Organisation ist Politik
Die Internationalisierung der Märkte
Sozialdemokraten haben überall in Europa eigene Strategien entwickelt, um gesellschaftliche Ausgrenzung und politische oder ökonomische Benachteiligung zu beseitigen. Sie stehen für Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität. Zur Realisierung dieser Werte sind in den jeweiligen Ländern spezifische Instrumente, Institutionen und rechtliche Normen entstanden und praktiziert worden.
Nationale Politik stößt heute an Grenzen. Dennoch: Die Internationalisierung der Märkte bietet Chancen. Sozialdemokratische Parteien in Europa wollen Gestaltungsoptionen zurückgewinnen. Und sie müssen die Verunsicherung, welche die Entgrenzung der Märkte gerade in der sozialdemokratischen Wählerschaft auslöst, ernst nehmen.
Die neue Form der Ökonomie hat keineswegs das sozialdemokratische Jahrhundert beendet. Neue Formen der Ungleichheit und der gesellschaftlichen und politischen Ausgrenzung sind entstanden, und neue Spielräume der individuellen Freiheit sind allen Teilen der Gesellschaft zu erschließen.
Gesellschaftlicher Wandel
Die Sozialstruktur in allen europäischen Ländern hat sich gewandelt. Die Informations- und Dienstleistungsgesellschaft wird den Trend weiter verstärken. Damit hat sich auch die Basis für die Mitgliedschaft und das Führungspersonal sozialdemokratischer Parteien, wie ihre Wählerschaft, verändert.
Die relativ stabilen gesellschaftlichen Milieus der Industriegesellschaft sind durch unübersichtliche Lebensverhältnisse und Szenen ersetzt worden, deren soziale Lage und Lebensstile einem dauernden Wandel unterworfen sind. Die geringe soziale und räumliche Mobilität ist abgelöst worden von individualisierten Lebenswegen und neuen, mobileren Arbeits- und Qualifikationsformen.
Mit der Ausdifferenzierung der großen sozialmoralischen Milieus haben Bindungskraft und Orientierungsfunktion der Parteien nachgelassen. Heute muß für Unterstützung sozialdemokratischer Politik in einer Vielzahl von Milieus geworben werden. Die Individualisierung der Lebensläufe, die Unübersichtlichkeit der individuellen Erfahrungen und die Geschwindigkeit des Wandels der Lebensstile und der Qualifikationsnachfrage erfordert von politischen Großorganisationen, Menschen in anderer Form anzusprechen.
Anders als die Industriearbeiterschaft teilen viele Menschen nur noch wenige Erfahrungen miteinander. Neue Interessengegensätze haben sich entwickelt, die quer durch alle gesellschaftlichen Lager verlaufen: Junge und Alte, Familien und Alleinstehende, Einheimische und Zuwanderer, um nur einige zu nennen. Solidarität über diese Gegensätze hinweg zu stiften, bedarf verstärkter Anstrengungen und neuer Wege. Hier zeichnet sich eine neue Aufgabe ab: Partei des gesellschaftlichen Zusammenhalts zu sein.
Veränderungen der Kommunikationsstrukturen
Wähler müssen heute immer aufs Neue gewonnen werden; sie sind nicht länger ein verläßlich abrufbarer Stamm von Unterstützern. Es sind die Beweglichen, die Wechselwähler, die Wahlen entscheiden. Gerade unter ihnen aber werden politische Urteile auf einem hohen Informationsniveau gefällt. Sie sind es auch, die Parteien mit wachsender Distanz gegenüberstehen.
Parteien besitzen nicht länger ein Monopol der Deutung von Politik. Ohne den Filter der Medien wird politisches Handeln nicht mehr wahrgenommen. Trotz des Entstehens globaler Medienunternehmen hat die Zahl der Fernsehkanäle und die Pluralisierung der Presse überall zugenommen. Der Durchbruch des Internet wird die Art und Weise, in der politisch Interessierte Informationen beschaffen und verbreiten können, noch einmal revolutionieren. Damit entsteht eine von den Medien und ihren spezifischen Perspektiven beherrschte Sicht der Welt und ihrer Probleme.
