No More Leading From Behind
„Wir werden uns abgewöhnen müssen, von allen und jedem geliebt werden zu wollen, denn das ist für eine Macht in der Mitte nicht möglich, wenn sie ihren Aufgaben gerecht werden will.“ Das schreibt der Berliner Politologe Herfried Münkler gegen Ende seines ebenso klugen wie konzisen Essays, in dem er – auch wenn er das so klar nicht sagt – für ein deutsches Europa plädiert. Den meisten seiner Ausführungen kann man zustimmen. Und dennoch bleibt nach der Lektüre ein mulmiges Gefühl. Dazu später mehr.
Münkler beginnt mit der Geschichte der europäischen Integration, die streckenweise eine Krisengeschichte ist. Die Osterweiterung der EU hat Deutschland auch geografisch in die Mitte Europas gerückt. Zugleich haben sich die Vereinigten Staaten nach dem Ende der Blockkonfrontation sukzessive aus Europa zurückgezogen und ihre politischen und wirtschaftlichen Interessen in Richtung Asien verlagert. Dieser Trend wird sich fortsetzen. Das hat dazu geführt, dass sich die EU heute in der Rolle einer regionalen Ordnungsmacht befindet, die in der Lage sein muss, mit ihren inneren und äußeren Problemen eigenständig zurechtzukommen. Dass die EU dazu in der Lage sei, stellt Münkler mit Fug und Recht in Frage.
Die Friedensdividende ist verfrühstückt
Denn Europa hat sich seit dem Ende des Kalten Krieges beharrlich geweigert, seine Rolle als weltpolitischer Akteur neu zu definieren. Stattdessen hat man die Vorzüge der „Friedensdividende“ ausgekostet. Militärische Ressourcen und Fähigkeiten wurden abgebaut, während die wirtschaftlichen Erträge in den Konsum flossen. Auch folgte man der Devise, dass Ruhe und Wohlstand am besten durch das Fernbleiben von den Krisenherden dieser Erde zu bewahren seien.
Erreicht wurde damit jedoch das Gegenteil. Südeuropa ist mittlerweile mehrheitlich meilenweit von jeder Wettbewerbsfähigkeit entfernt. Dazu kommt ein Ausmaß an Überschuldung, das die Tragfähigkeit der politischen und sozialen Systeme an seine Grenzen und vereinzelt darüber hinaus geführt hat. Derzeit ist völlig offen, ob sich der Süden Europas absehbar wirtschaftlich erholen oder langfristig am Tropf internationaler Ausgleichsfinanzierung hängen wird.
Eskalation der Schuldzuweisungen
Damit einher geht das Anwachsen populistischer und antieuropäischer Kräfte. In den Krisenländern rührt der Zulauf daher, dass die Arbeitslosenzahlen steigen und man sich vom Norden – allen voran von Deutschland – auf diffuse Art ungerecht behandelt und bevormundet fühlt. In den stabileren Staaten des Nordens hingegen fühlen sich die Gesellschaften von der jahrelangen Inkompetenz der Regierungen im Süden ausgenutzt, deren finanzielle Misere – so die Sorge – über kurz oder lang nur durch die Vergemeinschaftung der Schulden aufgefangen werden kann. Diese Debatten dürften sich in den kommenden Monaten noch verstärken. Es droht eine Spirale der gegenseitigen Schuldzuweisungen, der zu entrinnen dem Aufdröseln des Gordischen Knotens gleicht. „Es ist zu einem regelrechten Hochkochen nationaler Ressentiments und Aversionen gekommen“, schreibt Münkler mit Blick auf die Jahre seit dem Ausbruch der Finanz- und Staatsschuldenkrise 2008 / 09.
Deutsche Führung zum Nutzen Europas
Zugleich steht Europa außen- und sicherheitspolitisch vor gravierenden Herausforderungen. Die Flüchtlingsströme in Folge des Staatenzerfalls in unmittelbarer Nachbarschaft zu Europa stellen unseren Kontinent vor ein humanitäres und sicherheitspolitisches Dilemma, das, wenn überhaupt, nur gemeinschaftlich zu lösen sein wird. Der Konflikt um die Krim, der Krieg in der Ukraine und die Sorge vor weiterem russischem Expansionsstreben zeigen, dass bewaffnete Konflikte und sogar Kriege an der Peripherie Europas weiterhin ein realistisches Szenario sind.
