Mythen und Mäuse
Rentenpolitik hat Konjunktur: Seit Bundesarbeitsminister Walter Riester die Eckpunkte für eine Strukturreform in der Rentenversicherung vorgelegt hat, ist die Debatte eröffnet. Die Experten der unterschiedlichen "Schulen" tragen ihre Auffassungen vor, eine breite Diskussion findet in und zwischen allen Generationen statt. Die jungen Menschen, für die bislang die Frage der Alterssicherung jenseits der eigenen Erfahrungswelt steht, melden sich genauso zu Wort wie die Älteren, die von der Angstkampagne der Union zutiefst verunsichert sind. Grund genug, sich mit Mythen und Wahrheiten zu befassen.
Die Debatte ist nicht neu. Der CDU-Querdenker Kurt Biedenkopf brachte schon vor Jahren den Ersatz des heutigen Umlagesystems durch eine steuerfinanzierte Grundrente in die Diskussion. Professor Raffelhüschen schlägt ein so genanntes Ausgleichsmodell vor, das eine Mischform zwischen dem derzeitigen Umlagesystem und einem Ansparmodell darstellt; das dabei deutlich geringere Rentenniveau wird durch private Altersvorsorge ergänzt. Auch internationale Beispiele finden zunehmend Eingang in die bundesdeutsche Diskussion. Trendy ist das Schweizer Modell, das zur Finanzierung einer Mindestrente alle Arten von Einkommen heranzieht und mit einer zusätzlichen, leistungsbezogenen Rente kombiniert ist. Der Finanzwissenschaftler Bert Rürup hält die obligatorische Altersvorsorge, die im ursprünglichen Riester-Modell als Ergänzung zum Umlagesystem vorgesehen war, für "ein pfiffiges Konzept".
Die öffentliche Debatte wird zunehmend zur Kakophonie: BDA-Präsident Dieter Hundt fordert eine stärkere Absenkung des Rentenniveaus, in der Welt fragt der ehemalige FAZ-Herausgeber Friedrich-Karl Fromme (selbst bei der FAZ mit 65 zwangspensioniert) "Warum nicht bis 68 arbeiten?"; Deutsche-Bank-Chefvolkswirt Norbert Walther fordert Pensionsfonds, Handelsblatt-Redakteur Peter Thelen stellt fest: "Die heutigen Rentner können verzichten" und beklagt zu Recht, dass die populistische Rentendebatte der Union eine sinnvolle Reform verhindert. Viele Stimmen, viele Interessen, viele Konzepte.
In Kontinuitäten denken
Es empfiehlt sich, an die Frage der Alterssicherung systematisch heranzugehen. Als 1889 die Rentenversicherung als wirksame Maßnahme gegen die "gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" (Titel eines anderen Bismarckschen Gesetzes) geschaffen wurde, gab es nur gestaffelte Festbeiträge und geringe Leistungen. Erst seit 1957 folgen die Renten dem Prinzip des Generationenvertrags, das dynamische, zunächst auf Bruttolöhne bezogene Renten vorsah. Während zu Beginn der 70er Jahre die Leistungsansprüche angehoben wurden und sich die Rentenversicherung auf neue Bedürfnisse einstellte, begann schon bald eine schleichende Transformation von der Bruttoformel zu einer Nettowirkung. In den 80er Jahren fanden unter der Kohl-Regierung massive Leistungseinschränkungen und Beitragserhöhungen statt. "Durch diskretionäre Eingriffe und die Einführung eines eigenen Beitrags der Rentner zu ihrer Krankenversicherung wurde aus der Bruttoformel eine kaschierte Nettoformel. Erst mit der 92er Reform wurde der Wechsel von der Brutto- zur Nettorente auch explizit vollzogen.", so Thelen im Handelsblatt.
