Mitglieder wofür?
I. Kommunikationspartei
Die Parteien in den westlichen Demokratien befinden sich in einer neuen Situation. Für die sozialdemokratischen Parteien in allen europäischen Ländern hat sich die gesellschaftliche und politische Umwelt, in der sie ihre Aufgaben erfüllen müssen, in längeren Entwicklungen, die sich beschleunigt und vertieft haben, in drei entscheidenden Hinsichten erheblich gewandelt:
1. Die Arbeiterklassen- und Unterschichtenmilieus mit ihrer nahezu automatischen Unterstützungsbereitschaft für die ihnen zugeordneten Linksparteien sind mittlerweile fast vollständig verschwunden. In den gegenwärtigen individualisierten Gesellschaften muss die atmosphärische Sympathie ebenso wie die Wahlunterstützung immer aufs neue durch zielgruppenorientierte und themenzentrierte Kommunikation fallweise erst hergestellt werden.
2. Nach den großen Ideologien sind nun auch die gesellschaftsumfassenden politischen Projekte aus der öffentlichen Debatte verschwunden. Es geht in der politischen Tagespraxis, aber ebenso in den mittelfristigen Handlungs-Perspektiven, immer um einzelne Reformen. Die Motivation für die Unterstützung solcher Einzelprojekte, sei es bei den Wahlen, sei es in der öffentlichen Kommunikation, sei es beim Entstehen politischer Emotionen in der Alltagswelt, kann nicht mehr aus einer immer schon gegebenen Loyalität für übergreifende Ideologien abgerufen werden. Sie muss von Fall zu Fall durch attraktive Politiken, Symbole, Persönlichkeiten, Bilder und Argumente immer wieder neu "hergestellt" werden. Fallbezogene Kommunikation tritt an die Stelle verlässlicher übergreifender Orientierung.
3. In den Mediendemokratien der Gegenwart folgt die öffentliche Massenkommunikation ihren eigenen Regeln, die niemand ignorieren kann, der überhaupt noch öffentlich wirksam kommunizieren will. Diese Regeln zu beherrschen heißt nicht, sich ihnen blindlings zu unterwerfen, aber doch sie zu beherzigen und genau zu kennen, um sie in Dienst nehmen zu können. Gleichzeitig darf nicht übersehen werden, dass nicht die ganze Gesellschaft in allen Arenen von der Kommunikationsweise der Massenmedien geprägt ist. In Alltagswelt und Zivilgesellschaft folgen vielmehr diejenigen, die sich über politische Sachverhalte, Forderungen und Absichten verständigen, auch den dialogischen und argumentativen Kommunikationsmustern des Gesprächs unter Anwesenden.
Die Folgerung aus dieser ersten These lautet: Sozialdemokratische Parteien müssen sich zu kompetenten Kommunikationsparteien wandeln.
II. Differenzierte Kommunikationsweise
Im Gegensatz zu einer weithin herrschenden Annahme ist die prägende politische Kommunikationsform auch in der Mediendemokratie nicht uniform. Die Öffentlichkeit ist in ihren Kommunikationsgewohnheiten, -modalitäten und -anforderungen vielmehr auf politisch folgenreiche Weise gespalten. Die runden zwei Drittel derer, für die politische Kommunikation nahezu ausschließlich im Konsum von Fernsehbotschaften besteht, bilden ihre Meinung und ihre Wahlneigung unter dem Eindruck dieser Fernsehbotschaften allein aus. Das verbleibende Drittel der politisch stärker Interessierten und Informierten hingegen sucht genauere Informationen und den Dialog unter Anwesenden, möglichst auch anwesenden Politikern, um sich in Widerspruch und Nachfrage, Argument und Gegenargument eine Meinung zu bilden, die dann auch ihr Wahlverhalten bestimmt. Wechselwähler, die für die Sozialdemokratie erreichbar sind, sind in beiden Lagern zu finden, aber eben nicht auf dieselbe Weise zu erreichen.
