Mittelmaß für teures Geld
Peter Schmidt --
Jahrzehntelang galt das deutsche Gesundheitssystem als eines der besten der Welt. Jetzt wissen wir es besser. Doch Vergeudung kann das Land sich nicht mehr leisten. Nötig ist mehr gesunder Wettbewerb - zum Wohle der Patienten
Unser Gesundheitswesen krankt an vielen Malaisen. Aber alle Symptome lassen sich auf wenige Ursachen zurückführen. Vor allem laboriert unser Gesundheitssystem an Überkapazitäten. Wir haben zu viele Krankenhausbetten, zu viele Ärzte und Zahnärzte und auch sonst zu viele Leistungserbringer. Das Überangebot an Kapazitäten bewirkt Qualitätsdefizite und den ineffizienten Einsatz von Ressourcen. Das bekannteste Beispiel ist die überlange Verweildauer der Patienten in den Krankenhäusern.Unbestritten bietet unser Gesundheitssystem medizinisch-technische Spitzenleistungen - zum Beispiel in der Transplantationsmedizin. An der Tagesordnung ist jedoch auch massive Über-, Unter- und Fehlversorgung. Überversorgung schadet den Patienten nicht, kostet aber viel Geld. Unter- und Fehlversorgung hingegen mindern die Lebensqualität der Patienten, können zum vorzeitigen Tod führen und verzehren mittel- und langfristig mehr Mittel als nötig. Das Problem tritt zumal bei den behandlungsintensiven und teuren chronischen Volkskrankheiten auf, etwa beim Diabetes mellitus und der coronaren Herzkrankheit. Das Problem trifft also breite Bevölkerungsschichten und hat gravierende finanzielle Auswirkungen. Unser Gesundheitswesen ist ein wild wuchernder Dschungel, in dem dringend Wegmarken angebracht werden müssen. Wir wissen, zwar sehr genau, wie viel Geld wir für Gesundheitsleistungen ausgeben - doch was wir mit diesen Mitteln erreichen, wissen wir viel zu wenig. Die Kosten erfassen wir vollständig, den Outcome nur ansatzweise. Deutschland muss auf dem Feld der Epidemiologie und der Ge-sundheitsökonomie seinen jetzigen Rückstand aufholen. Ein neues Datentransparenzgesetz wird noch in dieser Legislaturperiode die rechtlichen Voraussetzungen für ein modernes ergebnisorientiertes "Rapportsystem" in der gesetzlichen Krankenversicherung schaffen.Die heilige Kuh heißt TherapiefreiheitAllzu viele Leistungen in Diagnose und Therapie sind nicht an den aktuellen Erkenntnissen ausgerichtet. Statt dessen bieten Ärzte - unter Berufung auf die heilige Kuh der Therapiefreiheit - noch immer ein Sammelsurium von Behandlungen für dieselbe Krankheit an. Die Ärzteschaft wird lernen müssen, dass nicht ihr Anspruch auf "Therapiefreiheit" zählt, sondern allein die Forderung des Patienten, nach der Methode mit der besten Erfolgsaussicht behandelt zu werden. Deshalb muss auch in Deutschland auf breiter Front die evidenzbasierte Medizin heimisch werden. Den Weg hat die Gesundheitsreform 2000 gewiesen.Echte Märkte sehen anders ausDie Politik und die Akteure im Gesundheitswesen haben sich viel zu lange allein auf die Kostenseite konzentriert. Jahrzehntelang haben sich alle Beteiligten selbst und anderen vorgemacht, Deutschland habe eines der besten Gesundheitssysteme der Welt, das nur leider ständig mit Finanzierungsproblemen zu kämpfen habe. Jetzt wissen wir es besser: Wir haben zwar eines der teuersten Gesundheitswesen der Welt - bei den Kosten belegen wir den dritten Platz -, im Ergebnis aber erreichen wir nur einen mittleren Rang. Der Ertrag hält mit dem immensen Aufwand (im Jahr 2000 etwa 260 Milliarden Mark) nicht Schritt. Deshalb müssen die Politik und die Akteure im Gesundheitswesen, zuvörderst die Ärzte, eine Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsoffensive starten, um Defizite in Versorgung und Effizienz abzustellen. Wenn alle Ärzte durchgängig rational und wirtschaftlich behandeln, ist genug Geld vorhanden, um alle Patienten mit den nötigen Leistungen zu versorgen. Der Schlachtruf fast aller Leistungserbringer und der Oppositionsparteien, "mehr