Partei der Modernität und Sicherheit

Wenn der »Schulz-Effekt« kein Strohfeuer bleiben soll, muss die Sozialdemokratie ihre strukturellen Probleme angehen. Martin Schulz ist in vieler Hinsicht der ideale Mann, diesen Kraftakt zu schultern - und es ist alternativlos, dass er es auch schafft

Lange habe ich keinen Text über die SPD gelesen, der mich besonders berührte. Vor Kurzem aber hat der Schriftsteller und Genosse Steffen Kopetzky in der Welt den Essay „Mein Willy Brandt heißt Markus Käser“ veröffentlicht, der mich jubeln ließ. Da erhob einer die Stimme für eine Partei, wie sie die SPD auch sein könnte: intelligent, interessant, mit Wirklichkeitssinn und der Bereitschaft, Spaß zu haben. So wollte die SPD zu lange nicht sein, und der kurzfristige, manchmal hysterisch anmutende Hype um den neuen Vorsitzenden und SPD-Spitzenkandidaten Martin Schulz („Gottkanzler“) ist wahrscheinlich auch nicht der Weg dorthin.

Kopetzky betrachtet in seinem Essay einen extremen Einzelfall – die Wahl des neuen SPD-Landesvorsitzenden in Bayern. Was er dabei schildert – die realitätsferne Forderungs- und Antragswelt einer beim Wähler aussichtslosen Partei; die Pseudo-Geschlossenheit, die jede vernünftige Diskussion verhindert; die Mittelmäßigkeit des Personals, weil nur Mittelmäßige die sinnlosen Rituale und Demütigungen der Auswahl ertragen und die Eigensucht des Kern-Establishments, das auch dann noch Mandate bekommt, wenn die Partei bei zehn Prozent landet –, lässt sich aber leider auf weite Teile der SPD anwenden.

Genau das ist es, was den Leuten an uns auf die Nerven geht und was sich ändern muss. Wenn nicht die Netten, die Guten und die Klugen, die so denken wie Steffen Kopetzky, den selbstgenügsamen Funktionären nach und nach die Partei entreißen, wird auch der mit 100 Prozent an die Spitze gewählte Hoffnungsträger auf Dauer keinen Erfolg haben können.

Allein schon, weil nicht noch ein sozialdemokratischer Kanzlerkandidat scheitern darf, könnte Martin Schulz derjenige sein, der der SPD einen neuen Aufbruch ermöglicht, einen neuen Stil prägt, untypisches Personal ermutigt und die Sozialdemokraten thematisch auf die Höhe der Zeit bringt. Dort sind sie nämlich nicht. Die Partei steht an zu vielen Orten in Deutschland – Berlin ist da nur ein Beispiel – für eine ideologische Kommunalpolitik, für eine seltsame Fixierung auf Minderheiten, eine im Ergebnis zu schlechte Bildungspolitik, eine inkonsequente Integrationspolitik, für sicherheitspolitische Ignoranz und Ratlosigkeit gegenüber der digitalen Revolution.

Wenn der „Schulz-Effekt“, der die SPD in den Umfragen wieder auf Augenhöhe mit der CDU gebracht hat, kein Strohfeuer bleiben soll, muss Schulz die strukturellen Probleme der Partei angehen, und zwar so, dass das Publikum ihm glaubt. Und vor allem muss er den Verdacht der Wankelmütigkeit und des Opportunismus der Nach-Schröder-Ära vermeiden.

Wie kann das geschehen? Zum einen, indem man die Union und die Bundeskanzlerin nicht reflexhaft angreift und die Arbeit der Großen Koalition, an der man mit sechs Bundesministerinnen und -ministern in wichtigen Ressorts beteiligt ist, nicht unnötig schlecht redet. Die SPD hatte in den Kommunen, in den Ländern und im Bund viele Möglichkeiten, Ungerechtigkeit zu bekämpfen. Wenn sie mit dem Ergebnis nicht zufrieden ist, ist das in erster Linie ein Anlass für Selbstkritik.

Nur mit Underdogs hat die SPD noch nie gewonnen

Angela Merkel hart anzugreifen, wie es sich manche Parteilinke wünschen, dürfte kontraproduktiv sein: Die Kanzlerin ist beliebt, liegt in den Umfragen vorn, bietet Stabilität und Kontinuität in einer schwankenden Welt – und man hat acht Jahre bestens mit ihr zusammengearbeitet. Angreifen könnte man sie lediglich unter Anerkennung all ihrer Verdienste: als jemanden, die inzwischen sehr lange dabei ist, so dass Raum und Zeit für neue Gedanken wäre. In Bedrängnis bringen könnte Martin Schulz sie, indem er anders über Europa und den Alltag der Menschen redet als sie: erklärend, bildreich, lebendig, zum Widerspruch einladend. Schulz könnte auf einen neuen Führungsanspruch innerhalb der Großen Koalition (die die Deutschen mehrheitlich nicht schlecht finden) setzen. Er könnte, ohne es immerzu zu sagen, als der Kandidat auftreten, der für Innovation steht – neben der Gerechtigkeit war es stets auch die Innovationskomponente ihres Wahlversprechens, die den Sozialdemokraten zum Sieg verhalf.