Die neu eingeführte Nettoformel führte aufgrund der Reallohnverluste der Arbeitnehmer dazu, dass in den 90er Jahren die Rentenerhöhungen überwiegend unterhalb der Preissteigerungsrate abliefen. Da die Finanzierung der deutschen Einheit in großen Teilen über die Sozialtransfers lief, reichten auch weitere Leistungseinschränkungen der CDU/FDP-Regierung nicht aus, die Beitragssätze halbwegs stabil zu halten. Die damalige christlich-liberale Koalition krönte diese Entwicklung 1997 durch die Verabschiedung des demographischen Faktors, der in seiner Konsequenz nichts anderes bedeutet hätte, als die Renten dauerhaft von der Entwicklung der Nettoeinkommen abzukoppeln. Der Tiefpunkt des Nettorentenniveaus wurde für einen "Standardeckrentner" (mit 45 Beitragsjahren) willkürlich auf 64 Prozent festgelegt. Eine solche Erwerbsbiografie entspricht jedoch ohnehin nicht mehr der Realität. Zynisch gesagt: Mit Blüm sollten die Renten ab 1999 systematisch sinken. Rentenniveaukürzungen sind also o.k., wenn sie nach einer "Formel" verlaufen.
Die Konzepte der Kontrahenten
Das von Walter Riester und einem Expertengremium entwickelte Finanzierungs-Konzept, das die auf dem Generationenvertrag beruhende gesetzliche Rentenversicherung durch Steuermittel stabilisiert und mit einer kapitalstockbezogenen zusätzlichen Eigenvorsorge verbindet, sieht für zwei Jahre Rentenerhöhungen entsprechend der Preissteigerung vor. Da der Blümsche demographische Faktor mit seiner Abkehr vom Nettolohnprinzip für mindestens 15 Jahre, wenn nicht auf Dauer, noch nicht einmal eine Kaufkraftklausel vorsah, relativiert sich die heftige Kritik am Riester-Konzept. Die massiven Steuererleichterungen für Arbeitnehmer und die gezielte Förderung von Familien bewirkt bei Beibehaltung der Nettoformel kurioserweise einen Rentenanstieg, der höher als die durchschnittlichen Tariferhöhungen der Arbeitnehmer wäre. Dieses Rentenplus müsste wiederum über steigende Rentenversicherungsbeiträge finanziert werden. Das ist für die heutigen Träger des Generationenvertrages nicht zumutbar, da sie zudem die Erziehungskosten ihrer Kinder erbringen müssen.
Mythen und Fakten
Mythen entstehen durch isolierte Betrachtungen. Der Bericht an die Bundesregierung zur Alterssicherung in Deutschland aus dem Jahr 1995 macht deutlich, dass eine geringe Rente in der gesetzlichen Rentenversicherung noch nichts über das Gesamteinkommen im Alter aussagt. Die gesetzliche Rentenfinanzierung ist nach wie vor der wichtigste Faktor der Alterssicherung. Zu ihren 350 Milliarden Mark Leistungen an Rentner addieren sich jährlich mittlerweile 90 Milliarden Mark Rentenleistungen aus Lebensversicherungen, 28 Milliarden aus Betriebsrenten sowie 14 Milliarden Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst. Das DIW ermittelte, dass die durchschnittlichen Einkünfte der Rentner im Schnitt mit 2710 Mark nur drei Prozent unter dem durchschnittlichen Arbeitnehmerhaushalt liegen.
Ein weiterer Mythos ist der scheinbare Ost-West-Gegensatz der Rentenversicherung. Es war eine ungeheure gesellschaftliche Leistung, die Rentenversicherung der früheren DDR in das gesamtdeutsche Rentensystem zu integrieren. Dies führt trotz der Tatsache, dass die DDR-Rentensätze noch nicht auf 100 Prozent der westdeutschen Sätze angehoben worden sind, zu dem Ergebnis, dass die durchschnittlichen Zahlbeträge der monatlichen Nettoversichertenrente in Ostdeutschland ca. 10 Prozent über den westdeutschen liegen. Grund ist die längere Lebensarbeitszeit der Arbeitnehmer in der ehemaligen DDR und die höhere Erwerbstätigkeit der Frauen. Relativiert werden solche Zahlen aber durch die Tatsache, dass im Gegensatz zur Situation in Westdeutschland in den neuen Bundesländern in der Regel keine Ansprüche auf Betriebsrenten entstanden sind. Ein komplexes System wie die Alterssicherung bedarf deshalb genauester Analyse.
Woher die Mäuse?
