Nur wer wählt, der zählt
Am 7. Juli 2014 reichten 15 Kinder und Jugendliche im Alter von 10 bis 17 Jahren eine Beschwerde vor dem Bundesverfassungs-gericht ein. Sie wollen das Mindestwahl-alter abschaffen – und damit Demokratie und Generationengerechtigkeit stärken.
Ihre Forderung: Es soll zwar weiter ein reguläres Wahlalter von beispielsweise 16 Jahren geben, aber jeder junge Mensch, der sein Wahlrecht bereits früher ausüben möchte, sollte dies auch tun dürfen. Dafür würde künftig ein Eintrag ins Wählerverzeichnis genügen. Es geht also nicht darum, Säuglinge oder Kleinkinder zum Urnengang zu verpflichten. Sondern: Jeder Mensch sollte wählen dürfen – egal, ob mit 10 oder 110 Jahren. Ebenso wenig, wie eine Altersgrenze nach oben demokratisch legitim ist, kann eine Altersgrenze nach unten legitim sein.
In ihrer Wahlprüfbeschwerde fordern die Jugendlichen, die Bundestagswahl 2013 für ungültig zu erklären. Sie alle waren zum Wahlamt gegangen, hatten ihr Wahlrecht eingefordert und wurden schulterzuckend abgewiesen. Ihre anschließende Beschwerde wies der Wahlprüfungsausschuss des Bundestags ab. Jetzt muss Karlsruhe entscheiden, ob der Einspruch zulässig ist.
Gehören Kinder überhaupt zum Volk?
Bisher hatten sich die Richter nie ausdrücklich mit dem Mindestwahlalter auseinandergesetzt. Nur in Randbemerkungen zu anderen Entscheidungen hat das Gericht das Mindestwahlalter „seit jeher“ und „aus zwingenden Gründen“ für gerechtfertigt erklärt. Es legte aber nie dar, worin diese zwingenden Gründe bestehen oder warum man mit dem bloßen Verweis auf die Vergangenheit einen derlei undemokratischen Zustand rechtfertigen kann. Schließlich steht im Artikel 20 des Grundgesetzes: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus und wird vom Volke in Wahlen und Abstimmungen ausgeübt.“ Dennoch sind Kinder und Jugendliche von Wahlen ausgeschlossen – obwohl sie unbestritten zum Volk gehören, und obwohl sie am längsten und härtesten von heute gefällten politischen Entscheidungen betroffen sind. .„Es ist richtig und notwendig, dass die Regelung jetzt vom Bundesverfassungsgericht auf ihre Verfassungsgemäßheit überprüft wird”, sagt die Rechtsanwältin Lore Maria Peschel-Gutzeit, ehemals SPD-Justizsenatorin und Ehrenpräsidentin des Deutschen Juristinnenbundes. „Die Einführung des Wahlrechts ist ein politisches Grundrecht, das mit der Geburt entsteht und nicht entziehbar ist. Wir sind verpflichtet, dafür zu sorgen, dass nicht länger ein Fünftel unseres Wahlvolkes, und das sind die Kinder und Jugendlichen unter 18 Jahren, von der Wahl ausgeschlossen werden.“
Ein häufiger Einwand lautet: Kinder haben nicht die nötige Reife zum Wählen. Es wäre natürlich zu begrüßen, wenn sich jeder Bürger vor der Wahl eingehend mit Politik beschäftigte, um das Wahlrecht verantwortlich ausüben zu können. Allerdings setzt das Wahlrecht keine „Wahlreife“ voraus. Auch bei über 18-Jährigen wird weder gefordert noch geprüft, ob sie eine gewisse Bildung oder Reife erlangt haben oder ob sie imstande sind, eine „vernünftige“ Wahlentscheidung zu fällen.
Das ist auch der Grund, warum ein Höchstwahlalter ebenso wenig zu rechtfertigen ist, obwohl sich dafür gute Gründe finden ließen. „Dieses Recht einer ganzen Generation alter Menschen durch die Einführung einer Altersgrenze zu entziehen, ist sowohl aus demokratietheoretischer als auch verfassungsrechtlicher Sicht unhaltbar“, heißt es dazu in einem Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Deutschen Bundestages. „Die möglicherweise abnehmenden Fähigkeiten älterer Menschen, aktiv an der Lösung gesellschaftlicher Probleme gestalterisch teilnehmen zu können, kann kein Kriterium für den generellen Entzug des Wahlrechts ab einer bestimmten Altersgrenze darstellen, da das Vorhandensein dieser Möglichkeiten umgekehrt auch kein Kriterium für die Gewährung des Wahlrechts ist.“ Wenn dies für alte Menschen gilt, kann niemand erklären, warum es für junge Menschen nicht genauso gelten sollte.
Überhaupt ist völlig undurchsichtig, was unter der so oft geforderten „Wahlreife“ eigentlich zu verstehen ist. An keiner Stelle sind Kriterien definiert, anhand derer man „Wahlreife“ messen könnte – weder im Gesetz noch in der Rechtsliteratur. Und selbst wenn: Das reine Lebensalter wäre dafür kein geeigneter Gradmesser.
