Neumeyers Nachtleben: Nächte mit Jürgen

Der Wahlkreis verlässt den Kölschen Römer. Zeit für eine verklärende Zwischenbilanz

"Du siehst aber müde aus!" - "Ja, ich hatte gestern noch lange im Wahlkreis zu tun." So ungefähr könnte ein Gespräch zwischen zwei Abgeordneten an einem Mittwochmorgen vor der Ausschusssitzung verlaufen. Doch wo der eine das Engagement seines Kollegen bewundert, hat der andere gar keine mühsame Diskussion im Kreisvorstand hinter sich - sondern den Abend womöglich in der Gaststätte Wahlkreis verbracht.

Dieser Wahlkreis, den Netzwerk Berlin-Geschäftsführer Jürgen Neumeyer rund ein Jahr lang jeweils dienstags und donnerstags im Berliner Regierungsviertel betrieb, hatte sich zu einer etablierten Institution entwickelt. Jede Woche trafen sich hier die Praktikanten zu ihrer lockeren Runde, der Politikberater Arne Grimm hielt seine "Einwürfe"-Veranstaltungen ab und die Lüthke Politikberatung lud viel versprechende Referenten zum "Praktikantenstammtisch" ein.

Bis vor kurzem war der Wahlkreis in der ersten Etage des Kölschen Römer am Schiffbauerdamm untergebracht. Ein Ort der Einkehr, liebevoll dekoriert mit Wahlkampfplakaten und Willy-mit-Klampfe-Bildern, mit Liebesgaben von Abgeordneten unterschiedlicher Parteien aus ihren wirklichenWahlkreisen, mit wechselnden Fotoausstellungen und mit einem viel bespielten Kicker. Wie im Regierungsviertel üblich wurde Kölsch gereicht, glücklicherweise aber auch Pils sowie ein obskures Sortiment von Obstlern, Wodka-Likör, eingelegten Himbeeren und Grappa.

Inzwischen hat der Wechsel des Pächters vom Kölschen Römer gezwungenermaßen zum Ortswechsel geführt. Zeit für eine Zwischenbilanz: Was war das Besondere? Was hebt den Wahlkreis aus der Vielzahl von Kneipen und parlamentarischen Abenden heraus?

Der Charakter solcher Feiern im Regierungsviertel ist im Wesentlichen geprägt durch ihre jeweiligen Themen - das kann Zahnersatz sein oder Hochtechnologieförderung. Dabei führt die allfällige Kulturdarbietung nicht mehr als ein Schattendasein. Die kulinarischen Genüsse reichen, je nach Budget, vom Zwiebelmettbrötchen bis zum Zander im Safranbett. Kern dieser "politischen Kulturveranstaltung" ist immer die Rede eines wichtigen Verbandsvertreters, der anwesenden Volksvertretern bedenkenswerte Einsichten aus der Sicht seiner Lobby auf den Weg geben will. Das Gegenmodell dazu ist die politisch instrumentalisierte Feier. Bei ihr werden gern eine Tanzfläche und politische Symbole zusammengebracht. Beim jüngsten Bundeskongress der Jusos in München etwa soll der Nachwuchs unter Leninbüsten, Sowjetuniformen und Gorbatschowbildern abgehottet haben.

In beiden Fällen gelingt aber das Entscheidende nicht: Zwar wird Kultur für Politik instrumentalisiert, sie hat aber keine politisch eigenständige, politische Prozesse anregende Wirkung. Genau dies aber gelang bisher im Wahlkreis. Hier wurden spannende Menschen zusammengebracht und eine kommunikative Grundstimmung geschaffen, in der Gespräche über Politik genauso wie über andere Themen möglich waren.

Dieser kulturalistische Ansatz von Politik als sozialem Ereignis geht im Wahlkreis zusammen mit Jürgen Neumeyers Fähigkeit, politisch zu organisieren und zu strukturieren. Wenn der Geschäftsführer des Netzwerk Berlin eine Einladung ohne Angabe irgendwelcher Gründe versenden würde, würden dennoch allein auf blauen Dunst vermutlich immer mindestens 25 Menschen herbeieilen. Aus dieser Kerngruppe wurde im Wahlkreis so etwas wie ein Stammtisch, sogar über Fraktionsgrenzen hinweg.

Nach seinem Auszug aus dem Kölschen Römer befindet sich der Wahlkreis nun im Umbruch. Nach der Sommerpause braucht der überparteiliche, politische Treffpunkt im Regierungsviertel eine neue, feste Heimstatt. Die wird sich finden. Denn an politischen Menschen, die selbst abends spät noch etwas für "ihren Wahlkreis" tun wollen, fehlt es nicht.

zurück zur Ausgabe