Münklers Zustandsbeschreibung des europäischen Integrationsprojekts fällt schonungslos aus. Damit unterscheidet er sich wohltuend vom politischen Diskurs, in dem die Risiken der Rettungspolitiken eher untertrieben und die Positivmeldungen gerne aufgeblasen werden. Die größte Gefahr für die europäische Integration erkennt er in den nationalen Fliehkräften. Den zentrifugalen Dynamiken, hervorgerufen durch hohe Arbeitslosigkeit und wirtschaftliche Stagnation sowie befeuert von politischen Parteien an den Rändern, will er mit einer starken Kraft des „Zentripetalen“ entgegentreten. Diese „Macht in der Mitte“, davon ist Münkler überzeugt, kann nach Lage der Dinge nur Deutschland sein.
Was aber zeichnet Deutschland als eine solche „Macht in der Mitte“ aus? Leider bleiben Münklers Ausführungen hierzu eher vage. Er verweist darauf, dass Deutschland von den meisten Problemen des Kontinents unmittelbar betroffen ist. Während sich Polen und Balten von der russischen Expansionspolitik direkt bedroht fühlen, ist dies in Spanien und Italien nicht der Fall. Für diese Länder besteht die größte Herausforderung darin, den Flüchtlingsströmen auf dem Mittelmeer Herr zu werden. Deutschland als Mittelmacht hingegen kann sich weder vor dem einen noch dem anderen verschließen, erst recht nicht, nachdem die Vereinigten Staaten ihren Führungsanspruch in Europa aufgegeben haben. Daraus folgt, so Münkler, dass das Interesse Deutschlands „am ehesten mit dem Gemeinwohl des Gesamtverbundes kompatibel ist“. Ob das Griechen, Italiener oder Portugiesen auch so sehen, lässt er offen.
Die Aufgabe Deutschlands sei es, den europäischen Willensbildungsprozess zu moderieren und dafür zu sorgen, dass niemand von den getroffenen Beschlüssen abweicht. Dazu bedarf es Führungsstärke. Diese müsse mit Bedacht und Augenmaß ausgeübt werden, um ein weiteres Auseinanderdriften der Staaten zu verhindern.
Auch eine aktivere Rolle Deutschlands in der Außen- und Sicherheitspolitik gehört für Münkler dazu. Das bedeute zwar nicht, dass man sich künftig an jedem Militäreinsatz beteiligen müsse. Aber eine Fortsetzung der bisherigen Linie, militärische Einsätze mehr oder weniger kategorisch auszuschließen und sich auf medizinische Unterstützungsleistungen oder Ausbildungsmissionen zu beschränken, sei zu wenig. Das seit Jahren praktizierte leading from behind reiche nicht mehr aus. Stattdessen sei es an der Zeit, dass Deutschland sich zu seinem Führungsanspruch bekenne und diesen in den Dienst der europäischen Sache stelle.
Kann das gutgehen? Münkler meint ja, denn Deutschland habe aus seiner Geschichte gelernt. Mehr noch: Ausgerechnet aus der Geschichte leitet Münkler einen Gutteil der deutschen Führungslegitimation im 21. Jahrhundert ab. Gerade wegen seiner Geschichte sei Deutschland auf alle Zeit von seiner einstigen Großmannssucht befreit. Das lasse sich auch daran erkennen, dass populistische Bewegungen in Deutschland kaum mehr einen Nährboden fänden.
Tatsächlich fußt Münklers Konzept eines von Deutschland geführten Europas tief in der deutschen und europäischen Geschichte. Stabilität sei in Europa stets eng an die Existenz eines starken Hegemon geknüpft gewesen. Münkler verweist auf die Jahre nach der deutschen Reichsgründung 1871, als Deutschland schon einmal die Rolle der starken Macht in der Mitte Europas innehatte, flankiert von einem geschwächten Frankreich und einem Großbritannien, dessen primäres Interesse nicht dem Kontinent galt. Die wachsenden Spannungen zwischen den europäischen Mächten in den Jahren nach 1890 begründet er mit einer „Fülle von Ungeschicklichkeiten und vermeidbaren Fehlern“, die unter einer anderen politischen Führung und Regierungsform grundsätzlich zu verhindern gewesen wären. Unter Rekurs auf Max Weber ist Münkler daher zuversichtlich, dass ein demokratisches Deutschland „den Herausforderungen gewachsen sein kann, an denen die Deutschen zu Beginn des 20. Jahrhunderts gescheitert sind“.