Geld ins System" zu bringen, war und ist falsch - wenn auch gut geeignet, von den eigentlichen Problemen abzulenken.Welchen Beitrag können Wettbewerbselemente dafür leisten, dass die skizzierten Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsprobleme im Gesundheitswesen gelöst werden? Die schematische Übertragung der Mechanismen, welche die "allgemeinen Märkte" regulieren, kommt von vornherein nicht in Betracht. In einem Gemeinwesen, das sich der Würde jedes Einzelnen und der Sozialstaatlichkeit verschrieben hat, scheidet der Preis als Kriterium zur Erlangung von Versorgungsleistungen aus. Der Zugang zu notwendigen Gesundheitsleistungen darf nicht vom Geldbeutel abhängen.In noch zwei Punkten unterscheidet sich der Gesundheitsmarkt von anderen Märkten. Zum einen tritt der kranke Mensch nicht - wie sonst im Marktgeschehen - als souveräner und autonomer Nachfrager auf. Kranke sind auf die Versorgung mit Gesundheitsgütern angewiesen, sie haben keine Alternative zur medizinischen Behandlung. Zum anderen ist der Gesundheitsmarkt vielfach durch eine extreme Asymmetrie der Information geprägt. Wenn Patienten überhaupt Entscheidungen treffen, sind diese zumeist durch die Wertungen und Vorschläge des Arztes determiniert. Deshalb wird die Nachfrage nach Gesundheitsleistungen weitestgehend vom Angebot an diesen Gütern bestimmt.Vorbeugender Bauchtanz aus FernostWettbewerb zwischen den Krankenkassen bedeutet bis jetzt Mitgliederwettbewerb. Der Produktwettbewerb, mit dem die Kassen sich am Markt profilieren könnten, hat nur marginale Bedeutung: Etwa 95 Prozent des Leistungsangebotes der Krankenkassen sind gesetzlich normiert. Eine eigenständige Produktpolitik können Krankenkassen daher nur bei den "Satzungsleistungen" (Kann-Leistungen), in Modellversuchen, mit Strukturverträgen und in Projekten der Integrationsversorgung betreiben. Der Wettbewerb um Satzungsleistungen spielt unter den Kassen aber keine große Rolle; Modellvor-haben, die daran etwas ändern sollen, führen noch immer ein Schattendasein. Unter dem betriebswirtschaftlichen Zwang, ein unverwechselbares Profil zu etablieren, haben sich fast alle Krankenkassen nach der Einführung des Krankenkassenwahlrechts auf das Gesundheitsmarketing gestürzt. Im Zentrum ihrer Aktivität stand dabei die Prävention - oder das, was als Prävention herhalten musste. Die Palette des Angebotes reichte von sinnvollen Maßnahmen wie Raucherentwöhnung und Rückenschule über fernöstliche Esoterik bis hin zu Schleuderkursen und Bauchtanz. Der das Wahlrecht flankierende Risikostrukturausgleich hat nicht verhindert, dass die Krankenkassen einen knallharten Wettbewerb um gesunde Mitglieder entfacht haben. Denn der aktuelle Risikostrukturausgleich erfasst die Morbidität anhand der Kriterien Alter, Ge-schlecht und Status als Erwerbs- oder Berufsunfähigkeitsrentner indirekt. Die zwangsläufig anfallenden Windfall-Profits haben zu einer gravierenden Risikoentmischung geführt. Teure Krankenkassen für Kranke und billige Krankenkassen für Gesunde höhlen das Solidarprinzip aus. Darum muss die Risikoentmischung gestoppt werden, wenn das System nicht destabilisiert werden soll.Auf der Strecke bleibt der WettbewerbAuf der Strecke geblieben ist aber bis heute der Wettbewerb, auf den es tatsächlich ankommt: der Wettbewerb um die beste Versorgung der kranken, vor allem der chronisch kranken Menschen. Aus betriebswirtschaftlichen Gründen kann es im Moment keine Krankenkasse wagen, flächendeckende Programme für chronisch Kranke aufzulegen. Sie erhielte für diese kurz- und mittelfristig besonders teuren Versicherten bloß die Normkosten-Gutschriften aus dem Risikostrukturausgleich, die deren Alter und Geschlecht entsprechen. Und sie müsste mit einem Zustrom neuer, chronisch kranker Mitglieder rechnen. Die Versorgung, die im Interesse der Patienten und