Veränderte Erwartungen der Mitglieder
Der Platz von Sozialdemokraten und Sozialisten im Parteiensystem aller europäischer Länder hat sich verändert. Sie begreifen sich als Wettbewerber um die besten Konzepte zur Deutung und Lösung neuer gesellschaftlicher Probleme. Sozialdemokratische Parteien sind längst keine klassischen Arbeiterparteien mehr. Sie sind vielmehr eine politische Heimat für Menschen aus fast allen Teilen der Bevölkerung. Deshalb passen alte Lagerkonzepte nicht mehr zur Bestimmung ihres Standorts.
Sozialdemokraten stehen überall in Europa dafür, den Strukturwandel menschlich zu gestalten, statt ihm blind zu folgen. Sie stehen dafür, die Chancen, die der ökonomische und soziale Wandel mit sich bringt, für die Schaffung sozialer Gerechtigkeit zu nutzen. Dafür müssen sie Wahlen gewinnen. Dafür müssen sie auch breite Unterstützerkoalitionen mobilisieren. Und sie müssen neue Gruppe an sich binden.
Neue Interessenten und neue Unterstützergruppen werden neue Erwartungen an die Sozialdemokratie herantragen, auf die die bestehenden Strukturen der Organisation nicht hinreichend eingestellt sind. Lebenslange Mitgliedschaft kann angesichts unübersichtlicherer Biografien und gewachsener Mobilität nicht länger die einzig mögliche Form der Mitarbeit sein. Daher müssen neue Mitarbeitsformen entwickelt werden, die eine Öffnung der Parteien auch durch neue Formen der Organisation unterstützen. Engagement für die Sozialdemokratie muß auf verschiedene Weise und in unterschiedlicher Intensität möglich sein.
Rückläufige Mitgliederentwicklung
Als europäische sozialdemokratische Parteien stehen wir einigen grundsätzlichen Trends gegenüber: Die Mitgliederzahlen gehen seit Jahren zurück. Unsere Parteien altern zusehends; Die Alterspyramide verschiebt sich immer weiter nach hinten, da nicht in ausreichendem Maße neue, jüngere Mitglieder in die Parteien eintreten. Die Zahl unserer Mitglieder in der jüngeren und mittleren Generation, die bereit sind, politische Verantwortung und Führungspositionen zur übernehmen, nimmt ab. Gibt es hier keine Trendwende, wird es immer schwieriger, alle Funktionen und Mandate qualifiziert zu besetzen.
Sinkendes Engagement und Mitgliederschwund führen aber auch dazu, daß sich die Bindungskraft in die Gesellschaft verändert. Diese Entwicklung berührt die Wurzeln sozialdemokratischer Organisationskultur und Mehrheitsfähigkeit.
Verlust von Vertrauen in Politik
Auch außerhalb der Mitgliedschaft ist die Identifikation mit den Parteien in Europa seit etwa 30 Jahren rückläufig. Dieser Trend ist besonders bei jungen, höher gebildeten sowie politisch interessierten Menschen signifikant.
Sinkende Identifikation mit Parteien bedeutet jedoch nicht zwangsläufig zurückgehendes Interesse an Politik. Rund 70 Prozent aller Europäerinnen und Europäer diskutieren häufig oder gelegentlich im Freundeskreis über politische Themen. Darüber hinaus engagieren sich immer mehr Bürgerinnen und Bürger in Initiativen und Aktionen außerhalb der traditionellen Parteien. Allerdings ist dieses Engagement sehr viel individueller, diversifizierter und kurzfristiger als das oft auf lange Zeit angelegte Engagement in Parteistrukturen.
Wir müssen erkennen, das Parteien und Institutionen in den letzten Jahren in der Bevölkerung an Ansehen verloren haben. Viele Bürgerinnen und Bürger ziehen Kompetenz und Willen der Parteien in Zweifel, wichtige Zukunftsaufgaben aufzugreifen und zu bewältigen. Die Gemeinwohlorientierung von Parteien wird in Frage gestellt.
Sinkendes Vertrauen in Parteien und Institutionen führt nicht unbedingt zu einer Ablehnung der demokratischen Grundordnung. Sinkendes Vertrauen korreliert häufig mit wirtschaftlicher und sozialer Verunsicherung der Bevölkerung.
Sinkende Wahlbeteiligung - Steigende Komplexität von Politik
In allen westlichen Ländern ist die Beteiligung der Bevölkerung an Parlamentswahlen rückläufig. In den letzten 50 Jahren ist die Wahlbeteiligung in den westeuropäischen Staaten im Schnitt um etwa zehn Prozent gesunken. Dabei liegt die Beteiligung an landesweiten Wahlen immer noch an der Spitze, regionale und lokale Wahlen bewegen deutlich weniger Wählerinnen und Wähler an die Urne. Die Gründe für immer häufigere Wahlenthaltsamkeit sind vielfältig. Wählerinnen und Wähler schrecken zunehmend vor der Komplexität politischer Probleme und Fragen zurück.
