Ohne Nachfrage keine organisierte Kriminalität
Wie schon in den Jahren davor, zogen im Dezember 2013 vier Männer durch die Innenstadt und baten Ladenbesitzer um eine Spende für einen guten Zweck. Inhaftierte und ihre Familien sollten unterstützt werden, 100 Euro wären sehr willkommen. Dafür bekamen die Spender einen Weihnachtsstern – als Zeichen, dass sie hinter der wohltätigen Aktion stehen.
Die »Familie« kümmert sich um ihre Angehörigen
Das klingt nach einer zwar wenig genialen, aber nicht besonders alarmierenden Variante offensiven Spendensammelns. In dem geschilderten Fall ist sogar davon auszugehen, dass das Geld ohne größere Abzüge bei den Inhaftierten und ihren Familien angekommen ist. Weshalb ist die Geschichte dann überhaupt erwähnenswert? Die Antwort ergibt sich aus dem Kontext: Die vier Männer waren nämlich in Neapel unterwegs und sind Angehörige des Mazzarella-Clans – einer Camorra-Familie, die in den vergangenen Jahren an Einfluss gewonnen hat und größere Gebiete der Stadt kontrolliert. Angesichts eines Investitionsvermögens von mehreren hundert Millionen Euro und zahlreichen einträglichen scheinlegalen und kriminellen Geschäften wäre ein solcher Gang mit der Sammelbüchse kaum notwendig gewesen. Die Aktion diente vornehmlich kommunikativen Zwecken: als Signal an die Öffentlichkeit, dass sich die „Familie“ um Angehörige, die in Schwierigkeiten sind, kümmert. Damit erfüllt sie ihren Teil des ungeschriebenen Vertrags „Schutz und Fürsorge gegen Verschwiegenheit und Loyalität“. So wird den gefangenen Mitgliedern ein gewichtiger Grund für eine Kooperation mit der Justiz genommen, schließlich bleiben ihre Familien trotz langer Haftstrafen versorgt. Und für rivalisierende Clans ist jeder ausgestellte Weihnachtsstern ein Beleg dafür, dass die Mazzarella-Familie ihr Revier im Griff hat und Übergriffe unklug wären.
Dies ist eine wichtige Botschaft, schließlich sind die monopolistische Ausweitung von Einflusssphären und die Entstehung friedlich kaum beizulegender Konflikte zwischen den Akteuren charakteristisch für die Organisierte Kriminalität. Der in Neapel und Kampanien immer wieder aufflammende Krieg zwischen rivalisierenden Camorra-Gruppen soll in den letzten dreißig Jahren mehrere tausend Tote gefordert haben. Die Mazzarella-Familie zählt eher zu den Gewinnern: Sie stand wiederholt auf der richtigen Seite und hat nicht zuletzt durch Eheschließungen strategische Allianzen geknüpft.
Organisationskompetenz und Stabilität
Selbst die Justiz konnte ihr wenig anhaben. Mittels interner Abschottungsmaßnahmen bekamen die „operativen Kräfte“, die am ehesten in das Blickfeld der Strafverfolgung geraten, kaum Kenntnisse über die erweiterten Strukturen und Aktivitäten der Familie. Mögliche Überläufer stellen keine Gefährdung dar.
Doch was für Charaktere stehen eigentlich hinter der Organisierten Kriminalität? Auf diese Frage gibt das Beispiel des Mazzarella-Clans zunächst nur eine indirekte Antwort: Die Handlungen der Personen selbst müssen noch nicht einmal durchgängig kriminell sein, sondern der Kontext, in dem sie stattfinden, ist aufschlussreich. Es sind Menschen gefragt, die diesen Kontext einerseits gestalten und andererseits zuverlässig darin agieren können. Der größte Teil derjenigen, die sich vor Strafgerichten verantworten müssen, ist weder zu dem einen noch zu dem anderen in der Lage. Sie besitzen nicht die erforderlichen Kompetenzen zur Organisationsgestaltung und -entwicklung, auch nicht die persönliche Stabilität, die die Mitarbeit in strukturierten und differenzierten Organisationen erfordert.
