New Labour reloaded?

Selten hat sich politisches Kapital so schnell verflüchtigt wie im Fall von Gordon Brown. Bis vor Kurzem noch wurde der frisch gebackene Premierminister der Briten und neue Vorsitzende der Labour-Partei über den grünen Klee gelobt - wie ernsthaft, wie seriös und solide er sei, ganz anders als ein gewisser Luftikus, dessen Name denn auch seit dem Amtsantritt des Neuen kaum noch erwähnt wird. (Bezeichnenderweise hatte Labour beim letzten Parteitag erstmals darauf verzichtet, Bücherstände in den Wandelhallen zuzulassen; das Konterfei Tony Blairs, das auf vielen Buchumschlägen prangt, wäre sonst unübersehbar gewesen.) Doch jetzt steht Gordon Brown plötzlich wie ein begossener Pudel da, er ist Häme und Spott ausgesetzt, nachdem er Neuwahlen im Herbst auf einmal kategorisch ausgeschlossen hat

Die Schuld für das Debakel hat Brown einzig bei sich selbst zu suchen. Der Versuch, den Medien die Verantwortung für die „Wahlhysterie“ zuzuschieben, musste scheitern. Denn wochenlang hatte Brown das Wahlfieber gezielt geschürt, um bei den Konservativen Verwirrung zu stiften und die eigene Partei zu disziplinieren. Die Parteimaschinerie war in Stellung gebracht worden, die Gelder der Gewerkschaften flossen in Labours Kriegskasse, sogar ein rasch zusammengestelltes Wahlkampfmanifest gab es bereits. Vor allem junge Minister hatten auf Neuwahlen gedrängt. David Miliband, der neue Außenminister, verkündete im Überschwang der Gefühle bereits die „zweite Phase des New-Labour-Projekts“; sie werde nach dem Wahlsieg beginnen und mindestens noch einmal zehn Jahre dauern.

 

Alles, was Brown in den ersten drei Monaten seiner Amtszeit tat, diente einzig dem Ziel, den Sieg in einer snap election sicherzustellen. Dabei war er alles andere als pingelig: Er lobte Maggie Thatcher als „Überzeugungspolitikerin“ und empfing sie demonstrativ zum Tee in 10 Downing Street; auf dem Labour-Parteitag hüllte er sich in den Union Jack und machte auf Patriotismus wie kaum ein Premier zuvor; er versprach „britische Jobs für britische Arbeiter“, obwohl Labour dieses Versprechen weder in der Vergangenheit eingelöst hat (laut aktueller Statistiken gingen mehr als die Hälfte aller 1,7 Millionen neu geschaffenen Arbeitsplätze an Ausländer), noch gesetzlich überhaupt eine Möglichkeit dazu besteht. Brown warb um sozialkonservative Wählerschichten mit Parolen, die Labour-Politiker, wären sie von einem konservativen Politiker geäußert worden, als Beweis für xenophobische Tendenzen gebrandmarkt hätten.

 

Noch Anfang Oktober hatten enge Vertraute des Premiers verbreitet, der Urnengang im November sei beschlossene Sache. Alle Umfragen deuteten da noch auf einen klaren Sieg der Labour-Partei hin. Der entscheidende Fehler des Premiers war die vorgezogene Irak-Visite. Während des Parteitages der Konservativen war er überraschend und vorzeitig in den Irak geflogen, um den Tories mit der Ankündigung einer Truppenreduzierung die Show zu stehlen und ihnen zugleich wahlpolitisch den coup de grace zu versetzen. Doch die Angaben über den Umfang der Truppenreduzierung erwiesen sich als irreführend. Binnen kürzester Zeit schlug die Stimmung in Großbritannien um und die Werte für die Konservativen stiegen steil an. Der Honeymoon war zu einem abrupten Ende gekommen.