1899, zehn Jahre nach Einführung der Rentenversicherung kamen auf einen Über-75-Jährigen statistisch gesehen 75 Personen, die unter 75 waren. Heute, hundert Jahre später, hat sich das Verhältnis auf eins zu 14 verringert. Aus dem früheren Generationenbaum wurde ein stetig wachsender Generationenpilz.
Die Lebenserwartung wird auch weiterhin steigen. Die in einigen Monaten erscheinende neue Bevölkerungsprognose des Statistischen Bundesamtes wird von einem Anstieg der Lebenserwartung um 4 Jahre innerhalb der nächsten 35 Jahre ausgehen. Konsequenz ist eine durchschnittliche Rentenbezugsdauer von künftig 20 Jahren für alle nachwachsenden Generationen. Die enorme ökonomische Belastung des Rentenversicherungssystems ist absehbar. Für das Jahr 2040 würde sich eine Relation von 102 Rentnern zu 100 Arbeitnehmern ergeben. Diese 102 Rentner sind heute zwischen 20 und 40 Jahre alt.
Aussitzen oder Handeln
Die demographische Entwicklung muss folglich durch ergänzende Kapitalstockbildung und die Einbeziehung von Mitteln aus indirekten Steuern ausgeglichen werden. Ob die zusätzliche Altersvorsorge obligatorisch oder freiwillig erfolgt, ist dabei zweitrangig. Entscheidend ist, dass sie alle Versicherten umfasst.
Ein innovatives Element ist die soziale, bedarfsabhängige Grundsicherung, die sich auf zukünftige Erwerbsbiografien einstellt. Erstmalig zeichnet sich ein Konzept ab, das sowohl der demographischen Entwicklung wie der veränderten Erwerbssituation angemessen ist.
Eine neue Diskussion könnte die Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts über die unterschiedliche Besteuerung der Alterseinkünfte auslösen. Der für diesen Herbst zu erwartende Spruch der Verfassungsrichter ist Folge der beliebten Praxis des Aussitzens wichtiger Entscheidungen, für das der frühere Bundeskanzler zum Synonym geworden ist. Die Entmündigung von Politik gilt gleichermaßen für die ungeheure Anhäufung der Verschuldung des Bundes auf 1,5 Billionen Mark. Dass die Union nun in populistischer Hemmungslosigkeit das Gegenteil von dem fordert, was sie früher praktiziert hat, geht einher mit dem Gefühl der derzeitigen Koalitionsfraktionen, Dinge tragen zu müssen, vor denen sie in ihrer Oppositionszeit zumindest gewarnt haben. Handlungsfähigkeit setzt aber die Fähigkeit zur Durchsetzung und Wiedergewinnung der Zukunftsfähigkeit voraus. Für die sozialen Sicherungssysteme bedeutet dies, Konzepte zu entwickeln, die auch die Generationengerechtigkeit umfassen, ohne eine Generation zu überfordern.
Vom Generationenvertrag zum Generationenpakt
Der dringend notwendige neue Generationenpakt setzt Akteure voraus, die ihren spezifischen Beitrag erbringen: Hierzu gehören, erstens, alle Steuerzahler, die mit der Ökosteuer die Beitragssätze stabilisieren und die soziale Grundsicherung finanzieren. Zweitens erhalten die derzeitigen Rentnergenerationen in den Jahren 2000 und 2001 Rentensteigerungen entsprechend der Preisentwicklung, die aber geringer ausfallen werden, als es die abstrakte Nettolohnformel vorsehen würde. Der dritte Träger eines neuen Generationenpaktes sind die erwerbstätige Generation und die zukünftigen Arbeitnehmer, die zusätzlich zur umlagefinanzierten Rentenversicherung Aufwendungen für die private Vorsorge aufbringen müssen.
Auch den nachfolgenden Generationen muss in einem Pakt ein Angebot gemacht werden. Mit einem der erfolgreichsten Programme, dem 100.000er Programm gegen Jugendarbeitslosigkeit, wurden bisher 180.000 jungen Menschen zusätzliche Chancen auf Beruf, Ausbildung oder Qualifikation eingeräumt. Dieses Angebot muss die Bundesregierung im kommenden Jahr fortführen. Die Integration junger Menschen in die Erwerbsgesellschaft ist die zwingende Voraussetzung dafür, dass die sozialen Sicherungssysteme überhaupt eine Zukunft haben.