Zurück zur Mazzarella-Familie: Ihr Aufstieg begann in den fünfziger Jahren mit dem Schmuggel und Vertrieb von Zigaretten. Es folgten klassische Mafiadelikte wie Erpressung, Glücksspiel, Zuhälterei, Drogen- und Waffenhandel. Die Gewinne waren das Startkapital für den Einstieg in weniger blutige, aber nicht minder profitable Aktivitäten wie Zinswucher oder Versicherungs- und Subventionsbetrug. Um an die nationalen und europäischen Fördertöpfe heranzukommen, wurde eigens Land erworben. Als die Region im Jahr 1980 von einem Erdbeben erschüttert wurde, eröffneten sich neue Geschäftsfelder. Man investierte in Baufirmen und stellte mithilfe von Korruption und Erpressung sicher, dass vor allem der Clan von den Wiederaufbauprogrammen profitierte. Die Gewinne wurden sodann in landwirtschaftliche Betriebe und Hotels investiert. Seit einiger Zeit wird die Familie auch mit massiven Urheberrechtsverletzungen und geschäftlichen Beziehungen zu terroristischen Gruppen in Verbindung gebracht.
Familie, Kirche, Vaterland stehen hoch im Kurs
Kurzum: Nicht bestimmte Straftaten sichern den Erfolg, sondern das kontinuierliche „Auslesen“ der wirtschaftlichen, sozialen und politischen Lage auf neue Möglichkeiten und Chancen. Typisch ist auch das Vordringen in (scheinbar) legale Felder. Organisierten Kriminellen geht es nicht um die Straftat, sondern um den Gewinn. Zumindest für die Leitungsebene führt dies zu einem klaren Anforderungsprofil. Anders als bei der Organisationsentwicklung und -gestaltung helfen Talent und Intuition bei der strategischen Ausrichtung der Aktivitäten wenig. Stattdessen sind wirtschafts-, rechts- und politikwissenschaftliche Kenntnisse gefragt, die entweder in Form von Beratungsleistungen gezielt eingekauft oder – besser noch – in die Organisation integriert werden. Nicht von ungefähr besucht die nächste Generation von „Geschäftsführern“ eher die Universität als die Boxakademie.
Organisierte Kriminalität hat viele Gesichter. Die Aktivitätsfelder variieren, nicht alle Gruppen sind streng zentralistisch strukturiert, und Verwandtschaft muss kein verbindendes Element sein. Die Gemeinsamkeiten liegen in der Gewinnorientierung, in strategischem und taktischem Geschick und in der Fähigkeit, Chancen konsequent zu nutzen und wenn nötig die Rahmenbedingungen gezielt zu beeinflussen. Der konservative Wertekanon – Familie, Kirche, Vaterland – steht hoch im Kurs. Aus dieser Perspektive gibt es zwischen erfolgreichen Unternehmensgründern und Managern der Organisierten Kriminalität vor allem einen Unterschied: Für letztere stellt die Verletzung formellen Rechts keine Barriere dar, wenn es um Profit und Macht geht.
Allerdings sind die Bereitschaft oder auch die Fähigkeit, Recht zu ignorieren, kein tragfähiges Unterscheidungsmerkmal. Die Kriminologie hat immer wieder gezeigt, dass sich notorische Straftäter als erstaunlich rechtstreu sehen und geben. Hingegen verletzen Personen, die mit viel persönlichem Einsatz legale Führungspositionen erreicht haben, offenbar mit Leichtigkeit Gesetze. Der Grund dafür ist, dass sich der Bankräuber und der Terrorist nicht anders als der Steuerhinterzieher mithilfe bestimmter Techniken die Welt so zurechtlegen, dass die Gültigkeit von Normen punktuell außer Kraft gesetzt ist oder die persönliche Verantwortung für das eigene Tun oder Unterlassen geleugnet werden kann. Daraus lässt sich eine Vielzahl von innen nach außen gerichteten Verteidigungsstrategien ableiten: Das Handeln diene einem guten Zweck, der Druck der Umstände sei zu groß, die Geschädigten hätten sich „strafbar“ fahrlässig verhalten, und so weiter.
