Orte der strategischen Entschleunigung
Volker Perthes kommt mit dem Kinderwagen. Wir treffen uns Anfang September im Nola’s am Weinberg zum Frühstücken. Während wir essen und diskutieren, schläft sein acht Monate alter Sohn friedlich neben uns. Perthes’ Lieblingslokal ist ein gemütliches schweizerisches Restaurant („Alle Preise in Euro!“) in Berlin-Mitte mit Ausblick auf den angrenzenden Volkspark am Weinbergsweg. Der 58-Jährige wohnt in der Nähe und hat in dem Restaurant sogar geheiratet. Wir bestellen beide das „Chäsige Frühstück“ mit verschiedenen Käsesorten, Bircher Müsli und hausgemachter Marmelade.
Seit zehn Jahren ist Volker Perthes Direktor der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), dem bedeutendsten deutschen Think Tank zu Fragen der Außen- und Sicherheitspolitik. Sein besonderes Interesse gilt dem Nahen Osten. Perthes hat mehrere Bücher über die Region geschrieben und gerade erst den Essay Das Ende des Nahen Ostens, wie wir ihn kennen veröffentlicht.
Wie viel Einfluss hat die SWP auf die Politik? Perthes glaubt, dass die Bedeutung des Instituts „sowohl über- als auch unterschätzt wird“. Die wichtigsten politischen Berater säßen in den Planungsstellen der Ministerien. Bei tagespolitischen Entscheidungen sei die SWP eher selten beteiligt: „Manchmal beraten wir die Berater.“ Aber das Institut biete Wissenschaftlern und Politikern einen geschützten Raum, wo sie sich austauschen, Möglichkeiten ausloten und Thesen überprüfen könnten. „Daraus entwickeln sich dann Impulse, die eher mittel- oder langfristig wirken.“
Wir kommen auf die Flüchtlinge zu sprechen, die in diesen Wochen zu Tausenden nach Deutschland und Europa kommen. Volker Perthes hält die Entscheidung, die deutschen Grenzen zeitweilig zu öffnen, nicht für naiv. Sie sei die einzig richtige Reaktion auf eine akute Notsituation gewesen – mit einem positiven Effekt auf die Hilfsbereitschaft der Bevölkerung. „Wie nachhaltig die Anteilnahme ist, muss sich natürlich erst noch erweisen.“
Der aktuellen Flüchtlingssituation kann Perthes noch einen weiteren positiven Aspekt abgewinnen: Die vielen arabischen Flüchtlinge sorgen dafür, dass die Konflikte der Region wieder stärker in den Fokus der europäischen Politik rücken. Verhandlungen seien der einzige sinnvolle Weg: „Das ist jetzt die große Aufgabe der Diplomatie.“ Man müsse mit allen am Syrien-Konflikt beteiligten Parteien reden, die dazu bereit sind, um zunächst einen Waffenstillstand und später eine politische Lösung zu vereinbaren. Auch müssten Saudi-Arabien und Iran endlich an einen Tisch gebracht werden. Dass in Syrien eine Seite militärisch über alle anderen siegen wird, hält Perthes hingegen für „sehr unwahrscheinlich“. Vor allem Deutschland und die EU seien jetzt gefordert. „Wir müssen verhindern, dass im Nahen Osten – aber auch unter den Flüchtlingen in Europa – eine verlorene Generation ohne Perspektive heranwächst“, sagt er.
Ich frage Perthes nach den Ursachen der gesellschaftlichen Konflikte im Nahen Osten. Der Umbruch in der Region gehe auf die Unfähigkeit der alten Ordnung zurück, die gestiegenen Erwartungen der Bevölkerung zu erfüllen. „Der alte autoritäre Sozialvertrag – staatliche Sozialleistungen gegen politische Stagnation – funktioniert nicht mehr. Und ein neuer ist noch nicht in Sicht, außer vielleicht in Tunesien.“
In Syrien und in Teilen des Irak hingegen gibt es so gut wie keine Ordnung mehr. „Dort geht es nicht mehr nur um die politische Macht, sondern um Identität, Angst und ums nackte Überleben.“ Paradoxerweise stabilisiere das dortige Chaos die anderen Staaten in der Region. „Die Leute sagen sich: Lieber eine autoritäre Ordnung als gar keine Ordnung.“ Dennoch ist Perthes, der Ende der achtziger Jahre längere Zeit in Syrien gelebt hat, verhalten optimistisch, dass den vielen jungen und gut ausgebildeten Arabern langfristig eine politische Mobilisierung gelingen wird, aus der ein neuer, besserer Sozialvertrag für alle resultieren kann.