Im Vollrausch in die Wahlkabine
Auch Demenzkranke verfügen in der Regel über das Wahlrecht. Von den derzeit etwa 62 Millionen Wahlberechtigten leiden derzeit rund eine Million Bürger an Demenz. Für das Jahr 2050 wird eine Zahl von vier Millionen Demenzpatienten mit einem Anteil von 5 Prozent an der Wahlbevölkerung prognostiziert. Deren Wahlrecht erlischt nur, wenn eine dauerhafte Betreuung zur Besorgung aller Angelegenheiten gerichtlich anerkannt ist. Da die Betreuung selten alle Angelegenheiten umfasst, behalten Menschen in der Regel das Wahlrecht auch dann noch, wenn sie geistig nicht mehr präsent sind. Auch wer aus anderen Gründen nicht mehr im Besitz seiner geistigen Kräfte ist und beispielsweise im Vollrausch in die Wahlkabine stolpert, darf nicht von der Wahl abgehalten werden. Und auch Schwerverbrecher besitzen selbstverständlich das Wahlrecht. Einzig und allein bei Jugendlichen werden derart hohe intellektuelle und moralische Maßstäbe angelegt, wie man sie sonst von Niemandem verlangt.
Jugendsoziologen und -psychologen haben immer wieder betont, dass die große Mehrheit der jungen Menschen zwischen ihrem 12. und 15. Lebensjahr den Höhepunkt ihrer geistigen Entwicklung erreicht. „Mit etwa zwölf Jahren ist eine stabile intellektuelle Basis erreicht, auch eine grundsätzliche soziale und moralische Urteilsfähigkeit ist gegeben. Von diesem Alter an ist es möglich, politische Urteile zu treffen; es wäre auch möglich, sich an Wahlen zu beteiligen“, sagt Klaus Hurrelmann, Autor der Shell-Jugendstudie. Das Argument der geistigen Reife steht dem Kinderwahlrecht also nicht im Weg.
„Kinder wissen nicht genug über Politik, um eine verantwortliche Wahlentscheidung zu treffen“, lautet ein zweiter Einwand. Das mag so sein. Aber auch politisches Wissen ist keine Voraussetzung für das Wahlrecht – sonst müsste man einen Wahleignungstest einführen, den wohl die meisten volljährigen Bürger ebenso wenig bestehen würden. So konnte beispielsweise in Umfragen knapp die Hälfte der (erwachsenen!) Deutschen weder die Bedeutung der Erststimme noch der Zweitstimme richtig einschätzen. Soll man also die Hälfte der Bevölkerung von Wahlen ausschließen, weil sie das Wahlsystem nicht versteht? Von Jugendlichen aber erwarten wir, dass sie das Wahlsystem kennen, die Parteiprogramme gelesen haben und die Weltfinanzkrise erklären können, bevor man ihnen das Wahlrecht gewähren dürfe.
Der Grundsatz unserer Demokratie lautet: Ein Mensch, eine Stimme. Zudem sind Jugendliche die besten Experten ihrer eigenen Lebenswelt und wissen beispielsweise über Schulpolitik oder Netzpolitik besser Bescheid als viele Ältere.
Übrigens: Dass Jugendliche nur NPD wählen würden, ist eine Behauptung, die nie belegt wurde. In Umfragen oder Alternativwahlen (wie „U18“) sympathisieren nur die wenigsten mit rechtsextremen Parteien oder Spaßparteien. Dagegen sitzen Nazis in diversen Landtagen, ohne dass es dafür ein Wahlalter von 16 Jahren bedurft hätte. Jungen Menschen das Wahlrecht nur deswegen vorzuenthalten, weil sie angeblich „unvernünftig“ wählen würden, ist ein schlechtes Argument und mit unserer Demokratie nicht verträglich.
Wie leicht jemand beeinflussbar ist, wird auch nicht bei erwachsenen oder hochbetagten – nicht einmal dementen – Bürgern zum Maßstab gemacht. Leichtere Beeinflussbarkeit ist daher kein Grund, einer gesamten Altersgruppe das Wahlrecht zu verweigern. Zudem zeigen jugendsoziologische Studien, dass bereits ab dem Alter von 12 bis 13 Jahren der Einfluss der Eltern auf ihre Kinder schwindet und der Einfluss von Freunden und Bekannter steigt.
Unvernunft kennt keine Altersgrenzen
Auf anderen Feldern gibt es Altersgrenzen, die jungen Menschen schon früher Verantwortung ermöglichen. So können Jugendliche ihre Religion mit 14 Jahren selbst wählen. Mit 17 Jahren können sie sich als Zeitsoldat verpflichten (weswegen es in Deutschland minderjährige Soldaten gibt). Mit 16 Jahren können sie in Parteien eintreten und über Wahlprogramme, Vorstände und Koalitionsverträge abstimmen – wie jüngst beim SPD-Mitgliedervotum. Sie nehmen also heute schon Einfluss auf die politische Willensbildung – und das auf eine Weise, die oft höhere Anforderungen an die Urteilskraft stellt als das Wahlrecht.
Bei der Bundestagswahl hat die junge Generation keine Stimme. Das darf nicht länger so bleiben. „Kinder haben Rechte. Kinder haben eigene Interessen. Kinder wollen ihr Leben selbst mitgestalten”, sagt die ehemalige sozialdemokratische Bundesfamilienministerin Renate Schmidt, die den Einspruch vor dem Verfassungsgericht unterstützt. „Kinder sollen und müssen deshalb auch wählen dürfen. Das Wahlrecht ist ein Grundrecht und steht allen Deutschen zu. Nur wenn wir den Kindern – also der Zukunft – eine Wahlstimme geben, werden auch wir Alten eine Zukunft haben.“