 

Brown, der angeblich ohne jeden Spin regieren wollte, sieht seither aus wie ein allzu schlau kalkulierender Parteipolitiker, der sich erst böse verrechnet hat und dann zu einem peinlichen Rückzieher gezwungen war. Nun ist der Premier verzweifelt bemüht, den Schaden zu begrenzen. Leicht dürfte das nicht werden. Seinen Ruf als Staatsmann und verlässlicher Führer, den er sich in den ersten drei Monaten erwarb, hat er verspielt. Gordon Brown wirkt opportunistisch und zugleich unentschlossen – wie der ewige Zauderer, den auch diesmal wieder im letzten Moment der Mut verließ. Schlimmer noch, durch seine Manöver hat er den politischen Gegner gestärkt und ihm letztlich zu einem Sieg verholfen: Die Tories schlossen angesichts der Aussicht auf Neuwahlen die Reihen; der rechte Flügel der Partei verstummte, der David Cameron wegen seiner Modernisierungsstrategie unentwegt attackiert und zugleich freundliche Worte für Gordon Brown gefunden hatte; außerdem versprachen die Tories, die Erbschaftssteuer bis zu der Grenze von einer Million Pfund abzuschaffen und jungen Leuten, die in den überhitzten Wohnungsmarkt einsteigen wollen, gezielt zu helfen. Damit griffen sie an einer Front an, an der die Labourregierung und zumal Gordon Brown verwundbar sind. Denn der Schotte steht im Ruf, als Schatzkanzler die Steuerlast der Briten verdeckt, aber stetig erhöht zu haben. Die Indizien mehren sich, dass die Grenzen der Belastbarkeit erreicht sind. Die Steuerfrage wird eines der entscheidenden Schlachtfelder der Zukunft sein.

 

Brown geht harten Zeiten entgegen. Er muss kleine Brötchen backen, öffentliche Demütigungen über sich ergehen lassen und zugleich versuchen, aus dem Schlamassel herauszukommen. Gewiss, die Erregung wird bald abklingen. Die leicht erregbare Massenmediendemokratie wird sich anderen Krisen und Skandalen zuwenden. Doch Browns Autorität ist angeschlagen. Um sie wieder herzustellen, wird er sich vielleicht sogar zu einem Schritt entschließen, den er bislang ausschloss, der ihm aber den Beifall einer deutlichen Mehrheit der Bevölkerung bescheren würde: zu einem Referendum über das europäische Vertragswerk. Das wäre für die EU der höchst unwillkommene fall out einer bizarren politischen Fehlkalkulation, die zugleich die Zukunft des gesamten Labourprojektes gefährdet.

Niemand im Kabinett kann Brown das Wasser reichen

Der größte Vorteil von Gordon Brown als Premierminister sei, dass er es mit keinem Gordon Brown zu tun habe – dieser Witz, der in der Partei kursiert, beschreibt ein gutes Stück Wirklichkeit. Niemand im Kabinett kann Brown das Wasser reichen. Er ist der Boss und bestimmt die Richtung, nachdem er zehn Jahre lang als mächtiger Schatzkanzler in der Regierung Blair die Wirtschafts- und Sozialpolitik weitgehend prägen konnte. Seine Dominanz ist umso größer, als sich einige Schwergewichte aus früheren Regierungszeiten wie John Reid, Charles Clarke oder Alan Milburn aus der aktiven Politik zurückgezogen haben.

 

Das Ergebnis ist, wie scharfe Zungen sagen, ein „Kabinett der Pygmäen“. Das mag ein allzu harsches Urteil sein, aber zumindest beschreibt es eine Seite des neuen Regimes: An konzeptionellem Denken und Intellekt überragt Gordon Brown jeden in seiner Mannschaft, doch hat seine Neigung, Beschlüsse nur im kleinen Kreis enger Vertrauter zu fassen, ihre Schattenseiten.

 

Welche Richtung wird die Regierung Brown nun einschlagen? Wird sie den Kurs New Labours fortsetzen oder fortan eher „New Labour lite“ bieten? Browns erste Parteitagsrede gab darüber wenig Aufschluss. Sie war hyperpatriotisch und religiös eingefärbt – Brown scheute sich nicht, mehrfach aus der Bibel zu zitieren – und war darauf angelegt, bei der größtmöglichen Zahl von Menschen Wohlbehagen auszulösen, bei Labouraktivisten und Gewerkschaftern ebenso wie in konservativen Wählerschichten. Gelingen konnte das nur mit einem gerütteten Maß an linkem und rechtem Populismus, während Brown zugleich konsequent darauf verzichtete, unbequeme Wahrheiten auszusprechen.

