Nie mehr zweite Liga
Die deutsche Familienpolitik funktioniert nicht. Familienpolitik verfolgt in der Regel ein ganzes Bündel von Zielen: Sie soll die Geburtenrate wenigstens auf einem Niveau halten, das die Reproduktion der Bevölkerung gewährleistet; sie soll dazu beitragen, dass mehr Frauen einen Beruf ausüben können; sie soll Kinderarmut verringern; sie soll die Entwicklung von Kindern fördern, indem sie Betreuungsdienstleistungen zur Verfügung stellt; und sie soll mithelfen, die Lücke zwischen den Einkommen von Männern und Frauen zu schließen. Unsere Tabelle (S. 31 [Printversion]) zeigt sechs mögliche Ziele von Familienpolitik auf. Legt man diese Messlatte an, dann stehen einige wenige Länder unter den meisten Gesichtspunkten gut da – Dänemark und Island zum Beispiel. Andere Länder erreichen bei manchen Kriterien gute Ergebnisse, bei anderen aber nicht. Englischsprachige Länder beispielsweise weisen zumeist gute Resultate im Hinblick auf die Verbindung von Arbeit und Familie auf, leiden aber zugleich unter hohen Raten von Kinderarmut – im Wesentlichen eine Folge niedriger Beschäftigungsquoten alleinstehender Eltern.
Und Deutschland? Unter den 30 Staaten der Organisation für Wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) weisen nur Korea und die Slowakei ähnlich schlechte Ergebnisse auf.
Warum tut sich Deutschland so schwer? Größtenteils deshalb, weil sich die deutsche Politik nicht darauf verständigen kann, welche Ziele sie vorrangig verfolgen will. Die Länder mit den besten familienpolitischen Ergebnissen konzentrieren sich zuallererst darauf, dass Eltern – vor allem Mütter – Erwerbstätigkeit und Familienleben durchgängig gut miteinander verbinden können. In Deutschland dagegen ist es für viele Menschen schwer, Arbeit und Elternschaft in Einklang zu bringen, was zu einer geringen Beschäftigungsquote führt und dazu, dass zu wenige Babys geboren werden: Die Frauenerwerbsquote in Deutschland lag im Jahr 2005 um 6,5 Prozent unter dem OECD-Durchschnitt von 61,5 Prozent; zugleich bringen Frauen in Deutschland im Durchschnitt nur 1,3 Kinder zur Welt, während der OECD-Durchschnitt 1,6 Kinder pro Frau beträgt. Die Schwierigkeit, Arbeit und Familie in Einklang zu bringen, veranlasst viele Deutsche dazu, das Kinderkriegen aufzuschieben. Nicht selten ist es dann irgendwann ganz zu spät: Etwa 36 Prozent aller Frauen in Deutschland im Alter zwischen 41 und 44 Jahren sind und bleiben kinderlos – doppelt so viele wie zum Beispiel in Schweden.
Keine Betreuung, keine Arbeit
Es gibt viele Eltern, die ihre beruflichen Erwartungen gerne zurückstecken, um sich ganz und gar um ihre Kinder kümmern zu können. Zugleich aber gibt es viele andere, die gerne berufstätig wären oder mit höherer Stundenzahl arbeiten möchten. In Deutschland jedoch können viele Eltern ihre Beteiligung am Arbeitsmarkt nicht ausdehnen, weil sie keinen Zugang zu Betreuungseinrichtungen für Klein- und Schulkinder haben. Im Jahr 2004 betrug in Deutschland die Krippenbetreuungsrate aller Kinder zwischen 0 und 2 Jahren nur 9 Prozent, während sie im Durchschnitt der OECD-Staaten bei 23 Prozent lag. Das führt unter Frauen mit Kindern zu einer niedrigen Arbeitsplatzbindung, was wiederum zu großen Einkommensdifferenzen zwischen Männern und Frauen sowie zur hohen Rate von Kinderarmut in Deutschland beiträgt. So steigt etwa das Risiko um das Dreifache, dass die Kinder von alleinerziehenden Eltern in Armut aufwachsen, wenn diese nicht berufstätig sind.
Es liegt nicht am Mangel an finanzieller Unterstützung, dass die familienpolitischen Ergebnisse in Deutschland im Vergleich so schlecht ausfallen: In Deutschland werden für entsprechende Leistungen 3 Prozent des Bruttosozialprodukts aufgewendet, im OECD-Durchschnitt dagegen nur 2,4 Prozent. Dass die Resultate trotzdem so schlecht sind, weist darauf hin, dass Deutschland seine öffentlichen Mittel ineffizient einsetzt. Die Herausforderung besteht darin, eine optimale Ausgabenmischung zu erreichen: zwischen finanzieller Unterstützung für Familien mit Kindern (entweder in Form von Direktzahlungen oder über das Steuersystem) auf der einen Seite und Betreuungseinrichtungen und Lohnersatzleistungen für Eltern auf der anderen. Einer der Gründe, warum Dänemark, Island und Schweden sowie (etwas weniger) Finnland, Frankreich und Norwegen so erfolgreich sind, liegt darin, dass die Familienpolitik in diesen Ländern für ein Kontinuum der Unterstützung sorgt: Eltern werden zu Hause unterstützt, wenn ihre Kinder noch ganz klein sind; anschließend bekommen sie einen Platz in einer Betreuungseinrichtung, in einer Vorschule, später in Schule und Hort; und dies alles wird unterlegt durch die Zahlung eines mäßigen, aber universellen Kindergeldes.
