo Sarrazin etwa schätzt den Verkaufserlös auf gerade mal 5 bis 8 Milliarden Euro – aber mit hohen Abschlägen, sollte es zu politisch bedingten Auflagen für die Investoren kommen.

Skepsis gegenüber der Bahnwirtschaft

Woher kommt diese Skepsis gegenüber der Wirtschaftsweise der Bahn? Blicken wir zurück: Im Jahr 1991 schlug die „Regierungskommission Bahn“ eine Neuordnung der Bundesbahn und der (ost-) Deutschen Reichsbahn vor. So sollte verhindert werden, dass die beiden deutschen Bahnen sich weiter verschulden. Mit der ersten Stufe der Bahnreform folgte eine Entschuldung der Bahnen um 34 Milliarden Euro und eine Abwertung des Anlagevermögens auf ein Viertel. Damit herrschten gute Voraussetzungen für den Start der nun „wiedervereinigten“ Deutschen Bahn AG am 1. Januar 1994. Das Eigenkapital betrug damals 5,9 Milliarden Euro, die Bilanzsumme belief sich auf 15,8 Milliarden. Fünf Jahre später folgte die zweite Reformstufe. Die DB wurde weiter entflochten und zu einer Holding aus fünf einzelnen Aktiengesellschaften, darunter die DB Netz AG, die für das Bahnnetz zuständig ist.

Im Jahr 1994 betrug der Schuldenberg der DB AG rund 6,4 Milliarden Euro. Zwischen 1999 und 2004 verdreifachte sich die zinspflichtige Verschuldung. Bis 2003 stieg die Gesamtverschuldung auf 27 Milliarden Euro an und sank dann durch die Neuordnung der Bundesfinanzierung auf rund 25,5 Milliarden Euro. Hinzu kommen jedoch Anleihen für die Zukäufe der Logistikkonzerne Stinnes-Schenker (der Kaufpreis betrug 2,5 Milliarden Euro) und Global Bax (rund eine Milliarde Euro). In der Konzernbilanz 2005 beträgt das Eigenkapital nur noch 7,7 Milliarden Euro und umfasst damit gerade mal 16 Prozent der Konzernbilanzsumme von 47,1 Milliarden Euro.

Intensiv habe ich beide Anhörungen des Verkehrsausschusses des Bundestages zum Thema Börsengang der Bahn verfolgt. Wie auch die Financial Times Deutschland am 1. Juni süffisant berichtete, sprachen sich 27 der 28 geladenen Experten gegen das Integrationsmodell aus, erklärten sich als neutral oder befürworteten das Trennungsmodell.

Es droht der Verkehrskollaps

Nach Artikel 87e des Grundgesetzes gewährleistet der Bund aufgrund seiner Allgemeinwohlverpflichtung die Infrastruktur für einen (permanent ansteigenden) Verkehr. Die Infrastruktur muss in der Verantwortung des Staates bleiben – das war die Grundmaxime der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Damit brachten sie zum Ausdruck: Es handelt sich bei der Entwicklung der Infrastruktur um strategische Entscheidungen für die Zukunft des gesamten Landes. Niemand käme doch auf die Idee, der Lufthansa die noch im Bundesbesitz befindlichen Flughäfen oder der Deutschen Post World Net das Straßennetz per Gesetz zu übertragen, obwohl beide Unternehmen erfolgreiche Weltkonzerne aus ehemaligem Staatsbesitz sind.

Die Bundesregierung hat in den vergangenen acht Jahren darauf hingewirkt, dass der wachsende Verkehr stärker auf die Schiene verlagert werden könnte. Die zurückhaltenden Prognosen des Verkehrsberichts 2000 gingen von einem Güterverkehrswachstum von 64 Prozent zwischen den Jahren 1997 und 2015 aus. Diese Prognosen scheinen deutlich übertroffen zu werden: Ohne Verlagerung auf die Schiene und den Ausbau der Infrastruktur droht der Verkehrskollaps.

Wettbewerb und Kundenorientierung

Um dem entgegenzuwirken, hat Deutschland zum Beispiel das Mautsystem für Schwerlastverkehre eingeführt. Eine Erhöhung des Schienenanteils am Güterverkehr, wie mit der DB AG aus ökologischen und ökonomischen Gründen vereinbart, kam jedoch in den vergangenen Jahren nicht zustande. Der deutsche Güterverkehr wird sich deshalb nach wie vor auf den Autobahnen abspielen.