 

Wenn Gordon Brown über die „asiatische Herausforderung“ und die Konkurrenz von zwei Milliarden Chinesen und Indern spricht, muss er wissen, dass dies für Großbritannien am Ende nicht weniger, sondern mehr Flexibilität und Markt bedeutet, will das Land wettbewerbsfähig bleiben und den Rang als fünftgrößte Volkswirtschaft der Welt verteidigen, den es in den vergangenen zehn Jahren erklommen hat. Doch dazu kein Wort.

 

Nach dem gleichen Muster verfuhr Brown bei der Auflistung hehrer sozialpolitischer Ziele wie dem Ende der Kinderarmut, das Tony Blair und er zu Beginn der ersten Labourregierung abgegeben hatten und das Brown nun erneut bekräftigte. Die Rente wieder an die Löhne anzukoppeln, freie Schulausbildung bis zum 18. Lebensjahr, kostenlose Tutoren für Schüler und eine Fülle anderer Wohltaten wie die Ausdehnung des Mutterschaftsurlaubs auf erst neun und dann zwölf Monate – all dies verlangt höhere staatliche Ausgaben.

 

Als Schatzkanzler der Regierung Blair hatte Brown bereits vor zwei Jahren eine scharfe Reduzierung der öffentlichen Ausgaben in der langfristigen Finanzplanung angekündigt. Das ist ein harter, aber notwendiger Schritt, damit die staatliche Verschuldung nicht ausufert. Doch als Premier hat Brown bislang darauf verzichtet, seiner Partei und der Öffentlichkeit reinen Wein einzuschenken. Es ist bis zu einem gewissen Grade verständlich, dass er in den ersten Wochen als Regierungschef nicht gleich unbequeme Dinge ankündigen möchte. Aber zumindest ein Hinweis darauf, dass Politik zwangsläufig harte Entscheidungen verlangt, weil sich eben nicht alles gleichzeitig realisieren lässt, wäre zweifellos angebracht. Sein Vorgänger besaß die Courage, auf der Notwendigkeit struktureller Reformen zu beharren, ob bei Schulen oder Krankenhäusern, und scheute auch nicht vor gelegentlichen Konflikten mit der Partei und den Gewerkschaften zurück. Es wird Gordon Brown nicht erspart bleiben, ebenso zu handeln. Sonst läuft er Gefahr, dass unvermeidliche Konflikte später, wenn wirklich unbequeme Entscheidungen anstehen, mit umso größerer Wucht ausbrechen werden.

 

Kein Zweifel, Gordon Brown ist sich all dessen sehr bewusst. Er war es, der zusammen mit Tony Blair in den neunziger Jahren auf die Reform der Labourpartei an Haupt und Gliedern drängte und entscheidend dazu beitrug, aus den Resten der schrumpfenden industriellen Arbeiterklasse, sozialen Aufsteigern und den breiten, professionellen Mittelschichten eine neue „Mehrheit der Aspiration“ zu schmieden.

Brown und Blair als Antipoden? Weit gefehlt!

Beim Blick auf die Bilanz der modernisierten britischen Sozialdemokratie besteht häufig die Neigung, Brown und Blair vor allem als Antipoden zu sehen: Hier der vormalige Regierungschef, im Herzen kein Labourmann, ein Fremdkörper, der für all das verantwortlich war, was den Parteiaktivisten zutiefst widerstrebte; dort der Schatzkanzler, im Grunde seines Herzens ein echter Labourmann, der Schlimmeres verhinderte und zugleich für all das verantwortlich war, was sich an der Bilanz sehen lassen kann.

 

Dieses Bild, das in verschiedenen Varianten auch durch die deutsche Sozialdemokratie geistert, ist falsch. Der Gegensatz zwischen Blair und Brown war vor allem dem Clash zweier außergewöhnlicher Charaktere geschuldet, die sich, bei allen Konflikten und trotz tiefer persönlicher Zerwürfnisse, am Ende doch zusammenrauften und gemeinsam für die bislang erfolgreichste Phase in der Geschichte der Labourpartei sorgten. Beide, Blair wie Brown, retteten die Partei vor der Selbstzerstörung; ihre Reformen verhinderten, dass Labour zu einer kleinen, fanatischen und in Doktrinen vernarrten Elite degenerierte, ohne Bezug zur Realität. Dieser Gefahr wäre die Labour Party in den achtziger Jahren um ein Haar zum Opfer gefallen.