des Gesamtsystems sinnvoll wäre, liefe für die Krankenkassen auf Harakiri hinaus. Die Anwerbung chronisch kranker Versicherter wird mit dem Untergang des Unternehmens Krankenkasse bestraft - widersinniger kann ein Modell zum Ausgleich unterschiedlicher Risikostrukturen nicht sein. Da das Überleben als Organisation oberstes Ziel (auch) jeder Krankenkasse sein muss, haben Strategien zugunsten chronisch Kranker keine reelle Chance, solange der Widerspruch zwischen makro- und mikroökonomischen Zielen nicht beseitigt ist. Das volkswirtschaftlich dringend gebotene Engagement für eine bessere Versorgung der Kranken muss sich für den einzelnen Betrieb auszahlen. Für Krankenkassen muss ein Anreiz bestehen, flächendeckende Maßnahmen zur Verbesserung der Versorgung chronisch Kranker aufzulegen. Der jetzige Risikostrukturausgleich verhindert strukturell, dass Krankenkassen solche Maßnahmen ergreifen. Damit bleiben die Kostenprobleme in der gesetzlichen Krankenversicherung ungelöst. Denn 20 Prozent der Versicherten verursachen 80 Prozent der Kosten, und das Gros der teuren Versicherten besteht aus chronisch Kranken. Experten sind deshalb der Überzeugung, dass auf Dauer kein Gesundheitssystem den Wettlauf gegen die Behandlungskosten gewinnen kann. Die einzige Chance, künftige Gesundheitskosten für die Bevölkerung bezahlbar zu halten, sehen sie darin, den Eintritt der chronischen Volkskrankheiten durch Prävention so weit wie irgend möglich hinauszuschieben. Welchen Beitrag kann Wettbewerb dabei leisten, Qualitäts- und Wirtschaftlichkeitsdefizite unseres Gesundheitswesens zu verringern? Wer diese Frage beantworten will, muss die jetzigen und die potentiellen Wettbewerbsfelder der Krankenkassen unter die Lupe nehmen. Welchen Wettbewerb die Krankenkassen betreiben können, hängt wiederum von Richtungsentscheidungen des Gesetzgebers ab, die bald getroffen werden sollten. Was ist zu tun? Versorgung für alle, so muss es bleibenDie Attraktivität unseres solidarisch finanzierten Gesundheitssystems besteht darin, dass es im Krankheitsfall sämtliche notwendigen Leistungen unabhängig vom Einkommen bereitstellt. Allen Versicherten steht der Zugang zu den notwendigen, angemessenen, zweckmäßigen und wirtschaftlichen Versorgungsleistungen offen. Das muss so bleiben. Die Solidargemeinschaft sollte auch in Zukunft bei ernsthaften Erkrankungen für die Kosten aufkommen. Medizinisch wünschbare, aber nicht erforderliche Leistungen sollten die Versicherten aber weiterhin aus der eigenen Tasche bezahlen. Leistungen, deren Erfolg nicht nachweisbar ist, sollten ebenso wie überholte Diagnose- und Therapiemethoden aus dem Katalog der gesetzlichen Krankenversicherung gestrichen werden.Die Kosten des medizinischen und technischen Fortschritts sowie der demografischen Verschiebung können für eine Weile durch Mobilisierung von Wirtschaftlichkeitsreserven gedeckt werden, die im System stecken. Diese Vorräte sind allerdings begrenzt, sie reichen nicht aus, um die steigenden Gesundheitskosten der kommenden Jahrzehnte zu finanzieren. Zum anderen nimmt ihre Aktivierung Jahre und Jahrzehnte in Anspruch - die strukturellen Überkapazitäten in der stationären und in der ambulanten Versorgung werden noch lange bestehen. Das Motto "Rationalisieren statt Ratio-nieren" löst die Probleme nicht auf Dauer.Die Rundum-Versorgung bleibt populärGesellschaft und Politik werden spätestens in der zweiten Hälfte dieses Jahrzehnts zu entscheiden haben, wie sie die gesetzliche Krankenversicherung zukunftstauglich machen wollen. Die Schlagworte für die zentralen Herausforderungen heißen: demografische Umschichtung, medizinisch-technischer Fortschritt und Veränderungen in der Arbeitswelt ("gebrochene Erwerbsbiografien"). Unsere Gesellschaft altert rapide, die Gesundheitskosten werden vor allem wegen der wachsenden Zahl chronisch