Dabei zeigen die Regionalisierungsmittel, dass die staatliche Verantwortung gut funktioniert und gemeinhin akzeptiert wird, zumindest im Bereich des Schienenpersonenverkehrs. Der Wettbewerb hat dazu geführt, dass aus den jährlichen Regionalisierungsmitteln in Höhe von ungefähr 7 Milliarden Euro mehr Verkehrsleistung generiert wurde. Über zehn Jahre nach der Bahnreform werden immerhin rund 17 Prozent der Schienenkilometer ausgeschrieben, die aber nur 6 Prozent der gesamten Leistung im Schienenverkehr ausmachen. Wettbewerb schafft vor allem Anreize für innovative Systeme, die dann, etwa mithilfe einer starken Kundenorientierung, auch im regionalisierten Personenverkehr mehr Menschen in die Züge bringen. Eine zweite, noch größere Herausforderung ist die Bewältigung des Güterverkehrs. Nur in einem innovativen Wettbewerb besteht hier die Chance, mit größerer Effizienz und kreativer Flexibilisierung dem Lkw-Verkehr Paroli zu bieten.

Beim Thema Privatisierung der Bahn wird das britische Modell oft als Horrorszenario karikiert. Dieses Modell sollte man einmal genauer betrachten. Die Briten hatten mit der Bahn zunächst auch das Netz mit privatisiert, diesen Geburtsfehler im Jahr 2002 aber wieder zurückgenommen. Seitdem das Netz in neutraler gesellschaftlicher Verantwortung liegt, ist es eine Erfolgsstory. Von 1994 bis 2004 stieg der Güterverkehr in Großbritannien um mehr als die Hälfte und der Marktanteil im Vergleich zur Straße von 8,5 Prozent auf 11,5 Prozent. Mit der Privatisierung des Schienennetzes würde Deutschland diesen britischen Fehler wiederholen.

Hierzulande steht es schlechter um die Schiene. In Deutschland stieg der Personenenverkehr auf der Schiene zwischen 1995 und 2002 nur um ein Prozent an, in Großbritannien hingegen um 32 Prozent. Nicht zuletzt deshalb gibt es in Europa einen zunehmenden Trend zur Trennung von Netz und Betrieb, etwa in den Niederlanden und in Schweden. Zuletzt hat die neue italienische Mitte-Links-Regierung die Trennung angekündigt. Auch das so genannte PRIMON-Gutachten in Vorbereitung auf den Börsengang der Bahn kommt zu dem Ergebnis, dass das Trennungsmodell zumindest beim Schienengüterverkehr zu einer deutlichen Verbesserung führen wird.

Der Bund muss also einen maßgeblichen Einfluss auf die Netzgesellschaft behalten und sich die vollständige Bestimmungsbefugnis über das Netz zurückholen können, wie es der Absatz 3 des Artikels 87e GG vorsieht. Sollte das Integrationsmodell gewählt werden, besteht das Risiko, das das Bundesverfassungsgericht die Privatisierung der Bahn stoppt, etwa auf Antrag einer Landesregierung.

Insider aus der Finanzszene sagen, bei einem Rückkauf des Netzes durch den Bund müsse mit ungeheuren Zuschlägen gerechnet werden. Weil die privaten Eigentümer des Netzanteils dann am längeren Hebel säßen, spielt das finanzielle Risiko eines möglichen Rückkaufs auch in den politischen Diskussionen in Berlin eine zunehmende Rolle. Beim Integrationsmodell bliebe der Bund Mehrheitseigentümer und hätte im Falle einer Unternehmenskrise eine politische Verantwortung zu übernehmen, die weit über die grundgesetzliche Infrastrukturverantwortung hinausginge! Das integrierte Modell wird die Veräußerung der Schieneninfrastruktur praktisch irreversibel verankern.

Mehr Angebote auf der Schiene

Dabei scheint die Ankündigung des Bahnvorstands, dass es keine Stilllegungen von Bahnabschnitten geben wird, nicht plausibel. Denn das Interesse der Finanzinvestoren wird sich vor allem auf die wirtschaftlichen Strecken konzentrieren. Gerade Erfahrungen in Norddeutschland haben aber gezeigt: Streckenabschnitte, die von der Stillegung bedroht sind, können mit innovativen Konzepten von Mitwettbewerbern langfristig erfolgreich betrieben werden und sogar zur Ausweitung von Verkehrsangeboten auf der Schiene führen.

Der Bund hat sich verpflichtet, in den kommenden zehn Jahren jährlich 2,5 Milliarden Euro in die Schieneninfrastruktur zu investieren. Als Bundesverkehrsminister konnte ich in der Vergangenheit dazu beitragen, dass die Zuschüsse des Bundes für das Netz Rekordhöhen zwischen 4,6 Milliarden (2001) und 4,4 Milliarden Euro (2003) erreichten. Nicht selten musste die DB AG Infrastrukturmittel zurückgeben, weil sie die Mittel nicht verwenden konnte; selbst im Jahr 2005 rief die DB AG allein aus den Mautmitteln über 600 Millionen Euro nicht ab.

Der Schieneninfrastruktur wird ein Wert von einer knapp dreistelligen Milliardensumme zugerechnet, nicht zuletzt, da dem Schienennetz seit dem Jahr 1994 über 184 Milliarden Euro zugeflossen sind, die sich laut Expertenangaben zum überwiegenden Teil auch in den DB-Konzernbilanzen als Umsatz, zinslose Kredite oder Sondermittel niederschlugen. Es geht also um enorme Werte, die deutsche Steuerzahler aufgebracht haben.