 

Das Konzept von New Labour wurde von zwei ganz unterschiedlichen Persönlichkeiten gemeinsam entwickelt. Wobei sich der Erfolg einer Partei nicht zuletzt daran messen lässt, ob sie es schafft, dem politischen Gegner die eigene Politik aufzuzwingen – ob, in den Worten Winston Churchills, der Regierungschef fähig ist, „das Wetter zu machen“. Margaret Thatcher, von Blair und Brown gleichermaßen respektiert, war dies gelungen. Und der ehemalige Premierminister Tony Blair kann Gleiches für sich beanspruchen, auch wenn sein Schatzkanzler dabei eine unverzichtbare, ja überragende Rolle spielte.

 

Unter David Cameron haben die Tories New Labours „progressiven Konsens“ weithin akzeptiert – samt sanfter Umverteilung und Sozialstaatsreform, einschließlich der Priorität von Staatsausgaben gegenüber Steuerkürzungen, bis hin zu den gesellschaftspolitischen Veränderungen der vergangenen zehn Jahre, dokumentiert durch Maßnahmen wie Elternurlaub und freie Kinderbetreuung, Schwulenrechte und Antidiskriminierung. Die Tories achteten selbst unter dem Druck einer möglichen Wahl in diesem Herbst sorgfältig darauf, dass die von ihnen angekündigte Abschaffung der Erbschaftssteuer nicht zu Lasten der Staatsausgaben gehen würde, sie sollte durch neue Einnahmen finanziert werden, in diesem Fall durch neue Abgaben für reiche Ausländer.

 

Auch der Mindeststundenlohn, den New Labour gegen großes Geschrei und düstere Unkenrufe durchsetzte, ist inzwischen von Wirtschaft und Opposition voll akzeptiert. Gerade erst verfügte Gordon Brown seine Erhöhung auf 5,65 Pfund, umgerechnet rund 8,50 Euro.

 

All diese Maßnahmen zusammengenommen stehen für eine Transformation Großbritanniens nach einem Prinzip, das Will Hutton, einer der führenden Vordenker der Linken, als „liberalisierte Sozialdemokratie“ bezeichnet. Das Land ist wohlhabender, lockerer und toleranter geworden, doch zugleich wurden auch Kehrseiten sichtbar: Hedonismus, maßloser Konsum (die Briten sind hoch verschuldet) und exzessiver Alkohol- und Drogengenuss einer unterhaltungsgetränkten Gesellschaft deuten auf die „Illusion der Veredelung“ hin, für die linke Parteien stets anfällig sind: Mit wachsendem Massenwohlstand werden die Menschen nicht unbedingt glücklicher, wie diverse Untersuchungen und Studien der Zufriedenheitsforschung belegen. Dagegen zeugen Fernsehen und Internet mehr und mehr von den vulgären, dunklen Seiten menschlicher Natur.

„Reformiert euch oder sterbt!“

Ausgezogen war das Gespann der Jungtürken Blair und Brown einst, um ihre Partei und ihr Land zu modernisieren und zugleich der europäischen Sozialdemokratie den Weg zu weisen. „Refomiert euch oder sterbt“, riefen Blair wie Brown den Parteien der linken Mitte zu und empfahlen ihnen den „Dritten Weg“. Die Arroganz, die da gelegentlich mitschwang, sorgte hier und da in Europa für Irritationen. Aber die Geschichte gab ihnen Recht.

 

Drei Wahlsiege in Folge bezeugen New Labours Ausnahmestellung. Im europäischen Kontext konnten sich die britischen Sozialdemokraten als dauerhaft erfolgreiche Kraft etablieren. In Deutschland hingegen verflüchtigte sich die „Neue Mitte“ Gerhard Schröders; der kaum verbrämte Drang, die Agenda 2010 aufzugeben, statt sie als eine der wesentlichen Ursachen des Aufschwungs herauszustreichen, greift in der SPD immer weiter um sich. Die Sehnsucht wächst, sich wieder ausschließlich als Partei der sozial Schwachen und „Betriebsrat der Gesellschaft“ zu etablieren, obwohl der Blick zurück zeigt, wohin solch ein Retrotrend unweigerlich führt, nämlich zum Abschied von der Macht und damit von der Möglichkeit, die Gesellschaft zu gestalten.