Mittlerweile ist sein Sohn aufgewacht. Perthes nimmt ihn auf den Schoß und lässt sich nicht aus der Ruhe bringen. Trägt der Westen eine Mitschuld an der aktuellen Lage im Nahen Osten? Der Politikwissenschaftler meint, dass der amerikanische Einmarsch in den Irak 2003 nicht nur ein „Verstoß gegen das Völkerrecht“, sondern auch „eine enorme Dummheit“ war. Schließlich sei dadurch eine – wenn auch schlechte – Ordnung zerstört worden. Aber auch der Anteil der einheimischen Eliten an der jetzigen Situation dürfe nicht vergessen werden: „Wenn die Elite nicht dazu in der Lage ist, einen funktionierenden Gesellschaftsvertrag mit der Bevölkerung zu schließen, können externe Akteure die inneren Konflikte für ihre Zwecke ausnutzen.“ Die Unordnung werde dadurch oft noch verstärkt, wie der Bürgerkrieg in Syrien zeige. Dort mischen besonders die Regionalmächte Saudi-Arabien und Iran kräftig mit.
Besonders gravierend an den Konflikten im arabischen Raum sei das „Gift der Konfessionalisierung“. Die Polarisierung zwischen Sunniten und Schiiten erschwere die Befriedung der arabischen Gesellschaften; die jeweiligen Eliten hätten Angst vor späteren Racheakten durch Angehörige einer anderen Konfession, die unter der alten Herrschaft gelitten haben. Ebenso problematisch ist Perthes zufolge, dass es in der Region kaum Demokraten gebe: „Wahlen werden mit Demokratie verwechselt, und bei vielen Politikern existiert die majoritäre Überzeugung, durchregieren zu können, sobald man glaubt, ein Mandat der Mehrheit zu haben.“ Doch ohne die Begrenzung politischer Macht durch andere Akteure und Institutionen funktioniere Demokratie nun einmal nicht.
Wir sind uns einig, dass diese majoritäre Einstellung nicht nur ein Problem des Nahen Ostens ist, sondern sich zum Beispiel auch in Russland oder der Türkei zeigt, wo Putin und Erdogan zunehmend autokratische Strukturen schaffen. „An Macht interessiert ist jeder Politiker“, meint Volker Perthes. „Gefährlich wird es aber, wenn es nur noch um Macht und keine anderen Ziele mehr geht.“ Dennoch brauche man beide Staaten, um die Konflikte im Nahen Osten beilegen zu können. „Gerade Russland möchte zeigen, dass es ein konstruktiver Partner in der Region ist.“ Den innenpolitisch motivierten Konflikt zwischen der türkischen Regierung und der PKK betrachtet er hingegen als äußerst gefährlich. An der populistischen Entwicklung Erdogans trage womöglich auch die EU eine Mitverantwortung, weil sie der Türkei in den vergangenen Jahren keine europäische Perspektive mehr geboten hat.
Das Nola’s war zur Zeit der DDR ein Tanzcafé, das nach der Wende zunächst zum Technoklub umfunktioniert wurde, erzählt Perthes. Für ihn ist dieser Ort ein gutes Beispiel für die Dynamik und ständige Veränderung Berlins: „In dieser Stadt brummt und lebt es, das finde ich gut.“ Das merke man auch der SWP an, die sich seit ihrem Umzug von München nach Berlin „vom Kloster zum Think Tank“ gewandelt habe. Doch auch in der Hauptstadt sei gerade in Zeiten des Umbruchs und vieler Unschärfen ein „Ort der strategischen Entschleunigung“ notwendig, wie ihn die SWP für außenpolitische Reflektionen biete. Auch das Nola’s am Weinberg ist ein solcher Ort der Entschleunigung – mitten im hektischen Treiben der Stadt.