An dieser Stelle sollte ein Blick auf die Interessen der Beteiligten geworfen werden: Beginnen wir mit den Arbeitnehmerinteressen, die sich sehr heterogen artikulieren. Die Bahngewerkschaft Transnet zum Beispiel befürwortet formal die integrierte Lösung, viele Betriebsräte lehnen den Börsengang hingegen ganz ab. Sie haben Angst vor einer globalen Neuausrichtung des privatisierten Konzerns. Gewerkschafter und Betriebsräte bei anderen Wettbewerbern befürworten ein Modell, das den diskriminierungsfreien Zugang mittels eines neutralen Netzes gewährleistet. Wie die meisten Experten sehen sie ein ausgesprochen hohes Diskriminierungspotenzial in der integrierten Lösung.

Die Aufgabenträger, überwiegend Zweckverbände der Kommunen, teilweise auch der Länder, befürchten durch das Integrationsmodell eine Behinderung des Wettbewerbs. Der Wettbewerb führt im Öffentlichen Personennahverkehr immerhin zu geringeren Aufwendungen in Höhe von rund 20 Prozent, also zu mehr Nahverkehr für das gleiche Geld. Gleichzeitig befürchten sie Streckenstilllegungen in der Fläche, wenn der Netzzustand sich weiter so rapide verschlechtert und im Konzern aufgrund von Investoreninteressen andere Handlungsprioritäten gesetzt würden. Investoren erwarten eine Rendite nach Steuern von mindestens 8 Prozent. Bei einer realen Bewertung des Infrastrukturwerts wäre das ausgeschlossen. Die derzeitigen Auseinandersetzungen über die Zuordnung von Schulden und Immobilien liefern einen schalen Vorgeschmack auf dieses Szenario.

Wir brauchen ein neutrales Netz

Welches der Modelle für den Börsengang der Bahn ist also realisierbar? Wir brauchen ein neutrales Netz mit Infrastruktur, das sich finanziell aus Trasseneinnahmen speist, die jährlich immerhin 3,8 Milliarden Euro betragen. Es sollte verwaltet werden von der existierenden Verkehrsinfrastrukturfinanzierungsgesellschaft, die schon heute Mautmittel in Höhe von 2,6 Milliarden Euro umsetzt, davon derzeit rund 900 Millionen Euro für die Schiene. Betreuen sollten das Schienennetz die exzellenten Fachleute, die auch jetzt die Verantwortung für das Netz tragen. Voraussetzung dafür ist allerdings die gerechte Zuordnung der Schulden und Immobilien. Die Deutsche Verkehrs-Zeitung vom 15. Juli 2006 brachte es auf den Punkt: „Wenn Immobilienbesitz in Milliardenwerten allerdings bei der Infrastruktur verbucht wird anstatt bei der Holding, könnte sich diese Belastung [der zugeordneten Schulden] ganz anders darstellen!“

In der aktuellen Debatte um die Struktur des Börsenganges geht es also nicht um die Zerschlagung der Bahn, sondern es geht um eine Grundsatzentscheidung der Politik über die Bewältigung der ungeheuren Herausforderungen der Zukunft und der Abwendung eines kontinentalen Verkehrskollapses. Die Europäische Union setzt gegenwärtig das „dritte Eisenbahnpaket“ in die Tat um, das Maßnahmen zur Neubelebung des Schienenverkehrs in Europa enthält. In dem dazugehörigen Dokument werden getrennte Modelle präferiert. Auch in den Expertenanhörungen wurde sehr deutlich, dass innerhalb der Europäischen Union das Integrationsmodell angezweifelt wird.

Wovon sich der Bund nicht verabschieden darf

Zu den Gesetzmäßigkeiten einer Großen Koalition gehört, dass Entscheidungen im kleinsten Kreis gefällt werden. Doch der Koalitionsvertrag sieht ausdrücklich die Einbeziehung der Fachpolitiker vor, die sich parteiübergreifend mindestens für das Eigentumsmodell, keinesfalls jedoch für das Integrationsmodell ausgesprochen haben.

Die Abgeordneten des Deutschen Bundestages stehen vor der verantwortvollen Aufgabe, die Weiterentwicklung der Deutsche Bahn AG zu ermöglichen, ohne die eigene Verantwortung für Verkehrs- und Finanzpolitik zu negieren. Eine Regelung, die die Risiken bei der öffentlichen Hand belässt und den privaten Eigentümer mit „Netz und doppeltem Boden“ versorgt, dient nicht dem Allgemeinwohl. Dem Abschied des Bundes von einer öffentlichen Infrastrukturverantwortung durch Aushändigung des gesamten 34.000 Kilometer umfassenden Schienennetzes an private Eigentümer werde ich meine Zustimmung nicht erteilen können.

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