Schlussfolgerung aus dieser These: Massenmedienbezogene Werbe- und Kommunikationskampagnen reichen für die Mehrheitsbildung nicht aus. Sozialdemokratische Parteien müssen daher eine zweiteilige Kommunikationsstrategie entwickeln und konsequent durchhalten: erstens, eine medienorientierte Strategie für die politisch passive Mehrheit und, zweitens, eine soziale Dialog-Strategie mittels Foren direkter Kommunikation unter Anwesenden in den Lebenswelten und der Zivilgesellschaft für die politisch Interessierten und Engagierten.
Da die beiden Zielgruppen einander überlappen und die Medien das gesamte Kommunikationsspektrum beobachten, müssen beide Strategien miteinander glaubwürdig verbunden und aufeinander bezogen sein.
Für eine solche zweiteilige Strategie sind kompetente und motivierte Parteimitglieder in großer Zahl unverzichtbar. Das ist einer der Gründe, warum auch in der modernen Mediendemokratie sozialdemokratische Parteien Aktiv-Mitgliederparteien sein müssen, wenn sie erfolgreich sein wollen. Die Kommunikation unter Anwesenden in sozialen Dialogformen kann nur von aktiven Parteimitgliedern organisiert und bestritten - und wo sie sich spontan ergibt, überzeugend durchgefochten werden. Parteimitglieder sind das Verbindungsglied zwischen der Zivilgesellschaft und der Parteiorganisation im politischen System und haben daher Aufgaben und Funktionen nach beiden Seiten, gegenüber dem Zentrum der Parteien im politischen System und gegenüber der Zivilgesellschaft. Nur sie können die drei auch für die Demokratie in der Mediengesellschaft unverzichtbaren Funktionen erfüllen, durch die die Gesellschaft mit dem politischen System auf eine offene und produktive Weise verbunden wird:
Folgerung aus dieser These:
Ohne ein breites Spektrum von kompetenten Aktivmitgliedern wird die Sozialdemokratie weder in der Lage sein, ihr Unterstützungsspektrum zu mobilisieren, noch auf eine stabile und glaubwürdige Weise die Verbindung zur gesellschaftlichen Entwicklung und Innovation wahren können.
III. Anspruch und Wirklichkeit
Es gehört heute und künftig zu den Markenzeichen der Sozialdemokratie, dass sie für bestimmte politische Grundideen einsteht. Dazu gehören vor allem die Ideen der sozialen Gerechtigkeit und der sozialen Demokratie. Diese Grundideen sind, unabhängig von den überwölbenden Ideologien, in die sie in den verschiedenen historischen Entwicklungsabschnitten der Sozialdemokratie jeweils eingebettet waren, weiterhin notwendig. Die Treue zu ihnen ist für die Glaubwürdigkeit der Partei und für die Legitimation ihrer einzelnen Reformpolitiken von maßgeblicher Bedeutung. Sie sind, solange die Partei sie nicht aufs Spiel setzt, für ihren politischen Erfolg ein Schatz und nicht etwa eine Last.
Die Sozialdemokratie muss daher demokratische Teilhabe in der Gesellschaft, wo immer sie angebracht ist und eingefordert wird, fördern und stützen. Dazu gehört zuallererst, dass sie ihre eigene Parteistruktur als ein großes zivilgesellschaftliches Forum für sinnvolle Beteiligung der Bürgerinnen und Bürger in den politischen Prozessen organisiert. Dazu gehört darüber hinaus, dass sie die verschiedenen lokalen und regionalen Parteiorganisationen und deren Aktivmitglieder befähigt, als Forum und Faktor der gesellschaftlichen Demokratie in der Zivilgesellschaft selbst zu wirken.
