Pappsüße Zuckerpampe und ein Obdachloser

Eine Nacht bei den Reichen in Zehlendorf

Zehlendorf wird von den Berlinern, traut man den Sozialstudien, zu Recht “Witwendorf” genannt. Die meisten Menschen hier sind alt und reich, zumindest älter und reicher als der Rest der Stadt, vom Grunewald mal abgesehen. Somit ist die Gegend, wo schon Otto Lilienthal seine ersten Flugversuche unternahm, ein lohnendes Ziel für ein bisschen Sozialtourismus. Und dafür, der Frage nachzugehen: “Was ist arm? Was ist reich?”

Die Gegend um Bahnhof Zehlendorf gibt sich erstaunlich unschick. Die Reichen und Schönen fallen einem nicht gleich um den Hals, wenn man die S1 verlässt. Man muss sie suchen. Vom Bahnhof Zehlendorf kommend, vorbei an der Postbank, der Volksbank und der Dresdner Bank. Direkt gegenüber der Deutschen Bank findet sich ein beschaulicher Innenhof mit Kneipe. La Fontaine heißt sie. Der Name klingt nett, irgendwie entfernt sozialdemokratisch. Dieser Eindruck setzt sich im Inneren fort. Johannes Rau lächelt von der Wand, und der Mann am Tresen sieht aus wie Klaus-Uwe Benneter. Totzdem ist es gemütlich. Wirtin Heike sieht ihr Lokal weniger als Kneipe, sondern mehr als Wein- und Bierstube französischer Prägung. Daher also auch das umfassende Flammkuchenangebot. Auf die Frage, was in ihren Augen arm sei, stutzt sie. “Gute Frage ... Arme gehen nicht in ’ne Kneipe.” Und was ist reich? Sie deutet auf einige Herren im Hintergrund: “Die sind reich. Die haben Grundbesitz in Wannsee und Frankreich.” Außerdem erfahren wir, dass wir zur falschen Jahreszeit gekommen sind. Im Sommer soll es hier so etwas wie eine Biergartenkultur geben.

Weiter geht’s. Wo sind die Reichen und Schönen? In der Cocktailbar Hommage, direkt neben der Commerzbank, werden wir zwar auch nicht fündig, dafür treffen wir Frank. Frank ist Anwalt und Genosse, außerdem spielt er mit dem Ex-Stellvertreter von Walter Momper Tennis. Unter der Dauerberieselung von sphärischen Klängen klärt er uns über die Vorzüge von Zehlendorf auf. Die Schulen seien hier besser, außerdem bringt der Wind keine Abgase aus der Stadt mit. Und viel Grün gibt es. Und wer ist hier reich? “Hier würde niemand von sich sagen, dass er reich ist, aber richtig reich ist nur der, der nicht hetzen muss”, unterbricht uns Barkeeperin Juana. Der Haus-Cocktail heißt hier “Sweet Hommage” und ist eine pappsüße Zuckerpampe aus Orangen-, Bananen-, Ananas-, Maracuja-, Mango-, Zitronensaft, dazu Wodka und Weißer Rum. 7 Euro soll der Spaß kosten. Auf der Straße tappen drei gigantisch große Doggen mit Frauchen vorbei.

Die den Kaiser an der Wand hängen haben

Die örtliche SPD tagt angeblich im Ratskeller, der sich unter dem im Siebziger-Jahre-Stil errichteten Neuen Rathaus befindet. Doch bevor man einen Fuß reinsetzen kann, ist man mit dem anderen schon wieder draußen. “Geschlossene Gesellschaft”, heißt es freundlich. Das Bier hätte hier 2,80 Euro gekostet. In der Arcade findet man, ein paar halbstarke Jungtürken und einen Skat-Stammtisch. Die Jungen wollen von Zehlendorf nichts wissen, zu wenig kann ihnen die Sozialoase bieten. Lieber würden sie in der Stadt wohnen. Es klingt fast so, als ob Zehlendorf am Ende der Welt liegen würde. Sehr zu empfehlen sei ihr Lachsfrühstück mit einem Pott Kaffee für nur 5,20 Euro, sagt die Wirtin. Ihren Namen möchte sie aber nicht sagen, genauso wie es den Skatfreunden wohl die Sprache verschlagen hat. Vielleicht ist auch einfach das Bier zu billig. 2,70 Euro der halbe Liter.

Direkt gegenüber dem wohl am besten sortierten Kaiser’s-Supermarkt von ganz Berlin findet man das Gasthaus Kronprinz. An der Wand hängt der Kaiser selbst, zusammen mit seinen sechs Söhnen. Man muss aufpassen, nicht ins monarchistische Schwärmen zu geraten.

Das Publikum ist hier älter, gibt sich etwas bürgerlicher. Ob das was mit dem Kaiser zu tun hat können wir nicht herausfinden. In der Speisekarte springt wieder das umfangreiche Angebot an Flammkuchen ins Auge, und für kurze Zeit hat man das Gefühl, nicht im amerikanischen, sondern im französischen Sektor Berlins gelandet zu sein. Aus den zahlreichen Bildern Sport treibender Rentner, die den Kaiser einrahmen, lässt sich auf die Lieblingsbeschäftigungen der Zehlendorfer schließen. Wichtig sind ihnen Tennis spielen, Rad fahren und Rudern. Hertha 03 Zehlendorf nicht zu vergessen. Auf unsere Frage nach Arm und Reich bekommen wir den Rat, doch mal besser in den Grunewald zu fahren. Dort seien die Leute nämlich richtig reich. Hier in Zehlendorf, Richtung Teltow, gebe es sogar sowas wie Sozialwohnungsbau. Und einen Obdachlosen obendrein!

Durch diese Informationen animiert, machen wir uns auf die Suche und landen schließlich im Lindenpark. “Ich höre hier genauso schmutzige Witze wie überall”, meint die berlinerfahrene Wirtin Pia, “und die Leute laufen hier auch in Boxershorts rum, nix besonderes an Zehlendorf”. Früher hätte es sogar mal ein richtiges Nachtleben gegeben, mit Discos und so, aber jetzt würden die Leute alle “in die Stadt rein” fahren. Das Zehlendorfer Urgestein Inge, die gerade von ihrem Power-Nap am Tresen aufgewacht ist, erklärt, dass alle Reichen in Mitte wohnen würden. Außerdem sei auch hier in Witwendorf früher alles besser gewesen. Die Nachtbuslinie N10 braucht von Bahnhof Zehlendorf zum Zoo übrigens eine halbe Stunde.

GASTHAUS KRONPRINZ – Clayallee 323
COCKTAILBAR HOMMAGE – Clayallee 348
LA FONTAINE – Onkel-Tom-Straße 1
LINDENPARK – Berliner Straße 195
ARCADEN – Teltower Damm/Potsdamer Straße

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