kranker, multimorbider Patienten stark steigen. Das bedeutet, dass das Defizit in der Krankenversicherung der Rentner weiter wächst; schon jetzt liegt es in der Größenordnung von 50 bis 60 Milliarden Mark im Jahr. Gleichzeitig sinkt der Anteil der Erwerbstätigen, die diese Unterdeckung mit ihren Solidarbeiträgen kompensieren. Zur Lösung des Finanzierungsproblems stehen prinzipiell die Optionen "stärkere Belastung der Beitragszahler" und "Einschränkung der Leistungen" offen. Einige Krankenkassen haben ermittelt, dass ihre Versicherten die stärkere Belastung gegenüber der Leistungseinschränkung eindeutig bevorzugen. Die Menschen wollen nicht von der viel geschmähten "Vollkaskomentalität" lassen. Und warum auch? Mit der solidarischen Rundum-Versorgung haben sie schließlich gute Erfahrungen gemacht.Gesellschaft und Politik können sich also dafür entscheiden, steigende Gesundheitskosten durch stärkere Belastung der Beitragszahler aufzufangen. Sie werden dann aber im Zeichen der Globalisierung den Grundsatz der hälftigen Finanzierung der Ausgaben durch Arbeitgeber und Arbeitnehmer durchbrechen müssen. Die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Volkswirtschaft wird es nicht gestatten, die Arbeitskosten mit ständig steigenden Krankenversicherungsbeiträgen zu belasten. Nicht von ungefähr hat die rot-grüne Koalition die Stabilität und Senkung der Lohnnebenkosten zu einem ihrer wichtigsten Ziele gemacht. Es spricht daher alles dafür, dass die Arbeitgeberanteile von der weiteren Beitragssatzentwicklung abgekoppelt, ja "eingefroren" werden müssen. Daneben wird man die Bemessungsgrundlage für die Beitragserhebung verbreitern müssen, indem man auch bei den Pflichtversicherten auf die gesamte wirtschaftliche Leistungsfähigkeit abstellt. Beiträge wären dann auf alle Einkünfte zu entrichten. Die alternative Option liegt dahin, den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenversicherung zu begrenzen. Die Diskussion dieses Aspekts kreist um das Thema Grund- und Wahlleistungen: Es soll zwischen solidarisch finanzierten Grund- und privat bezahlten Wahlleistungen differenziert werden. Angesichts der hohen Akzeptanz der Rundum-Versorgung der gesetzlichen Krankenversicherung stieße ein so revolutionärer Akt freilich auf den erbitterten Wider-stand breiter Bevölkerungsschichten. Zudem setzt die Unterscheidung von Grund- und Wahlleistungen Entscheidungen über Prioritäten voraus, die eine Fülle ethischer, weltanschaulicher, religiöser und praktischer Fragen aufwerfen. Die Festlegung solcher Prioritäten gehört zu den konfliktträchtigsten Themen der Gesundheitspolitik; für uns ist sie absolutes Neuland. Für Fun und Fitness ist genug Geld daLeistungen zu kappen, die finanziell ins Gewicht fallen, schnitte jedenfalls tief in die tradierte Leistungsstruktur der gesetzlichen Krankenversicherung ein: Es riefe eine Vielzahl betroffener Akteure und Patienten, gesellschaftlicher Gruppen und Interessenvertreter diverser Wirtschaftszweige auf den Plan. Das Begräbnis dritter Klasse, das die Union ihren zunächst mit Getöse verkündeten "Grund- und Wahlleistungsplänen" bereitet hat, belegt, welches Konfliktpotential der Gesundheitsmarkt birgt.Weitaus weniger komplex, aber trotzdem nicht einfach ist die überfällige Neudefinition der Sphären von Solidarität und Subsidiarität. Das Problem lässt sich in der Frage bündeln, welche Gesundheitsleistungen der Einzelne bezahlen kann und für welche die Solidargemeinschaft aufkommen muss. Zwar sind Solidarität und Subsidiarität Kehrseiten derselben Medaille. Davon abgesehen aber muss die Frage ihrer Neuabgrenzung schon deshalb erlaubt sein, weil unsere Gesellschaft - anders als vor Jahrzehnten - eine reiche Gesellschaft ist. Wenn Versicherte für Fun und Fitness, Wellness und Kosmetik viel Geld ausgeben ohne mit der Wimper zu zucken, dürfte es ihnen