Dass mag zutreffen oder auch nicht – überprüfen kann es niemand. Wenig überraschend und sogar verständlich wäre es hingegen, wenn sich in den übrigen europäischen Staaten ein gewisser Widerwille gegen einen so begründeten deutschen Führungsanspruch breitmachen dürfte. Ganz kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass bei Münklers Konzept von Deutschland als der dominierenden „Macht in der Mitte“ stets auch der Gedanke mitschwingt, zu einer Art historischem „Normalzustand“ zurückzukehren.
Nicht allen gefällt deutsche Dominanz
Und genau da liegt das Problem. Münkler will die nationalistischen Fliehkräfte in Europa bändigen, indem er ihnen eine deutsche Führungsrolle entgegenstellt, die im Kern der Funktionsweise der europäischen Nationalstaatenordnung des 19. Jahrhunderts entspricht – eine Ordnung, deren Überwindung seit jeher zu den vornehmsten Zielen der europäischen Einigung zählt. Da hilft es auch nicht, dass Münkler gegen Ende seines Buches die Notwendigkeit einer intensiven deutsch-französischen und zunehmend auch deutsch-polnischen Zusammenarbeit betont, ohne die keine Führung aus der Mitte heraus funktionieren könne.
Der Widerwillen der anderen europäischen Staaten gegen eine deutsche Dominanz in Europa ist das eine. Zudem stellt sich die Frage der Nachhaltigkeit eines solchen Konzepts. Denn so sehr Deutschland heute die starke Macht in Europa sein mag, so sehr wird sich dies in den kommenden Jahren relativieren. In 50 Jahren werden Frankreich und auch Großbritannien mit über 80 oder sogar knapp 90 Millionen Einwohnern deutlich größer sein als Deutschland, das auf unter 70 Millionen Menschen schrumpfen dürfte – mit entsprechenden Auswirkungen auf die wirtschaftliche und finanzielle Leistungsfähigkeit. Natürlich sind derlei Entwicklungen nicht irreversibel und können durch eine kluge Einwanderungspolitik ausgeglichen werden. Gleichwohl bleibt die Tatsache bestehen, dass den Verschiebungen der Kräfteverhältnisse in Europa stets auch soziale und wirtschaftliche Dynamiken zugrunde liegen. Daraus resultierende Spannungen gilt es frühzeitig im Keim zu ersticken. Münklers Plan der Vormachtstellung eines einzelnen Staates steht dem jedoch entgegen.
Gewiss hat Münkler Recht, wenn er eine klare strategische Ausrichtung und Führung in Europa einfordert, um das Gesamtprojekt der Integration auch künftig in Gang zu halten. Ob eine deutsche Quasi-Hegemonie, selbst wenn sie sich am europäischen Gemeinwohl orientiert, der richtige Weg ist, muss jedoch bezweifelt werden. Sie widerspricht dem Prinzip der Union als einer Abkehr vom lange Zeit dominierenden Nationalstaatsmodell – und würde voraussichtlich zu zusätzlichen Rivalitäten zwischen den einzelnen Staaten führen. Eine weitere Re-Nationalisierung Europas würde damit gefördert.
Nur im Schulterschluss wird es gehen
Hinzu kommt, dass Deutschland alleine absehbar zu schwach sein wird, die ihm von Münkler zugedachte Rolle auszufüllen. Die deutsche Politik wäre daher gut beraten, ihre momentane Stärke dazu zu nutzen, den gleichberechtigten Schulterschluss mit den europäischen Nachbarn zu forcieren – und zugleich alles daran zu setzen, Großbritannien als einen wichtigen Partner und zentralen Pfeiler des europäischen Projekts in der Union zu halten. Denn das Ausscheiden der Briten aus der EU könnte tatsächlich dazu führen, dass die antieuropäischen Fliehkräfte eines Tages die Überhand gewinnen.
Anders ausgedrückt: So richtig Münklers Diagnose mit Blick auf den derzeitigen Zustand Europas ist, so unwirksam dürfte die Medizin sein, die er dem Kontinent verordnen möchte.«
Herfried Münkler, Macht in der Mitte: Die neuen Aufgaben Deutschlands in Europa, Hamburg: Edition Körber-Stiftung 2015, 208 Seiten, 18 Euro