Müntebeckmünte

Die beiden SPD-Parteivorsitzenden des Jahres 2008 haben eigene Bücher vorgelegt. Doch als sie im Herbst parallel erschienen, hatte sich soeben alles geändert

In diesem Herbst hätte man amerikanische Romane lesen sollen! Da gibt es seit einiger Zeit ja manches an fiktionaler Literatur, das der kapitalistischen Realität weit voraus zu sein schien – und jetzt hat die Wirklichkeit sie eingeholt, bestätigt, zu Geschichtsbüchern gemacht. Großartig, wie Tom Wolfe in Fegefeuer der Eitelkeiten beschreibt, dass für den Investmentbanker Sherman McCoy ein Jahreseinkommen von einer Million Dollar in New York doch sehr knapp sein kann! Genial, wie Max Barry in einer Welt, wo schon alles privatisiert ist und die Angestellten mit Nachnamen so heißen wie ihre Firma, die Titelheldin Jennifer Government gegen den finsteren John Nike (genau: die Turnschuh-Company) kämpfen lässt! Obszön, wie Patrick Bateman, der gutaussehende, perverse Serienkiller in Bret Easton Ellis’ American Psycho, der tagsüber mit mergers and aquisitions bei Pierce & Pierce sein Geld verdient, nachts im Getöse einer Diskothek dem nächsten ausgewählten Opfer seinen Beruf ins Ohr schreit: „Murders and executions!“ Oh, interessant! Wer sich für die Weltfinanzkrise interessiert, sollte diese Sachbücher lesen.

Nun hatte 2008 auch die SPD wieder eine ihrer Krisen, eine Führungskrise, mit dem bekannten Ergebnis der Schwielowseeklausur vom 7. September 2008! Und kurz darauf erschienen zwei Bücher von Kurt Beck (30. September) und Franz Müntefering (7. Oktober), die irgendwie früher geschrieben worden sein müssen, vom Gang der Dinge ein kleines bisschen überholt, an die eilige Wirklichkeit angeschlossen durch Vorwort, Vorveröffentlichung, Vorstellungspressekonferenz.

Beide Bücher haben exakt das gleiche Format, beide ein schwarzes Cover mit weißer und roter Schrift und ernst-freundlich blickende schwarz-weiße Autorenbilder vorne drauf, Münte mit, Beck ohne Brille; beide sind gut 200 Seiten stark.

Die Verlage Herder (Müntefering) und Pendo (Beck) haben jeweils kurze Titel gewählt, die in ihrer das Politische ins Zentrum stellenden Schlichtheit geradezu anachronistisch wirken: Macht Politik! und Ein Sozialdemokrat. Passt jeweils auf beide. Aber damit nicht genug der Parallelität: Um seine Ansichten zu Papier zu bringen, hat Franz Müntefering mit der Journalistin Tissy Bruns (Der Tagesspiegel) lange Gespräche geführt, Kurt Beck mit der Journalistin Martina Fietz (Cicero).

Unterschiedlich ist die Darstellung: Becks Geschichte wurde als Ich-Erzählung verarbeitet und gewiss vom Autor und seinen Mitarbeitern kritisch und liebevoll durchgeknetet. Man hört Kurt Beck sprechen, wenn man ihn liest, und es ist durchweg grundsympathisch, was er schreibt – über seine nicht ganz einfache Kindheit, seine Ausbildung und seine Arbeit in Werkstatt und Personalrat, über seinen Weg in die Politik und seine Ansichten zu allem, was ein Bundeskanzler heutzutage im Blick haben muss, von Mindestlohn bis Nahost.

Franz Münteferings Werk ist ein Gesprächsbuch geblieben, reine Interviewform, etwas anstrengender zu lesen als ein durchgeschriebener Text. Erstaunlich fällt dabei auf, dass der redigierte Interview-Müntefering weniger nach Münte klingt, als wenn er wirklich selbst schreibt, so in der Zeit vom 17. Januar, wo er eine bewegende Antwort auf all die freundlichen Zuschriften, die er zu seinem Ausscheiden aus der Bundesregierung erhalten hat, veröffentlichte („Das hat mit gut getan“), oder in der Berliner Republik mit dem wohl auf einen münteferingschen Schreibmaschinentext zurückgehenden Gemeinschaftsartikel unter dem Titel „Freiwilligendienste – für alle Generationen“. Da hört man ihn reden, und das ist die Bewegungsform seiner Gedanken.