auch zumutbar sein, die Behandlungskosten von Befindlichkeitsstörungen und Bagatellerkrankungen selbst zu tragen. Dass die finanziell schlechter Gestellten dabei nicht durch den Rost fallen dürfen, versteht sich von selbst. Wer zahlt für den Snowboard-Crash? Die Sorge, dass Versicherte trotz bestehender Indikation keine Behandlung in Anspruch nehmen oder den Arzt nicht rechtzeitig aufsuchen, weil sie Geld sparen wollen, ist nicht von der Hand zu weisen. In der privaten Krankenversicherung funktioniert dieses Modell jedoch seit langem ohne größere Probleme. Eine weitere Frage lautet, ob die Solidargemeinschaft für Kosten aufkommen soll, die aus Unfällen bei Risikosportarten resultieren. Selbstverschuldete Erkrankungen sind ein weiterer Aspekt des Themas Subsidiarität und Eigenverantwortung. Der Wettbewerb der Krankenkassen wird zum einen durch den Risikostrukturausgleich bestimmt, zum anderen durch die Felder, auf denen sie konkurrieren können. Die meisten Gesundheitsexperten sind inzwischen der Ansicht, dass der solidarische Wettbewerb der Krankenkassen auf der Grundlage eines Risikostrukturausgleichsverfahrens ausgetragen werden sollte. Das hält andere Fachleute aber nicht davon ab, weiterhin für ein reines Wettbewerbsmodell zu plädieren. Sie qualifizieren den Risikostrukturausgleich als ein retardierend-konservatives Instrument, das sich selbst verewigt, indem es dafür sorgt, dass die Risikostrukturen zementiert werden, die es kompensieren soll. Diese Fachleute bewerten den Risikostrukturausgleich als ein Werkzeug, das primär dem Schutz von Institutionen dient. Es sorge dafür, dass die jetzige Kassenlandschaft erhalten bleibe.Der Patient gehört in den MittelpunktDie Befürworter des Wettbewerbs meinen, die völlige Freigabe des Kassenwettbewerbs und der Wegfall von Ausgleichszahlungen führten am ehesten dazu, dass die Krankenkassen ihr Augenmerk auf die Verbesserung der Versorgungsqualität richten. Sie müssten nämlich auf Kostenoptimierung aus sein, um am Markt zu überleben. Die Ausweichvariante, Kosten durch das Vorenthalten medizinisch notwendiger Leistungen und durch Risikoselektionsstrategien zu reduzieren, würde sich nach dieser Auffassung für die Kassen nicht auszahlen: Versicherte und Medien würden Unternehmen abstrafen, die den Versuch unternähmen, sich mit derartigen Tricks und unethischem Verhalten am Markt zu behaupten. Es bleibe den Krankenkassen also nur der Weg, auf breiter Front Maßnahmen zugunsten chronisch Kranker zu betreiben, um Kosten in den Griff zu bekommen und am Markt zu reüssieren. Damit wäre nicht nur der Widerspruch zwischen volks- und betriebswirtschaftlichen Interessen aufgehoben, sondern auch der Wettbewerb um die beste Versorgung der Kranken endlich eingeläutet. Der Preis für diesen Paradigmenwechsel besteht in einer dramatischen Veränderung der Kassenlandschaft. Es würden viele Krankenkassen durch Fusionen vom Markt verschwinden, ohne dass den Versicherten dadurch Nachteile erwüchsen. Die Versichertenkollektive der überlebenden Marktteilnehmer wären aller Voraussicht nach weitestgehend homogen; die Beitragssätze dieser Krankenkassen lägen in einem verhältnismäßig engen Korridor. Was in einem aufwändigen manipulationsanfälligen und fehlerträchtigen Ausgleichsverfahren bislang nicht bewerkstelligt worden ist, würde der freie Kassenwettbewerb somit nebenbei liefern.Wettbewerb in der Krankenversicherung ist nicht um seiner selbst willen da. Er soll vielmehr dafür sorgen, dass Effektivität und Effizienz der Versorgung mit Gesundheitsgütern gesteigert werden. Dazu gehört, dass den Krankenkassen Dispositionsspielräume eröffnet werden, die sie - unter dem Dach eines einheitlichen Leistungskataloges - in den Stand setzen, auf ihren Bedarf und ihre Vorstellungen zugeschnittene Verträge mit Leistungserbringern abzuschließen. Gegenstand solcher