Zugleich ist die Orientierung auf eine moderne Politik, die sensibel für die Bedürfnisse der („solidarischen“) Mitte ist, von zentraler Bedeutung für die Mehrheitsfähigkeit der SPD. Nur mit Underdogs hat sie noch nie gewonnen. Und nicht erst seit dem taktisch unklugen, unnötigen und erfolglosen Flirt mit Rot-Rot-Grün im Saarland sind sich Demoskopen einig, dass die Sozialdemokraten nur mit Unterstützung der Mitte der Gesellschaft stärkste Kraft werden können. Aber auch ein hektisches Umschwenken von Rot-Rot-Grün auf eine Ampel-Koalition ist keine Lösung: Das wirkt wenig souverän und opportunistisch, besonders, nachdem man die FDP so lange als Hort des Neoliberalismus verdammt hat.

Die SPD muss für sich selbst antreten. Der Kern dieses „Selbst“ müssen Modernität und die Aufgeschlossenheit gegenüber den Befindlichkeiten der Mitte sein sowie ein Stabilitätsversprechen für alle Menschen, die sich bemühen. Unter dem Stichwort Stabilität, oder vielleicht noch besser unter dem Stichwort Sicherheit, geht es auch um Deutschlands Rolle in der Welt. Das ist der Punkt, mit dem man die Linkspartei auf Distanz halten kann. Die Linke hat der SPD nicht vorab mondsüchtige sozialpolitische Koalitionsbedingungen zu stellen, sondern muss selbst erst einmal ihr Verhältnis zu Nato, EU und Bundeswehr klären. Erst dann (und nur dann) lohnt es sich, miteinander zu verhandeln.

Die SPD hat ein mehrschichtiges Personalproblem. Die Generation der 50- bis 60-Jährigen, die heute die wichtigsten Ämter besetzt, ist vielleicht schon allzu lange dabei, hat zu viel mitgemacht, gerechtfertigt, entschuldigt und verschuldet. So ungerecht es sein mag, die Partei braucht neue Gesichter, nicht notwendig jüngere, aber mit anderen Biografien. Das bedeutet natürlich einen geradezu übermenschlichen Verzicht für Gewählte, die neue Persönlichkeiten zu ihren eigenen Lasten suchen müssten. Ein Dilemma, ein echtes Problem, eine Herausforderung für die weise Personalpolitik einer großen Parteiführung! Und: Die Partei muss sich bei der Auswahl ihrer Kandidaten mehr anstrengen, denn abgesessene Gremienstunden sind kein geeigneter Maßstab dafür, wen man den Wählern als Mandatsträger anbieten will.

Weil das »weiter so« keine Alternative ist


Eine aktive Personalpolitik ist auch unter einem weiteren Gesichtspunkt notwendig: Frauen dürfen in der Quoten-SPD nicht länger nach dem Maß ihrer Unstressigkeit für Männernetzwerke ausgesucht werden. Vielleicht ist es zu viel verlangt, dass sich diese Netzwerke von sich aus um eigenwillige und unbequeme Frauen bemühen. Aber es wäre schön, wenn der landläufige Quotenpaternalismus solche Frauen nicht länger fernhalten würde. So oder so muss die SPD es schaffen, dass auch Genossinnen ernsthaft als Kanzlerin, Parteivorsitzende, Fraktionsvorsitzende oder Außenministerin in Frage kommen. Denn sonst machen junge Frauen weiter wie bisher und wählen mehrheitlich Angela Merkel.

Das große, überwölbende Super-Thema für die Sozialdemokraten 2017 ist Sicherheit. Soziale Sicherheit gegen widrige Schicksalswendungen; Bildung, die sicher etwas taugt; Sicherheit in Städten und Nachbarschaften; äußere Sicherheit in und mit Europa, mit dem wir viel mehr zu tun haben werden und viel mehr zu tun haben wollen.

Martin Schulz ist in vielerlei Hinsicht der ideale Mann, um dieses Programm zu verkörpern, dafür zu werben, es durchzusetzen. Und es ist alternativlos, dass er das auch schafft. Denn das „Weiter so“ ist definitiv keine Alternative.

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