Gegen solch generalisierende Betrachtungen kann man einwenden, dass Arbeitsteilung und hierarchische Strukturen wesentliche Merkmale der Organisierten Kriminalität sind und die Führungsebene durch eine komplementäre operative Ebene ergänzt werden muss. Auch wenn die besondere Qualität dieser Form der Kriminalität nicht über die Delikte erschlossen werden kann, führen doch einzelne Straftaten zu Gewinn und Macht. Tatsächlich ist das kriminelle Portfolio breit, und für die Mehrzahl der Delikte sind Kompetenzen erforderlich, die über technisches Können und kognitive Aspekte hinausgehen. So werden Täter, die im Bereich der Schutzgelderpressung erfolgreich sind, andere soziale und kommunikative Techniken an den Tag legen als Täter, die für chemische Unternehmen günstig Gefahrstoffe entsorgen und Giftfässer in internationalen Gewässern versenken. Auch hier gilt jedoch: Ein Unternehmen der chemischen Industrie kann ein solches Angebot erst dann nicht ablehnen, wenn beispielsweise Sabotage angedroht oder über politische Kanäle Einfluss genommen wird. Insofern liegt das eigentliche Potenzial in der Verschränkung und Verzahnung krimineller Aktivitäten und somit in ihrer Organisation. Aber unabhängig davon ergeben sich aus diesen deliktspezifischen Profilen keine Personenmerkmale mit hinreichender Trennschärfe zu nicht kriminellen Personen. Eher dürften erfolgversprechende Eigenschaften und Kompetenzen in den unterschiedlichen Feldern der Organisierten Kriminalität nicht von denen in vergleichbaren legalen Geschäftsfeldern zu unterscheiden sein. Kriminelle Handlungen folgen der gleichen Logik wie legale, und der Erfolg der Organisierten Kriminalität beruht besonders auf der Fähigkeit der kriminellen Akteure, Straftaten wie „ehrliche Arbeit“ zu gestalten und als „Normalität“ zu leben.
Den charakteristischen OK-Typ gibt es nicht
Für uns rechtstreue Bürger wäre es zweifellos entlastend und für die Strafverfolgung erleichternd, wenn organisiert handelnde Kriminelle, die für den Nachschub und den Vertrieb von Rauschgiften, die Fälschung lebenswichtiger Medikamente oder die Verseuchung von Landstrichen mit Giften verantwortlich sind, anhand von biografischen, sozialen oder persönlichkeitsbezogenen Merkmalen identifizierbar wären. Sie sind es aber nicht. So gesehen, ist dieses Ergebnis unerfreulich.
Trotzdem ist die Zugehörigkeit zu Gruppen der Organisierten Kriminalität nicht beliebig. Längst nicht jeder hat Zugang zu organisierten kriminellen Strukturen. In Regionen oder in Bevölkerungsgruppen, in denen die Organisierte Kriminalität traditionell präsent ist, ist die Teilnahme an entsprechenden Aktivitäten dann wahrscheinlich, wenn legale Alternativen knapp sind. Insofern sind wirtschaftliche Marginalisierung, geringe Integration, schwache Präsenz rechtsstaatlicher Strukturen der Nährboden, auf dem talentierte Menschen organisiert kriminelles Verhalten entwickeln. Die Frage, wer sich Gruppen der Organisierten Kriminalität anschließt, lässt sich somit nicht beantworten, ohne grundsätzlich gestaltbare Rahmenbedingungen einzubeziehen: Die genannten soziokulturellen Umstände wirken förderlich.
Wir selbst sind die Förderer
Ein letzter Perspektivwechsel ist erforderlich. Man könnte glauben, dass die Organisierte Kriminalität durchgängig gegen den „gesellschaftlichen Willen“ handelt und uns ihre Aktivitäten aufzwingt. Das mag für die von ihnen verursachten materiellen und immateriellen Schäden zutreffen. Zugleich beruht das Geschäftsmodell der Organisierten Kriminalität aber darauf, dass Produkte verkauft und Dienstleistungen angeboten werden, die gesetzlichen Verboten oder Restriktionen unterliegen, beziehungsweise die bei Beachtung der rechtlichen Rahmenbedingungen mit erheblichen Preisaufschlägen versehen sein müssten. Die Versorgung mit illegalen Drogen, die Bereitstellung billiger Arbeitskräfte oder das Angebot rezeptfreier Medikamente im Internet sind einige Beispiele. Die Organisierte Kriminalität bedient einen Markt, der auf den Interessen von legal agierenden Unternehmen wie auch den Bedürfnissen von Millionen von Konsumenten beruht. Ohne Freier gäbe es keinen Frauenhandel, ohne die Freude am Schnäppchen keine Nachfrage nach gefälschten Produkten, ohne das Interesse von Banken und Investmentfirmen an der provisionsträchtigen Wäsche illegal erwirtschafteter Vermögenswerte wäre die Infiltration in legale wirtschaftliche Aktivitäten deutlich erschwert.
Unsere Nachfrage nach kriminellen Produkten und Dienstleistungen, unsere Bereitschaft zur profitablen Kooperation stärkt die Organisierte Kriminalität. Wir sind ihre Förderer. Am Ende sind es also vielleicht gar nicht so sehr die Persönlichkeitsmerkmale der Straftäter, die zum Erfolg der Organisierten Kriminalität beitragen, sondern die Charaktereigenschaften der Abnehmer ihrer Produkte und Dienstleistungen.