Partei ohne Debatte

Warum die Grundsatzprogrammdebatte der CDU keinerlei Aufmerksamkeit fand

Kurz vor Herbstbeginn konnte man für ein paar Tage denken: Jetzt passiert es, jetzt bricht in der CDU doch noch eine Programmdebatte aus. Zumindest eine kleine. Beim Programmkongress der Partei in Hanau fieberten einige der Gäste von der Basis auf diesen Augenblick sogar richtig hin. Es werde Zeit, sagten sie, dass endlich das Papier der Jungen Konservativen komme. Andere Parteifreunde hingegen waren skeptisch. Was sei schon zu erwarten von einer Gruppe um den CSU-Generalsekretär Markus Söder und den Vorsitzenden der Jungen Union, Philipp Missfelder? Andererseits: Auf wen sollten sie sonst setzen? Immerhin hatte die Vierer-Bande – auch der Generalsekretär der nordrhein-westfälischen CDU, Hendrik Wüst, und der baden-württembergische Fraktionschef Stefan Mappus gehören dazu – sich gefunden, um in der Debatte über die Zukunft der Union eine kritische, konservative Position zu formulieren. Ihr Papier hätte ein Anstoß sein können.

 

Aber dann wurde wieder nichts daraus. Das lag nicht allein daran, dass das konservativ gemeinte Dokument schwach und phrasenhaft ausfiel. Auch nicht nur daran, dass CDU-Generalsekretär Ronald Pofalla (der es ein wenig bang erwartet hatte) das Papier als „Debattenbeitrag“ willkommen hieß – und die Sache mit dieser Umarmung erledigen wollte. Es kam ganz einfach deshalb zu keiner wirklichen Debatte im Grundsatzprogrammprozess der CDU, weil niemand den Anstoß öffentlich aufnahm. Nicht einmal für einen fundierten Widerspruch aus der ersten Reihe der Partei reichte es. Und so bewegt sich die Programmdebatte der Christdemokraten weiter beklemmend ereignislos auf ihren Abschluss beim Parteitag im Dezember dieses Jahres in Hannover hin.

Ein im Grunde sensationelles Phänomen

Zu beobachten ist ein im Grunde sensationelles Phänomen. Man glaubt kaum, dass so etwas gelingen kann in einer Zeit, da auf der politischen Bühne über jede Petitesse ein Konflikt entfacht wird. In einer Zeit auch, da sich die SPD über programmatische Grundsatzfragen ziemlich grundsätzlich entzweit und deren führende Politiker sehr bewusst die Gelegenheit nutzen, sich zu profilieren. In der CDU jedoch ist tatsächlich keine einzige prominente Stimme zu hören, die auch nur irgendeinen besonderen Akzent für das neue Programm einfordern würde – oder für alle erkennbar eine tiefere Spur hinterlassen hätte. Nicht Roland Koch, nicht Christian Wulff, nicht Günther Oettinger. Und am Ende nicht einmal Jürgen Rüttgers. Die wenigen Kontrapunkte werden von Veteranen wie Wulf Schönbohm oder Heiner Geißler gesetzt, die nicht mehr mitten im Parteileben stehen. Aber sie sind Außenseiter, über die die Parteizentrale mühelos streuen kann, sie würden ohnehin von niemandem mehr ernst genommen.

 

Die CDU sucht ein neues Grundsatzprogramm, und es geht zu wie während der Feier zum runden Geburtstag eines reifen Herren, bei der keiner die Harmonie stören will. Woran liegt das? Zunächst einmal daran, dass es die Machtpolitiker in der CDU eher albern finden, sich – „verbissen wie die Sozis“, würden manche von ihnen sagen – im Streit über einzelne Absätze eines Grundsatzprogramms aufzureiben. Nach deren Selbstverständnis ist die CDU auch heute noch keine Programmpartei. Sie setzt bei ihrer Arbeit auf feste Prinzipien – doch muss man die denn etwa gleich aufschreiben? Am Rande der Gremiensitzungen zum neuen Programm der Partei war zu erleben, wie sich mächtige Landes- und Bundespolitiker prächtig darüber amüsierten, dass Kollegen aus der zweiten Reihe intern eifrig darüber debattierten, ob nun der Absatz zum Begriff der Freiheit länger oder kürzer ausfallen solle als jener zum Begriff der Sicherheit.