 

Schweden schickte seine Sozialdemokraten, die von einer Überdosis Multikulturalismus nicht lassen mochten, in die Opposition. In den Niederlanden rettete sich die geschwächte PvdA in eine große Koalition. Und Frankreichs unreformierten, vielleicht sogar unreformierbaren Sozialisten verloren gegen Nicolas Sarkozy, der aus seiner Bewunderung für das angelsächsische Modell keinen Hehl macht.

 

Angesichts der wachsenden Versuchung mancher sozialdemokratischer Parteien in Europa, den Weg zurück in die Vergangenheit zu beschreiten, lohnt es sich, die Gründe für Labours Erfolg in Erinnerung zu rufen. Zum einen war da New Labours Wirtschafts- und Sozialpolitik, konzipiert weitgehend von Gordon Brown: die Kombination aus ökonomischer Effizienz, flexiblem Arbeitsmarkt und dem durchaus ansehnlichen Versuch, für mehr soziale Gerechtigkeit zu sorgen. Auch lernte die Partei, das Marktprinzip uneingeschränkt zu bejahen. Damit verbunden war das stillschweigende Eingeständnis, dass die Rechte die ökonomische Debatte gewonnen hatte.

Fast zwei Millionen neue Arbeitsplätze

Als Geniestreich erwies sich Gordon Browns Entscheidung, die Bank von England in die Unabhängigkeit zu entlassen. Denn die „Entpolitisierung“ der Leitzinspolitik, die fortan Fachleuten oblag, beendete die „Boom and Bust“-Zyklen, reduzierte die Inflation und sorgt bis heute für stetiges Wachstum ohne Überhitzung. Zugleich trug Labour in den ersten Regierungsjahren die Verschuldung der öffentlichen Hand auf 38 Prozent des Bruttosozialprodukts ab. Zum Vergleich: In Frankreich und Deutschland liegt diese Quote bei 60 Prozent. Fast zwei Millionen neue Arbeitsplätze entstanden und sorgten für einen Beschäftigungsrekord.

 

Die zweite Voraussetzung für den Erfolg von New Labour war eine Gesellschaftspolitik, die auf einem realistischeren Bild vom Menschen und seiner Natur basierte. Es war Brown, der den Slogan „Hart gegen Verbrechen und hart gegen die Ursachen von Verbrechen“ prägte. Damit beendete er die auf der Linken bis dahin vorherrschende Neigung, Kriminelle in erster Linie als „Opfer“ zu betrachten und darüber die wirklichen Opfer zu vergessen, zumeist Menschen aus sozialdemokratischen Wählerschichten. Blair und seine Mitstreiter scheuten sich also nicht, heilige Kühe der Linken zu schlachten. Labourpolitiker sprachen fortan von der „individuellen Verantwortung“ für Verbrechen, betonten das Recht der Menschen, geschützt zu werden – „wir können nicht warten, bis die ideale Gesellschaft verwirklicht worden ist“ – und forderten, es müsse Schluss sein mit der „paternalistisch-wohlmeinenden Hinnahme von Rowdytum, Aggression und antisozialem Verhalten“. Mit der späteren „Respekt“-Kampagne und der Einführung von „Asbos“, Maßnahmen zur Eindämmung antisozialen Verhaltens, verfolgte die Labour-Regierung das Ziel, die Gesellschaft zu remoralisieren. Allerdings erweist sich dies in einer freien Gesellschaft als schwieriges Unterfangen und brachte Labour den Vorwurf ein, „autoritäre Neigungen“ zu hegen. Gleichwohl deutet alles draufhin, dass auch Gordon Brown diese Linie beibehalten, ja noch verschärfen wird.

