Notorisch unklar
Auf Star Wars folgte schon bald The Empire Strikes Back – und selbst nach dem enttäuschenden Abschluss der Matrix-Trilogie kann man leider nicht ausschließen, dass die Wachowskis ihrem Protagonisten Neo eine vierte Chance verschaffen werden. Wie für alle anderen von der Kulturindustrie erzeugten Waren gilt – bei entsprechendem Marktwert – natürlich auch auf dem Gebiet der Theorieproduktion der Imperativ des sequel: „to be continued“. Kaum ein anderes Werk hat hier in den letzten Jahren einen so überraschenden Erfolg verbuchen können, wie das von dem italienischen Philosophen und Aktivisten Antonio Negri und dem US-amerikanischen Literaturwissenschaftler Michael Hardt gemeinsam verfasste Empire. Es war also nur eine Frage der Zeit, wann „Empire II“ auf den Markt kommen würde. Jüngst war es nun so weit: Zeitgleich mit der englischen Originalausgabe erschien Multitude. Krieg und Demokratie im Empire.
In Empire selbst blieben Hardts und Negris Erläuterungen zu jener sozialen Bewegung recht metaphorisch, die der nicht mehr zentral, sondern netzwerkartig organisierten globalen Herrschaftsordnung alleine noch entgegentreten könne. Wenig mehr als der Name stand fest: „Multitude“ – nicht Volk, nicht Masse, nicht Arbeiterklasse. Vom neuen Buch durfte man sich deshalb nicht nur auf Grund des Titels Klärung erhoffen.
Gegenwartsanalyse und Gesellschaftskritik
In drei theoretisch und historisch weit ausgreifenden Kapiteln – Krieg, Multitude und Demokratie – setzen die Autoren ihren Versuch der Wiederbelebung der auch auf der Linken in Vergessenheit geratenen Einheit von Gegenwartsanalyse und Gesellschaftskritik fort. Zwei Diagnosen markieren dabei den Einsatzpunkt: Zum einen sei es seit dem 11. September 2001 zu einer weltweiten Normalisierung des Ausnahmezustandes in Form eines globalen Bürgerkriegs gekommen, der im Irak-Konflikt nur seinen offensichtlichsten Ausdruck finde; zum anderen habe in den vergangenen Jahrzehnten eine tief greifende Umstellung der ökonomischen Produktionsweise auf das Paradigma der netzwerkbasierten immateriellen Arbeit stattgefunden, die auch die Formen der Vergesellschaftung verwandle. Der kritische Kern dieser doppelten Diagnose besteht in der Entgegensetzung von „Biomacht“ und Krieg führendem Empire auf der einen, „Biopolitik“ und kreativer gesellschaftlicher Arbeit auf der anderen Seite. Da diese Arbeit Kooperation und Kommunikation und damit Gesellschaft selbst sowohl zur Voraussetzung als auch zum Produkt habe, seien auch die ökonomischen und politischen Herrschaftssysteme von ihrem Potential abhängig, ohne es jedoch vollständig kontrollieren zu können.
Hieraus muss die Linke Hardt und Negri zufolge nicht nur in der Theorie, sondern auch in der Praxis die Konsequenzen ziehen. Auf die scheinbare politische Ausweglosigkeit der heutigen Situation reagieren die Autoren dabei nicht mit einem Pessimismus des Intellekts, sondern mit einem Optimismus des Willens. Die von ihnen als „sozialdemokratisch“ apostrophierte Sehnsucht nach dem keynesianischen Nationalstaat kann angesichts des neoliberalen Programms der globalen Deregulierung nicht die Alternative sein. Beidem setzen sie das Postulat der in der gegenwärtigen Situation angelegten realen Möglichkeit ihrer Überwindung entgegen. Die „Multitude“ als vielgestaltige Widerstandsbewegung ohne Zentrum stellt deshalb aus Sicht der Autoren keine utopische Alternative dar, sondern formiert sich im Herzen des „Empire“ selbst: Sie ist das revolutionäre Subjekt, das zwar noch nicht existiert, sich aber als Tendenz in den globalen Protesten gegen Krieg und soziale Not – von Seattle über Genua bis Porto Alegre und Buenos Aires – ankündigt.