 

Der Mangel an Streit belegt zudem, wie gefestigt die noch vor wenigen Jahren wackelige Machtbasis der Parteivorsitzenden inzwischen ist (während umgekehrt die heftige Debatte in der SPD deren fragile Führungsstruktur dokumentiert). Bei der CDU sind die vermeintlichen Wölfe aus der zweiten Reihe domestiziert. Wozu übermäßige Profilierungsversuche führen können, hat zuletzt der nordrhein-westfälische Ministerpräsident Rüttgers mit seinem Debakel bei der Vorstandswahl auf dem Parteitag in Dresden erlebt.

Umwälzen, ohne dass es jemand merkt

Aber vor allem ist die Geräuschlosigkeit und Konfliktarmut deshalb kein Zufall, weil dieser geschmeidige Weg genau dem Kalkül der Führung entspricht. Wir erleben den sorgsam inszenierten Versuch, die CDU an wichtigen Stellen umzuwälzen und teilweise zu erneuern, ohne dass die Partei es allzu sehr merkt und gar Schmerzen entwickeln könnte. Diese Behutsamkeit ist die Konsequenz, die die übervorsichtige Parteichefin offenkundig aus leidvollen Erfahrungen vor allem im Wahlkampf 2005 gezogen hat. Und so maskenhaft und zuweilen drollig ihr Generalsekretär Ronald Pofalla im tagespolitischen Auftreten erscheinen mag: diesen sanften Prozess zumindest hat er in ihrem Sinne erfolgreich gemanagt – mit Hilfe eines intensiv gepflegten Netzwerks in der Partei, durch ständige Rückkopplungen in die Interessengruppen und in der vorsichtigen Grundhaltung, bloß nichts zu weit voranzutreiben.

Wer nicht reden will, darf nicht schweigen

Es ist zu bedenken, in welchem Zustand die Parteichefin die Suche nach dem neuen Grundsatzprogramm beginnen ließ. Der Prozess startete direkt nach ihrem bestenfalls halben Wahlsieg vom September 2005. Angela Merkel war zwar Kanzlerin geworden, aber bei der Wahl weit hinter allen Erwartungen zurückgeblieben. Über die Ursachen für das Debakel nachzudenken – das konnten sich Merkel und die Partei nicht leisten. Um quälende Fehleranalysen und Zweifel an ihrer Strahlkraft als Spitzenkandidatin abzuwenden, ergriff sie die Flucht ins Grundsätzliche. Und es gab ja gute Gründe, die eigenen Grundsätze zu überdenken. Das Wahlergebnis gab genug Hinweise auf Erneuerungsbedarf an den Fundamenten: Da war etwa die anhaltende Schwäche der Union in den Großstädten oder bei den jungen Frauen. Und auch bei Arbeitnehmern und Arbeitslosen blieb die Union schwach.

 

Wer will, dass brennende Fragen nicht gestellt werden, darf es auf keinen Fall mit Totschweigen versuchen. Dann kommt nämlich immer jemand auf die Idee, nachzufragen. Besser ist es, so viele so allgemeine Fragen zu stellen, dass die Diskussion möglichst schnell ins politische Nirwana abheben kann. Deshalb ersann die vielköpfige Grundsatzprogramm-Kommission der CDU einen aberwitzig umfangreichen Katalog von Leitfragen und Unterfragen, auf den man ernsthaft eigentlich nur mit Monty Pythons Film über den Sinn des Lebens antworten konnte. Als gälte es, ganz bei Null anzufangen, reichte der bunte Strauß von den Urfragen aller Identitätssuchenden („Was bewegt uns, was treibt uns an?“ oder auch „Wie und wo finden die Menschen heute Halt und Sicherheit in ihrem Leben?“) hin zum Proseminar für angehende Gesellschaftswissenschaftler („Welche Ursachen haben zur Massenarbeitslosigkeit geführt?“) und der politischen Sinnsuche junger Staatsbürger („Was verstehen wir unter ‚konservativ‘, ‚liberal‘ und ‚sozial‘?“).

Einfach mal frei drauflos diskutieren

Entsprechend unstrukturiert fielen die Regionalkonferenzen aus, die den Auftakt der Diskussion markieren sollten: Die Basis konnte ein wenig über ihre politischen Sorgen reden, aber niemand bezog sich so recht auf den anderen. Dazu passte, dass die Parteispitze auf Einwände und Gedanken im Grunde nicht reagierte. Weil eine ernsthafte Diskussion so gar nicht aufkommen konnte, erzeugte der inszenierte Auftakt eher den Anschein eines demokratischen Prozesses, als dass er wirklich einer war. Im Mittelpunkt stand immer die Auftaktrede der Parteichefin, die bei dieser Unordnung alles überschattete.