Sozialdemokratische Parteien müssen daher ihre Mitgliedschaft und deren Entscheidungsbeteiligung so organisieren, dass sie gleichzeitig als Initiativen innerhalb der Zivilgesellschaft und als Brücken zwischen Zivilgesellschaft und politischem System wirksam werden können. Um in der veränderten Situation beide Funktionen glaubwürdig und wirksam zu erfüllen, bedarf es weit reichender und nachhaltiger Reformen der Arbeitsweise, des gesellschaftlichen Selbstverständnisses und der Mitgliederaktivierung der Partei.
IV. Europäische Erfahrungen
In einigen europäischen Ländern haben die sozialdemokratischen Parteien mit innovativen Projekten neue Erfahrungen in Bezug darauf gemacht, wie Mitglieder gehalten, neu gewonnen und aktiviert werden können.
Die niederländische Partei von der Arbeit hat zwischen 1985 und heute die Hälfte ihrer Mitglieder verloren (von 120 000 auf 60 000). Um einen weiteren Rückgang zu vermeiden, die verbliebenen Mitglieder zu aktivieren und neue hinzu zu gewinnen, wurden unter anderem zwei Kampagnen durchgeführt:
Erstens, eine Telefonkampagne, um Mitglieder, die im Begriff waren, die Partei zu verlassen, umzustimmen. Nahezu alle Parteimitglieder, deren Austrittsabsichten bekundet waren, wurden auf diesem Wege erreicht.
Zweitens, eine Kampagne zum Hinzugewinnen neuer Mitglieder konzentrierte sich vor allem auf die folgenden vier Projekte:
- Intensive Gespräche mit Menschen in der Nachbarschaft aktiver Parteimitglieder, um diese zum Beitritt zur Partei zu bewegen.
- Spezielle Themenkonferenzen auf regionaler Ebene, auf denen Mitglieder und Nichtmitglieder gemeinsam wichtige regionalpolitische Fragen handlungsorientiert erörtern konnten.
- Brief an Personen, die in Meinungsbefragungen Nähe zu den Zielen der Partei bekundet hatten.
- "Wissenszirkel" wurden eingerichtet, in denen in Arbeitsgruppen, Konferenzen und Diskussionsrunden Mitglieder und Nichtmitglieder gemeinsam themenorientiert arbeiten. Einige dieser Wissenszirkel haben Antragsrecht auf Parteikonferenzen.
Zudem wurde das Training der aktiven Parteimitglieder erheblich intensiviert, um konzeptionell und kommunikativ für die Erfüllung der selbstgestellten Aufgaben besser gerüstet zu sein.
In der Diskussion befindet sich das Projekt einer unabhängigen Parteipresse, die speziell mit Fragen befasst sein soll, die die Mitglieder und Sympatisanten im besonderen Maße interessieren.
Der PvdA ist es mit diesem Maßnahmenbündel immerhin gelungen, den Mitgliederrückgang seit einigen Jahren zu stoppen.
Die französische Sozialistische Partei hat im Verlauf der letzten zehn Jahre einen Mitgliederrückgang von 350 000 auf gegenwärtig 100 000 verkraften müssen. Sie war immer eine mitgliederschwache Partei mit Schwerpunkt in den neuen Mittelschichten, den Lehrerberufen und der Angestellten- und Beamtenschaft des öffentlichen Dienstes. Seit 1996 wurden einige Projekte realisiert, um den Mitgliederschwund zu stoppen und die vorhandenen Mitglieder aktiver in das Parteileben einzubinden.
Dazu gehörte vor allem die parteiinterne Urwahl des Präsidentschaftskandidaten 1996 und des Parteivorsitzenden. Dazu gehört auch die Organisation und systematische Durchführung einer Reihe von themenorientierten Diskursen zur programmatischen Neuorientierung. Konferenzen zu speziellen Themen (Sozialstaat, Wirtschaftsreform, Bildungsreform) wurden auf regionaler und nationaler Ebene durchgeführt. Sie fanden in den Qualitätszeitungen des Landes intensiven Widerhall, der sich auf die thematischen Alternativen und Politikprojekte bezog und keineswegs in erster Linie, wie sonst üblich, der Konkurrenz von Persönlichkeiten oder der Darstellung von Querelen gewidmet war.