Abgesehen davon, dass es zu den Grunderfahrungen des 20. Jahrhunderts gehört, dass Revolutionen trotz der Existenz einer revolutionären Situation entweder ganz ausbleiben oder in die falsche Richtung losgehen können, besteht eine erste Schwierigkeit nun darin, dass völlig unklar bleibt, wie sich gute von schlechten, emanzipatorische von regressiven Manifestationen der Multitude unterscheiden lassen: Bei Protesten gegen globale Ungerechtigkeiten und für mehr Demokratie scheint es sich, die gegenwärtige Krise der Anti–Globalisierungsbewegung zeigt es, kaum um ein Massenphänomen zu handeln – und wenn in Deutschland Tausende auf die Strasse gehen, dann doch meistens um ihre – manchmal durchaus legitimen, oft aber nationalistisch überformten – Partikularinteressen zu verteidigen, nicht aber, um ihr Verlangen nach der „absoluten Demokratie“ zum Ausdruck zu bringen, wie sie Hardt und Negri vorschwebt. Der Begriff der Multitude bereitet deshalb nicht nur Übersetzungsschwierigkeiten, sondern bleibt auch im neuen Buch notorisch unklar. Angesichts der „Vielfalt singulärer Differenzen“, zu deren näherer Bestimmung die Autoren die wenig hilfreiche Metapher des Schwarms einführen, stehen sie in Gefahr, selbst ins Schwärmen zu geraten – und dabei die Realität aus den Augen zu verlieren.
Noch problematischer als die vorgenommene Gleichsetzung von Multitude und Demokratie ist aber die Bestimmung der absoluten Demokratie selbst: Diese läuft, genauer betrachtet, nämlich auf das Ende von Demokratie und Politik hinaus. Politik im Allgemeinen und Demokratie im Besonderen können nämlich allein schon deshalb niemals absolut sein, weil sie von den Konflikten und Spannungen leben, die in ihnen ausgetragen werden und die nur aus der Verschiedenheit der individuellen und gesellschaftlichen Interessenlagen heraus entstehen. Dieses fatale Politikdefizit wird in den Ausführungen über die Entscheidungsprozesse der Multitude und ihre Fähigkeit, sich selbst zu regieren, offensichtlich: Die ökonomische Produktion wird von den Autoren nämlich zugleich als Produktion des Sozialen und damit als politische Entscheidungsfindung verstanden. Das führt zu der absurden Vorstellung der kommenden Demokratie als „Open Source“-Gesellschaft, deren Quellcode allen zugänglich ist und somit zur Entwicklung immer besserer „sozialer Programme“ benutzt werden kann. Hier kommen einem aber eher Bilder einer technokratischen Dystopie als einer radikal-demokratischen Gesellschaftsordnung in den Sinn, auch wenn Hardt und Negri die Ablösung sozialer Konflikte durch eine Intensivierung von Kooperation und Kommunikation voraussagen und Politik letztlich als „Projekt der Liebe“ bestimmen. Die radikale Ablehnung jeder institutionellen Vermittlung läuft bei ihnen auf eine Auflösung von Politik in jener Unmittelbarkeit hinaus, in der sich das „Leben“ der Multitude zum Ausdruck bringt.
Selbst wenn man dieser Kritik an der Durchführung zustimmt, sollte aber nicht gleich das Projekt als Ganzes verabschiedet werden. Das Verdienst der Autoren ist vielmehr gerade in dem Versuch einer Wiederbelebung jenes politischen Denkens zu sehen, das Theorie und Gegenwartsanalyse mit dem Anspruch emanzipatorischer Intervention verbindet und dabei den staats- und souveränitätsfixierten Mainstream hinter sich lässt. Damit verbinden sie die Hoffnung, die Linke endlich aus der Alternative zwischen Anpassung und Bedeutungslosigkeit und damit aus der Defensive zu befreien. Abgesehen von einigen Rückfällen in peinliche Platitüden („eine andere Welt ist möglich“), gelingt es den Autoren zudem auf beeindruckende Weise, ihren durchaus komplexen Ansatz so zu präsentieren, dass auch ein theoretisches Werk mal wieder zum Bestseller werden kann. Verwundern darf dann nicht, dass der manifestartige Versuch, die Multitude herbeizuschreiben, seine eigentümliche Kraft dabei natürlich auch der Radikalität des Ansatzes verdankt, die zuweilen auf Kosten seiner Plausibilität geht.
Der nächste cliffhanger kommt bestimmt
Die Verkitschung des eigenen politischen Programms, um die Theorie-Bestseller (wie andere Kulturprodukte auch) am Ende oft leider nicht herumkommen, konnte man schon in Empire I konstatieren. Der letzte Satz war darauf angelegt, den Spannungsbogen aufrechtzuerhalten: „Darin zeigen sich die nicht zu unterdrückende Leichtigkeit und das Glück, Kommunist zu sein.“ Dieses Mal beschwören die Autoren gegen Ende ein im Kommen begriffenes Ereignis, welches uns in die politische Zukunft katapultieren wird und schließen mit der Prophezeiung: „Dies wird der wahre politische Akt der Liebe sein.“ Also wieder ein cliffhanger – wir werden wohl schon bald sehen, wie es weitergeht.
Michael Hardt und Antonio Negri, Multitude: Krieg und Demokratie im Empire, Frankfurt am Main: Campus 2004, 412 Seiten, 34,90 Euro