 

Natürlich ist New Labour in der Vergangenheit nicht alles gelungen. Die Ungleichgewichte, die ein freier, globalisierter Markt zwangsläufig erzeugt, vermochte Labour zwar durch Elemente der Umverteilung zu lindern, durch das Mindestgehalt sowie Unterstützung für die „working poor“. Allerdings entpuppten sich Steuerkredite, entworfen von Gordon Brown, als äußerst komplizierte und bürokratische Maßnahmen. Sie zwangen den Staat dazu, im vergangenen Jahr gut zwei Milliarden Pfund an zuviel ausgezahlten tax credits abzuschreiben – gewissermaßen ein unbeabsichtigter, aber gern akzeptierter Beitrag zu weiterer Umverteilung.

 

Auch vermochte Labour nicht, die Kluft zwischen Oben und Unten in der Gesellschaft zu verringern. Blair und Brown glaubten zunächst, das Problem ignorieren zu können, wichtiger war ihnen wachsender Wohlstand für alle. Doch die potenzielle Sprengkraft des Themas wird Labour dazu zwingen, nach neuen Rezepten zu suchen. Der Spielraum dafür bleibt begrenzt, allein wegen der überragenden Bedeutung der City für Großbritanniens Wirtschaft. Gordon Browns Steuervergünstigungen für ausländische Banken und Unternehmen der Private-Equity-Branche sorgten dafür, dass London zum führenden Finanzzentrum der Welt aufstieg. Diesen Status wird der neue Premier schwerlich gefährden wollen.

Unkritischer Enthusiasmus für riesige IT-Projekte

Durchwachsen ist die Bilanz auf Feldern, die Tony Blair als zentrale Aufgabe seiner Regierung benannt hat. Ziel war es, den Sozialstaat derart zu reformieren, dass er den Erwartungen der gehobenen Mittelschichten genügen und ihre Abwanderung in die private Versorgung verhindern würde. Gewiss haben die gewaltigen Summen, die in Erziehung und Gesundheit flossen, für bessere Schulen und Hospitäler gesorgt; zehntausende neuer, besser bezahlte Ärzte und Krankenschwestern wurden eingestellt. Auch gingen die Wartezeiten für Arzttermine und für Operationen drastisch zurück. Doch der Koloss des staatlichen National Health Service (NHS) bleibt eine Anomalie. Aus gutem Grund schloss sich kein Land der Welt dem britischen Vorbild an: Der NHS produziert und benötigt zu viele Manager und Verwalter, Effizienzgewinne lassen sich da nur schwer erzielen. Bürokratie und Zentralisierung erweisen sich als fortwährendes Problem. Allein 20 Milliarden Euro flossen in ein gigantisches IT-Projekt, das einfach nicht funktionieren will und derzeit wieder überarbeitet werden muss.

 

Im allzu oft unkritischen Enthusiasmus der Regierung für riesige IT-Projekte schimmert die Begeisterung progressiver Parteien für die Verheißungen des technischen Fortschritts durch. Zugleich offenbarte sich in New Labours Politik der vergangenen zehn Jahre der ungebrochene Glaube auch modernisierter Sozialdemokraten, durch zentralisierte Feinsteuerung und Mikromanagement lasse sich die Gesellschaft perfektionieren und menschliches Verhalten verbessern, sofern nur die richtigen Strukturen geschaffen würden.

 

In der Bildungspolitik wurde manches besser, aber einige Ziele wurden verfehlt, wie die immer noch unzureichenden Fähigkeiten britischer Schulabgänger in Grundkenntnissen wie Lesen, Schreiben und Rechnen belegen. Die falschen Weichenstellungen der Bildungspolitik zu korrigieren, die in den vergangenen Jahrzehnten vorgenommen wurden, braucht offenkundig mehr Zeit; beharrende Kräfte in der Partei und den Bildungsinstitutionen machen Reformen auf diesem Gebiet nicht leichter.

 

Kaum wahrgenommen, doch gravierend in ihren Auswirkungen sind Veränderungen des politischen Systems in Großbritannien. Mit dem Abgang Blairs wurde das letzte Kapitel starker, britischer Zentralregierungen geschlossen. Das britische System wird künftig mehr und mehr dem deutschen gleichen, im Guten wie im Schlechten. Die Föderalisierung schreitet unaufhaltsam voran. So hat Blair Schottland mehr Autonomie zugestanden, wo nun die Nationalisten eine Minderheitsregierung gebildet haben und nach voller Souveränität streben – ein weiterer Grund für Gordon Brown, auf die Herbstwahl zu verzichten, schließlich muss Labour mit weiteren Verlusten an die Scottish National Party rechnen. Auch Wales hat zusätzliche Rechte bekommen; erstmals bilden die walisischen Nationalisten als Juniorpartner zusammen mit Labour die Regierung. Größere politische Selbständigkeit genießt ebenfalls das befriedete Nordirland (einer der uneingeschränkten Erfolge Tony Blairs), wobei auch dort mit der katholischen Sinn Fein eine Partei mitregiert, die das Vereinigte Königreich verlassen möchte.