Die Stammwählerschaften der Parteien schmelzen immer weiter zusammen. In Deutschland sind kaum ein Viertel der SPD-Wähler noch als Stammwähler zu bezeichnen, bei den anderen Parteien sieht es schlechter aus. Besser ausgebildete und politisch bewußtere Bürgerinnen und Bürger schwenken ins Lager der Wechselwähler ab, sozial schlechter gestellte wandern eher in das Lager der Nichtwähler. Diese Entwicklung trifft uns in besonderem Maße, da gerade unsere traditionellen Wählerschichten auf Distanz zur Politik gehen.
Wollen wir dies verhindern und uns darüber hinaus für neue Ideen und Bevölkerungsgruppen öffnen, sind wir jetzt zu Konsequenzen gezwungen - Konsequenzen für unsere Programmatik, aber auch Konsequenzen für unsere Organisation.
Erhalt der Mitgliederpartei
Sozialdemokratische Parteien brauchen die Vielfalt und Kreativität ihrer Mitglied- und Anhängerschaft. Die Öffnung für breite gesellschaftliche Gruppen hat ihren Wandel von reinen Arbeiterparteien des 19. Jahrhunderts zu modernen Volksparteien ermöglicht. Der Wandel war Voraussetzung dafür, daß es heute in der Mehrheit der westeuropäischen Staaten sozialdemokratisch geführte Regierungen gibt. Heute arbeiten in sozialdemokratischen Parteien Angehörige vieler gesellschaftlicher Schichten und Gruppen mit - Industriearbeiter und Wissenschaftler, Handwerker und Kulturschaffende, Arbeitnehmer und Unternehmer, Männer und Frauen, Junge und Ältere. Bei allem Wandel: Zusammengehalten wird die Partei weiterhin durch ihre Grundwerte Freiheit, Gerechtigkeit und Solidarität.
Eine Volkspartei muß mitten im Volk sein. Nur so ist sicher, daß es einen Austausch von Ideen und Konzepten zwischen Regierung, Parlamenten, Partei und Bevölkerung gibt - einen Austausch in beiden Richtungen. Unsere Mitglieder sind dabei das wichtigste Scharnier. Sie sorgen dafür, daß Parteien in der Gesellschaft verwurzelt bleiben; Sie bringen sich und ihre Forderungen in den Meinungsbildungsprozeß ein und gewährleisten, daß unsere Politik sich an Interessen und Bedürfnissen der Menschen ausrichtet.
Nicht überall ist die Verankerung in der Gesellschaft noch gegeben. Sie wieder herzustellen, die Türen für neue Menschen, die Köpfe für neue Ideen weit zu öffnen, ist Voraussetzung dafür, daß wir führende politische Kraft bleiben. Den gesellschaftlichen Wandel erkennen und aufnehmen, auf der Höhe der Zeit sein, Organisation und Programme immer wieder auf den Prüfstand stellen - wenn wir dies beherzigen, werden wir die neuen Anforderungen gut bestehen.
Differenzierte Kompetenzen entwickeln
Für den Erhalt als Mitgliederpartei, für den professionellen Umgang mit den Anforderungen der Mediengesellschaft und für den Aufbau einer dienstleistungsorientierten, lernbereiten Parteiorganisation müssen die sozialdemokratischen und sozialistischen Parteien Europas ein Bündel differenzierter Kompetenzen entwickeln. Sie benötigen dafür:
- Programm und Handlungskompetenz, das heißt: in zentralen Politikfeldern neue Optionen und Chancen aufnehmen, Korridore für deren Realisierung aufzeigen und konsequent in Regierungshandeln umsetzen.
- Innovationskompetenz, das heißt: gesellschaftliche Trends frühzeitig aufgreifen, diese Veränderungen rechtzeitig analysieren und kontinuierlich auch in politisches Handeln übersetzen.
- Dialogkompetenz, das heißt: Unterstützung für Reformen durch Moderation und Diskursorientierung erreichen.
- Kommunikationskompetenz, das heißt: Personen und Symbole für die Verbreitung von Ideen und Werten nutzen.