Eine bittere Stunde für Beck

Natürlich werden solche Bücher in solcher Zeit nicht daraufhin gelesen, zu erfahren: Wohin geht die SPD? Da liegen beide nicht weit auseinander und mitten im Mainstream der Sozialdemokratie, den ja auch Gerhard Schröder, jedenfalls in seinen Wahlkämpfen, immer meisterhaft zu mobilisieren verstand. Bei Beck schwingt noch viel Verletztheit mit, umständehalber vor allem im langen Vorwort, wo von „Quertreiberei“ in der Parteiführung die Rede ist und vom Bruch der Vertraulichkeit. Über die Situation der Entscheidung am Schwielowsee schreibt er: „Schließlich wurde Franz Müntefering vorgeschlagen. Eine bittere Nacht und eine bittere Stunde für mich.“

Im Text gibt es eine interessante Stelle über Spindoktoren: „Diese Berater manipulieren die Dinge, anstatt sie zu nehmen, wie sie gesagt werden.“ Wahrscheinlich steht ihm da besonders einer vor Augen, der im kritischen Moment den Nachrichten von der Vor-Schwielowsee-Vereinbarung den „passenden Dreh“ gegeben hat. Den Namen nennt er nicht.

Besonders schön sind die plakativen Überschriften im letzten Teil des Buches zu den Koalitionsüberlegungen für 2009: „Denkbare Möglichkeit – die Ampel“, „Präferenz für Rot-Grün“, „Schwierig – Große Koalition“, „Die Linkspartei – ein Nein für 2009“.

Das sieht Franz Müntefering im hinteren Teil seines Buches ganz genauso. Mit Tissy Bruns entfaltet auch er eine ganze sozialdemokratische Weltgeschichte. Aber es gibt eine Hauptbotschaft, und die spitzt der Titel ganz gut zu: Macht Politik! Müntefering treibt die grassierende Politikverdrossenheit um. Er wirbt, ohne jede Anbiederei, für demokratische Teilhabe. Münte-Sätze: „Wer in eine Partei geht, der muss selbstsicher genug sein oder werden, seine eigene Meinung zu haben und zu behalten. Und er muss selbstbewusst genug sein, Kompromisse mit anderen einzugehen.“

„Demokratie ist kein Konsumartikel, und Parteien sind nicht dazu da, jemandem etwas zu bieten. Wer nichts will, wer sich bedienen lassen will, wer nichts verändern will, wer nicht mitmischen und mitreden will, der sollte draußen bleiben. Parteien brauchen die Leute, die den Stier bei den Hörnern packen und etwas verändern wollen. Die sich empören, die Ideen haben, die in die Hände spucken. Das ist Partei, und die braucht die Engagierten. Die, die Partei ergreifen.“

„Ein Teil der Kritik an den Parteien kommt auch von Leuten, die sich dafür zu fein sind und ‚sich die Hände nicht schmutzig machen‘ wollen. Die alles besser wissen, aber nicht mit ihrer Zeit und ihrem Engagement dafür einstehen wollen. Da sage ich: Wer sich einsetzt und dabei Fehler macht, ist tausendmal gerechtfertigter als die Zuschauer auf der Tribüne, die sich darüber das Maul zerreißen.“ Das ist starker Tobak, aber gut! Und lange nicht mehr in dieser Deutlichkeit gesagt.

Müntefering ist Partei wie kaum jemand sonst im Land und gleichzeitig erscheint er schon als weiser Alter, als elder statesman, der das Leben kennt und die Dinge aus einiger Distanz sehr nachvollziehbar erklären kann. In kurzen Sätzen. („Sätze werden klarer, wenn sie knapp sind.“) Engagement und Distanzierung. Er sagt zu vielem etwas, Lafontaine und Angela Merkel eingeschlossen. Drei Namen und Ereignisse, die für ihn mit bitteren Stunden verbunden sind, bleiben unerwähnt. Das ist wohl seine Art, Gefühle in der Politik zu zeigen. Müntefering, Beck, Müntefering, die Parteivorsitzenden der sozialdemokratischen Regierungsjahre seit 2004 (abgesehen vom Platzeck-Intermezzo) sind einander biografisch wie politisch nicht so fern. Beide extrem erfolgreiche Autodidakten mit Hauptschulabschluss. Beide aus kleinen, eher ländlichen Verhältnissen stammend. In der klassischen SPD-Flügelsymmetrie weder links noch rechts. Beide mit starker Pflicht- und Dienstethik.

Wenn dennoch der eine beim Ritt über den Bodensee grollend untergeht und dem anderen von Freund und Feind zugetraut wird, dass er vielleicht doch das andere Ufer erreichen wird, dann nicht weil der eine ein Scharlatan und der andere ein Heiliger wäre, sondern weil „der Franz“, so sagt es inzwischen schon die Legende, einfach weiß, wo die Steine liegen. Der Ritt geht weiter.

In Münteferings Vorwort heißt es, er habe die Interviews als Sozialdemokrat „ohne Parteifunktion“ geführt, und „genau so sollen meine Äußerungen jetzt auch bleiben. Unverändert.“ Eine einzige Stelle im Buch deutet darauf hin, dass da doch noch etwas unerledigt geblieben ist. Auf Seite 121 geht es um das notwendige Erklären der Agenda-Reformen. „Einiges habe ich bewegen können“, sagt Franz Müntefering. „Aber ich hatte dann nicht lange genug Zeit.“

zurück zur Ausgabe