 

Alle diese Faktoren werden künftig die Politik in Westminster prägen. Das Verhältniswahlrecht in den Regionen zwingt zu Koalitionen und Kompromissen, Gesetzgebung für das gesamte Königreich wird seltener und schwerer durchzusetzen. Die europäische Menschenrechtscharta, seit dem Jahr 1999 Teil der britischen Verfassung, hat zu einem wachsenden Einfluss der Gerichte geführt und die Handlungsfreiheit von Parlament und Exekutive gemindert. Die Reform des Oberhauses, in dem künftig gewählte Volksvertreter sitzen sollen, wird diesen Trend weiter verstärken.

 

Nach nur drei Monaten Amtszeit hat Gordon Brown am eigenen Leibe erfahren müssen, wie rasch das Verfallsdatum von Politikern in einer hektischen Mediendemokratie ablaufen kann. Gewiss können es Regierungen und Politiker übertreiben mit dem, was gemeinhin als „Spin“ bezeichnet wird. Doch keine Regierung kann in den modernen Mediendemokratien, in denen rund um die Uhr Aufregung herrscht und die Jagd auf Stories zu einem dauerhaften Darwinschen Wettstreit geführt hat, ohne eine Medienstrategie überleben.

 

Wer wüsste das besser als Tony Blair, dem der Ruf anhängt, „König des Spin“ zu sein? Was zu dem abfälligen Urteil führte, seine Politik sei „all spin, no substance“. In Wahrheit war es zumeist umgekehrt: Oft verstellte schlechte Präsentation den Blick auf handfeste Resultate. Präsentation war nicht die Stärke, sondern die Schwäche von New Labour. Jedenfalls in den letzten Jahren seiner Amtszeit handelte Blair zumeist, ohne auf mediale Zustimmung oder die eigene Popularität Rücksicht zu nehmen. Dabei ist er nach wie vor überzeugt davon, dass die Geschichte zu einem positiven Urteil sogar über das umstittenste Kapitel seiner Amtszeit gelangen wird: die Entscheidung, in den Irak-Krieg zu ziehen und dafür das große sozialdemokratische wie europäische Schisma in Kauf zu nehmen. Auf das Für und Wider dieses Streits soll hier nicht eingegangen werden. Das griffige, selbst von eigentlich klugen Köpfen bemühte Bild, Blair sei der „Pudel Amerikas“, der sklavisch hinter George W. Bush in den Krieg tappte, hat nie gestimmt.

Interventionist war Blair schon lange vor Bush

Schon früh in seiner Amtszeit, im November 1997, trieb den frisch gebackenen Premier der Gedanke an das mörderische Regime Saddam Husseins und seine Massenvernichtungswaffen um. Blair war ein ethischer Interventionist lange bevor sich Bush nach Nine-Eleven für eine präemptive Strategie entschied.

 

Blair verabscheute die zynische Realpolitik des Westens und der Vereinten Nationen gegenüber dem auseinanderfallenden Jugoslawien. Die Politik der Nichteinmischung hatte Genozid und massenhafte ethnische Säuberungen möglich gemacht. So wurde der Brite zur treibenden Kraft einer Intervention im Kosovo und stieg zum Advokaten einer ethisch fundierten Sicherheitspolitik auf, die abrückte von der 350 Jahre alten Doktrin der Nichteinmischung. Er plädierte für den gerechten Krieg gegen Diktatoren und Unrechtsregime und beschwor die Gefahr, die aus failed states wie Somalia und Afghanistan erwachsen könne. In einer programmatischen Rede in Chicago umriss Blair 1999 Bedingungen für solche Interventionen und benannte zugleich ihre praktischen Grenzen.