- Organisationskompetenz, das heißt: gesellschaftliche Veränderungen in organisatorischen und institutionellen Strukturen abbilden.
Professionalisierung der Parteiarbeit
Um leistungsfähig zu sein, brauchen moderne Parteien klare Informations- und Entscheidungsstrukturen sowie moderne Organisationselemente. Ihr wichtigstes Kapital aber ist die Motivation und Qualifikation ihrer Mitarbeiter und ehrenamtlichen Repräsentanten. Gerade in Zeiten raschen Strukturwandels benötigen sie regelmäßige Schulung und Unterstützung. Qualifikation durch Managementwissen, Kommunikationsfähigkeit und Sachkompetenz sind dabei zentrale Elemente.
Aufbau einer Dienstleistungskultur
Dienstleister sein heißt für eine moderne Partei auch, eine vermittelnde Funktion zwischen verschiedenen politischen Institutionen einerseits und der Öffentlichkeit andererseits wahrzunehmen. Die Parteiorganisation ist Teil eines Netzwerkes, das die Schwesterparteien ebenso wie die Fraktionen, nahestehende Verbände und Gewerkschaften, Parteigliederungen und die Regierungsmitglieder umfaßt. Kommunikation wird aber nicht nur zwischen politischen Akteuren vermittelt, sondern auch mit den Parteimitgliedern, den Medien und den Wählern.
Öffnung der Partei
Voraussetzung für eine vermittelnde Rolle sozialdemokratischer Parteien ist ihre Offenheit gegenüber allen gesellschaftlichen Gruppen. Die Dialogfähigkeit ist die Grundlage für Kompetenz zur Innovation. Wir wollen uns deshalb öffnen für junge Menschen. Wir wollen offen für Menschen sein, die mit neuen Technologien und neuen Formen der Wirtschaft arbeiten. Und wir wollen offen sein für all jene, die eine punktuelle Mitarbeit, Projektarbeit oder Möglichkeiten zur befristeten Unterstützung einzelner Ziele oder Personen suchen.
Online-Partei werden
Dabei können die neuen Informations- und Kommunikationstechnologien, auch das Internet, helfen. Online-Partei zu sein heißt nicht nur, eine eigene Visitenkarte im weltweiten Netz vorzuzeigen: Es bedeutet auch, einen direkten Zugang zu den eigenen Mitgliedern zu haben und damit Informationen ohne den Filter der Medien weitergeben zu können. Das Internet ermöglicht eine schnellere, effizientere Kommunikation innerhalb der Organisation und ein Stück Deutungshoheit über die eigene Politik.
Das Internet eröffnet die Chance, neue Arbeits- und Organisationsformen zu entwickeln. Diskussionsforen beispielsweise bilden bereits heute eine nützliche Basis für politischen Austausch mit Unterstützern und Gegnern sozialdemokratischer Politik. Zusätzlich bietet das Internet aber auch die Chance zur Selbstorganisation von Interessen-, Fach-, Themen- oder Projektgruppen, die Mitglieder und Nicht-Mitglieder zusammenführen können.
Aufbau von Kompetenznetzwerken
Kompetenznetzwerke werden immer wichtiger als eine neue Form der Arbeit im Vorfeld der politischen Organisationen. Politische Entscheidungen - etwa im Bereich der Biotechnologie oder der Energiewirtschaft - werfen heute ökonomische, ökologische, finanzielle, soziale und ethische Fragen auf: Eine Partei kann aber nicht mehr alles Wissen, das zur Lösung komplexer Probleme notwendig ist, bereit halten. Sie muß deshalb den Anstoß dazu geben, all jene, die über Kompetenz in Sachfragen verfügen, zur Zusammenarbeit zu bringen.
Organisation ist Politik
Der rasche Strukturwandel fordert der Politik Antworten auf neue soziale Fragen ab. Die Veränderung der Gesellschaftsstruktur erfordert aber auch einen Wandel der Organisation. Wir benötigen vielfältigere und zugleich offenere Formen der Mitarbeit, flexiblere Formen der Organisation und der politischen Dienstleistungen und professionelles Kommunizieren in den Medien. Darüber hinaus müssen wir neue Dialogformen für den politischen Diskurs in unseren Gesellschaften entwickeln. Bei alledem gilt: Organisation ist Politik, programmatische Arbeit hat organisatorische Voraussetzungen.