Vereinbarungen sollten hauptsächlich die Organisation, die Qualität und der Preis von Gesundheitsleistungen sein. Nur so können Krankenkassen aus ihrer angestammten Rolle als Finanziers von Gesundheitsleistungen herauswachsen und ihre neue Funktion als Beschaffer und Einkäufer von Gesundheitsgütern wahrnehmen. Ohne Rücksicht auf Qualität und PreisDas Gesundheitsreformgesetz vom Dezember 1988, das die korporativen Elemente des Gesundheitssystems gestärkt hat, steht diesem Ansatz diametral entgegen. Es hat bewirkt, dass Innovationen äußerst schleppend realisiert worden sind; der Langsamste und Inflexibelste im Geleitzug gibt zurzeit Tempo und Kurs an. Diese Ressourcenvergeudung können wir uns nicht länger leisten. Statt dessen müssen die einzelnen Krankenkassen ihr Kreativitäts- und Innovationspotential ungebremst entfalten können, damit Qualität und Wirtschaftlichkeit der Versorgung rasch verbessert werden. Die Krankenkasse soll die unternehmerische Verantwortung für Entscheidungen übernehmen, für die sie im Wettbewerb gerade stehen muss. Eine Versorgungspolitik, in deren Brennpunkt die Qualität und Wirtschaftlichkeit der Gesundheitleistungen steht, muss das Recht der Krankenkassen einschließen, sich Vertragspartner auszusuchen, die nach ihrer Auffassung Gewähr für gute und kostengünstige Leistungen bieten. Krankenkassen sollten nicht länger darauf verwiesen sein, dass jeder einmal zugelassene Leistungserbringer ihre Versicherten ohne Rücksicht auf die Qualität und den Preis seiner Leistungen versorgen darf. Der Wettbewerb um die Güte und Wirtschaftlichkeit der Versorgung wird aber nur dann erfolgreich sein, wenn das "Einkaufsmodell" gesetzlich verankert wird.Der Wettbewerb um Effektivität und Effizienz der Versorgung darf den Sektor der ambulanten Versorgung nicht aussparen. Krankenkassen sollte auf lange Sicht generell das Recht eingeräumt werden, (ausschließlich) mit niedergelassenen Ärzten Versorgungsverträge abzuschließen, die bereit sind, ihre Behandlung an vereinbarten Qualitätsstandards auszurichten. Geld fließt nur dann, wenn Qualitätskriterien erfüllt sind. In der Übergangsphase könnte für eine qualitätsgesicherte Behandlung ein Bonus gezahlt werden.Die gegenwärtigen Mechanismen der Preisbildung sowohl für innovative patentgeschützte Arzneimittel als auch für so genannte Generika gehören auf den Prüfstand. Derzeit bezahlen die Krankenkassen den Pharmaunternehmen die Preise, die diese für ihre Innovationen verlangen. Allein auf die sogenannten Spezialpräparate entfallen mit fast acht Milliarden Mark bereits jetzt rund 20 Prozent der Ausgaben der Krankenkassen für Medikamente. Die Tendenz ist steigend. Es ist keine bloße Spekulation, dass die internationalen Pharmahersteller mit den hohen Erlösen auf dem freien deutschen Markt ihre geringeren Einnahmen auf jenen Märkten kompensieren, auf denen die Arzneimittelpreise staatlich reglementiert werden. Es ist aber nicht einzusehen, dass die inländischen Beitragszahler die Zeche für konzerninterne Quersubventionen zahlen. Dieses Ergebnis lässt sich auf einem freien Markt allein dadurch vermeiden, dass Hersteller und Krankenkassen Preisverhandlungen führen.Keine Chance ohne RisikoWie sich zeigt, erfordert die Steigerung von Qualität und Effizienz im Gesundheitswesen eine Vielzahl von Maßnahmen. Volks- und betriebswirtschaftliche Belange müssen unter einen Hut gebracht werden. Diese Zielidentität ist am ehesten möglich, wenn die Krankenkassen ohne Risikostrukturausgleich konkurrieren und mit Leistungserbringern Verträge vereinbaren können, in denen Organisation, Qualität und Preis von Gesundheitsleistungen geregelt werden. Der Wettbewerb im Gesundheitswesen bietet Chancen, aber er bringt auch Risiken mit sich. Die Chancen zu nutzen und zugleich die Risiken unter Kontrolle zu halten - genau darin liegt die Aufgabe.