 

Der Irak-Krieg hat den „ethischen Interventionismus“ diskreditiert und seinen prominentesten Befürworter nachhaltig beschädigt. Blair hält die Entscheidung nach wie vor für gerechtfertigt. Seiner Ansicht nach wurde im Irak ein blutrünstiger Diktator beseitigt und dem Land eine demokratische Zukunft ermöglicht. Nach wie vor beharrt er darauf, die Entscheidung sei durch internationales Recht gedeckt gewesen.

 

In linken und liberalen Zirkeln, die in den achtziger Jahren gegen die Realpolitik des Westens Sturm liefen und Aktionen gegen den brutalen irakischen Diktator verlangten, hat eine Realpolitik à la Bush Senior und James Baker Hochkonjunktur. Doch auch sie müssen sich unbequemen Fragen stellen: Können sich die Demokratien der Welt und die Vereinten Nationen damit begnügen, es bei einer Doktrin der Nichteinmischung zu belassen – in einer Welt wachsender Interdependenz, neuer Technologien und grenzüberschreitenden Terrors? Blair und Brown, die sich beide der Gefahr des militanten Islamismus bewusst sind, halten dies für undenkbar. Vor dem Irak-Krieg hatte selbst UN-Generalsekretär Kofi Annan das uneingeschränkte Primat staatlicher Souveranität bezweifelt und auf die Menschenrechtscharta der Vereinten Nationen und die Ächtung der Folter verwiesen, die das Prinzip bereits einschränkten.

Am Ende siegen immer die Revisionisten

Eine andere Frage ist, ob postheroische Demokratien, die ohnehin wenig Neigung zeigen, das Leben ihrer Bürger fernab der Heimat in militärischen Aktionen aufs Spiel zu setzen, überhaupt noch den Willen zu solchen Missionen besitzen. Es wäre eine betrübliche Folge des Krieges gegen den Irak, wenn Interventionen wie in Osttimor, im Kosovo und in Afghanistan nicht mehr durchzusetzen wären. In Darfur und Burma lassen sich die bedauerlichen Folgen solch einer Politik bereits besichtigen.

 

Beim Thema Irak erweckt Gordon Brown derzeit den Eindruck eines Kurswechsels, der ihn von seinem Vorgänger abnabeln soll. In Wahrheit einigten sich die politische und die militärische Führung Großbritanniens bereits vor gut zwei Jahren auf den Zeitplan für den Abzug britischer Truppen. Auch wird Browns Engagement für Afrika oder Burma, ganz zu schweigen von der Situation im Iran, auch ihm schon bald unbequeme und unpopuläre Entscheidungen abverlangen.

 

Wie dauerhaft das Projekt New Labour sein wird, hängt nicht nur von der Bereitschaft des neuen Premiers ab, den eingeschlagenen Pfad weiterzumarschieren, sondern auch davon, ob Fehler korrigiert werden, die zum Teil aus traditionellen sozialdemokratischen Glaubenssätzen erwuchsen. Mit seinen aktuellen wahltaktischen Manöver hat Brown den Eindruck erweckt, er wolle der Sehnsucht des eigenen Parteivolkes nach einer traditionelleren Politik nachgeben. Dieser Eindruck dürfte sich rasch verflüchtigen. Brown weiß, dass New Labour von ganz anderer Seite Gefahr droht, nämlich von Wählern, die verängstigt sind angesichts poröser Grenzen und eines ungebremsten Zustroms von Einwanderern. Deshalb verfolgt Brown den Plan, eine Grenzpolizei zu schaffen und ein Punktesystem für die Einwanderung qualifizierter Arbeitskräfte einzuführen.

 

Die britische Bevölkerung ist beunruhigt angesichts der Gefahr des radikalen Islamismus – deshalb der Abschied von der Ideologie des Multikulturalismus, die die Gräben in der Gesellschaft nur vertieft hat. An die Linke ist Gordon Browns Mahnung gerichtet, Labour müsse stets eine Politik für alle machen: nicht nur für Arbeitnehmer, sondern auch für Unternehmer. Eine Lehre scheinen der neue wie der alte Labourpremier gleichermaßen verinnerlicht zu haben: Am Ende haben immer die Revisionisten gesiegt. Manchmal hat es allerdings etwas länger gedauert.

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