Die Parteikonferenzen wurden nach diesen inhaltlichen Politikdiskussionen durchgeführt. Der Parteivorsitzende Jospin befleißigt sich auf demonstrative und doch zugleich inhaltlich nachprüfbare Weise eines Stils des Zuhörens, Zusammenfassens und Akzentsetzens, so dass die Ergebnisse der politisch-thematischen Diskurse sichtbar und wirkungsvoll in die Formulierung und Umsetzung der Politikprojekte der Regierung einfließen. Der Partei ist es im Verlauf der letzten Jahre auf diesem Wege gelungen, Mitglieder hinzu zu gewinnen.
V. Das SPD-Reformprojekt
Der SPD-Generalsekretär Franz Müntefering hat im Frühsommer 2000 ein weit reichendes Parteireformprojekt gestartet. Es soll im Verlaufe der kommenden Jahre zügig und konsequent umgesetzt werden. Die Hauptelemente sind:
Fasst man die Erfahrungen der anderen europäischen Parteien und die Grundgedanken des SPD-Reformprojekts zusammen, so ergeben sich fünf Leitlinien für den Aufbau einer aktiven Mitgliederpartei:
VI. Die Aktiv-Mitglieder-Partei der Zukunft
Um die neuen Funktionen verlässlich zu erfüllen, bedarf es der Neuschaffung der sozialdemokratischen Partei als Aktiv-Mitgliederpartei. Die beiden wichtigsten Reformen auf dem Wege zu diesem Ziel sind:
Erstens, Befähigung der Mitglieder zur Erfüllung dieser Aufgaben durch maßgeschneiderte Trainingsprogramme auf den Gebieten der Kommunikation und Organisation.
Zweitens, trotz der unbestreitbaren Notwendigkeit eines gewissen Maßes an kommunikativer Flexibilität der Parteispitzen in der Mediendemokratie muss das Band zwischen dem, was sie vorschlagen und tun, und dem, was die Mitglieder beschließen und wollen, jederzeit argumentativ und symbolisch deutlich erkennbar sein. Wenn es reißt, wird die Zahl der Mitglieder, die ihre unabdingbare Aufgabe als Kommunikationsrepräsentanten der Partei und der Zivilgesellschaft erfüllen, vermindert.
Auf der anderen Seite muss auch klar sein, dass in den echtzeitfixierten Mediengesellschaften der Gegenwart Änderungen und Korrekturen an politischen Strategien im Lichte der öffentlichen Kommunikation jederzeit notwendig werden können, über die nicht erst in monate- oder jahrelangen Beschlussverfahren der Partei entschieden werden kann. Ein neuartiges Wechselverhältnis von Vertrauen in die gemeinsame Grundorientierung, Ernstnehmen der Willensbildung in der Partei und erweiterten Spielräumen für die Strategie der Entscheidungsspitzen der Partei im Lichte der medialen Öffentlichkeit muss sich herausbilden. An ihm muss der Natur der Sache nach dauernd gearbeitet werden und es muss insbesondere von den Parteispitzen, die die Spielräume der Flexibilität nutzen, als eine Bringschuld der Kommunikation verstanden und ernst genommen werden.
Schlussfolgerung: Ohne eine breite, motivierte und kompetente Mitgliedschaft kann eine sozialdemokratische Partei auch in der Mediendemokratie ihre Aufgaben nicht erfüllen. Wichtiger als eine maximale Zahl von Passivmitgliedern und das Vertrauen auf kommerzielle Medienwerbung ist dabei die optimale Zahl kommunikativ und organisatorisch kompetenter Aktivmitglieder. Die Partei der Zukunft wird also eine Partei der gut trainierten und unter andere auch darum hoch motivierten Aktivmitglieder sein.