In allen diesen erfolgreichen Ländern betragen die Ausgaben für Dienstleistungen der Kinderbetreuung mindestens 40 Prozent der öffentlichen Gesamtausgaben für Familien. Im Gegensatz dazu entfällt auf Dienstleistungen in Deutschland nur ein Viertel der gesamten Aufwendungen. Die deutsche Familienpolitik konzentriert sich noch immer primär darauf, Eltern finanziell zu unterstützen; sie gibt aber wenig Hilfestellung, wenn Eltern erwerbstätig sein möchten. Der gegenwärtig in Deutschland diskutierte Vorschlag eines „Betreuungsgeldes“ für Eltern, die sich über längere Zeit ganztägig um ihre Kinder kümmern und keine externe Betreuung in Anspruch nehmen, wäre in diesem Sinne ein Schritt zurück zu einem Politikmodell, das seine Ziele verfehlt.
Frauen, kehrt an euren Arbeitsplatz zurück!
Stattdessen müsste Deutschland weiter in die Richtung vorangehen, die im vergangene Jahr mit dem Elterngeld eingeschlagen worden ist. So enthält die Verkürzung der Bezugsdauer des Elterngeldes auf ein Jahr die klare Botschaft: Frauen sollten darüber nachdenken, wieder an ihren Arbeitsplatz zurückzukehren. Die Reform weist allerdings eine Lücke auf, da für einjährige Kinder nicht genug Betreuungseinrichtungen zur Verfügung stehen und die Öffnungszeiten der bestehenden Kindergärten für etwas ältere Kinder den Bedürfnissen von Eltern mit Vollzeitarbeitsplätzen nicht entsprechen. Wenn Väter mehr Zeit mit ihren Kindern verbrächten, würde dies Müttern helfen, die gerne erwerbstätig wären. Die Reform des Jahres 2007 sieht zusätzliche Zahlungen vor, die allein der jeweilige Partner beziehen kann – mit dem Ergebnis, dass die Inanspruchnahme von Elternzeit durch Väter zwischen Januar und August 2007 von 3,5 auf 8,5 Prozent angestiegen ist.
Was sollte noch getan werden, damit Deutschland in der OECD-Tabelle die Abstiegsplätze verlässt? Zwei Dinge sind hier am wichtigsten: Zum einen kommt es darauf an, die Betreuungsleistungen für Kinder erwerbstätiger Eltern zu verstärken; zum anderen sollten finanzielle Anreize zur Nichterwerbstätigkeit abgebaut werden.
Es gibt viele Möglichkeiten, den Ausbau der Kinderbetreuung zu fördern. Anbieter können finanzielle Förderung für ihre Investitionen erhalten oder dafür, dass sie Dienstleistungen in benachteiligten oder dünn besiedelten Regionen oder für die Betreuung von Kindern mit besonderen Bedürfnissen anbieten. Auch könnten, wie in Australien und den Niederlanden, zusätzliche Betreuungsangebote im privaten Sektor entstehen, wenn dafür die richtigen Anreize gesetzt werden. Die Stärkung der Nachfrage durch die Eltern, etwa durch subventionierte Betreuungsgutscheine, kann zu einer besseren Versorgung mit Betreuungsangeboten beitragen. Die Belastung der öffentlichen Haushalte lässt sich dadurch im Griff behalten, dass Leistungen einkommensabhängig angeboten werden oder nur denjenigen zugute kommen, die sie am dringendsten benötigen. Schließlich kann die finanzielle Unterstützung für elterliche Betreuungskosten an die Arbeitsstundenzahl gekoppelt werden, um sicherzustellen, dass diejenigen die höchste Unterstützung erhalten, die am meisten arbeiten. Selbstverständlich sollte die öffentliche Finanzierung von (privaten) Anbietern streng daran geknüpft werden, dass diese klar geregelte Qualitätsstandards einhalten.
Runter von den Abstiegsplätzen
Das deutsche Steuer- und Sozialleistungssystem enthält verschiedene Elemente, die es für mögliche Zweitverdiener wenig reizvoll machen, mit voller Stundenzahl zu arbeiten: das Ehegattensplitting, die steuerbefreiten Minijobs und die kostenlose Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Ehepartnern wirken in diese Richtung. Zweitverdiener müssen durchschnittlich 50 Prozent Steuern und Abgaben auf jeden Euro entrichten, den sie verdienen – mehr als in den meisten anderen Staaten der OECD. Es sollten Maßnahmen ergriffen werden, um Erwerbsarbeit in Familien mit zwei Elternteilen für beide Eltern zur attraktiven Option zu machen.
Die Erfahrungen anderer Länder belegen: Bessere familienpolitische Ergebnisse werden dort erzielt, wo man sich darauf konzentriert, denjenigen Eltern zu helfen, die gerne berufstätig sein möchten. Dies bedeutet, dass die Politik die Eltern differenziert unterstützen muss, je nach Alter der Kinder: Auf eine kurze Phase bezahlter Elternzeit sollten bezahlbare Betreuung und später hochwertige Horte nach der Schule folgen. Alle Länder mit guter familienpolitischer Bilanz verfolgen diesen Ansatz. Will Deutschland in Sachen Familienpolitik die Abstiegsplätze innerhalb der OECD verlassen, dann sollte es ebenfalls genau diesen Weg gehen.
Die in diesem Artikel vertretenen Auffassungen sowie jegliche Fehler sind allein die der Autoren; sie können nicht der OECD oder den Regierungen ihrer Mitgliedsländer zugeschrieben werden.
Aus dem Englischen von Tobias Dürr