 

Der Generalsekretär reklamierte fortan gern, anders als die SPD-Führung gebe die Unionsspitze keine Richtung vor und lasse die Parteimitglieder erst einmal frei drauflos diskutieren. Aber die Debatte erinnerte eher an das Klischee von Selbstfindungsgruppen, in denen der Therapeut die Klienten ziellos alles schwätzen lässt, was ihnen in den Sinn kommt – um sie anschließend auf den von ihm gewünschten Pfad zu führen. Und Ronald Pofalla wusste nur zu genau, wohin die Reise gehen sollte.

Anrührende Vorsicht wohin man schaut

Als Vorsitzender der CDU-Programmkommission ließ der Generalsekretär die Ideen, die ihm und der Parteichefin zentral erschienen, schon einmal in der Öffentlichkeit kursieren: Was der Generalsekretär nach außen kommunizierte, sollte Wegsteine markieren für den weiteren Verlauf. Er startete damit Versuchsballons, um die Modernisierungsbereitschaft der Partei und der Wählerschaft zu testen, sie aber auch auf ein paar zaghafte Schritte in die Moderne vorzubereiten. Um bei dem für das Selbstverständnis der Partei so wichtigen Familienbild neue Wege zu gehen, warfen Familienministerin Ursula von der Leyen und Ronald Pofalla immer wieder familienpolitische Vorschläge in die öffentliche Debatte und überprüften ihre Partei damit auf eventuelle Widerständigkeit.

 

Fast schon anrührend war die Vorsicht, mit der man sich voranbewegte. Der Wechsel hin zu einem Familienbild, bei dem sich sowohl Mütter als auch Väter jeweils zugleich für das Familieneinkommen und die Erziehung der Kinder zuständig fühlen sollen, wurde zwar unverkennbar vollzogen. Doch sind die Passagen so formuliert, dass sich wirklich niemand von Verstand darüber empören könnte – nicht einmal ein eingetragener Anhänger des traditionellen Familienbildes. Wer würde denn widersprechen, dass es nicht allein „Aufgabe von Frauen sein darf, Familie und Beruf zu vereinbaren“? So können sich aber auch keine ernsthaften Kontroversen entzünden. Jeder darf sich in dem Wust wohlklingender Allgemeinplätze wiederfinden. Am Ende ist nur der Sound des Kapitels zur Familienpolitik von einer Art, wie man sie in der CDU bislang nicht kannte – der Text ist auf eine unbestimmte Art moderner, ein bisschen nur. Aber die gewünschten Akzente waren gesetzt.

 

Typisch für diese Zögerlichkeit sind die vieldeutigen Formulierungen beim Familiensplitting – der Erweiterung des Ehegattensplittings. Wer genau hinschaut, kann aus dem Text herauslesen, dass die CDU beabsichtigt, auch die Kinder von Nichtverheirateten besserzustellen. Aber offensiv kommuniziert wurde das dann doch nicht. Die fürsorgliche Rücksichtnahme hat bis heute ulkige Folgen: Obwohl das Familiensplitting inzwischen ein von allen Spitzenleuten der CDU abgenickter Bestandteil des Grundsatzprogrammentwurfs ist, wird es medial noch immer wie eine Revolution auf Seiten der Union aufgenommen, wenn die Bundesfamilienministerin das Thema öffentlich anspricht.

Ein ganzes Potpourri gefälliger Begriffe

Wie Mitglieder berichten, wurde in der Programmkommission leidenschaftlich diskutiert. Manchmal rangen die Teilnehmer verbissen um einzelne Formulierungen, was andere wiederum als putzige Begriffsklauberei ansahen. Klar erkennbare Gewinner oder Verlierer gab es bei diesem Spiel indes nicht – zumindest ist am Ende kein Programm mit einer klaren neuen Richtung entstanden. Die zaghaften Signale hin zu mehr Modernität in der Familien-, der Umwelt-, der Integrationspolitik sind umrahmt von einem ganzen Potpourri gefälliger Begriffe, aus dem sich jeder nach eigenem Gusto bedienen kann. Einige Begriffe symbolisieren noch das Festhalten an den marktliberalen Leipziger Reformen, andere – etwa „Chancengesellschaft“ oder „Teilhabe für alle“ – stehen für das sozialere Profil, das die Union als Konsequenz aus dem Wahlfiasko des Jahres 2005 anstrebt. Um möglichen Konflikten vorzubeugen, hat der Generalsekretär die Passagen in langen Gesprächen unter anderem mit dem selbst ernannten Arbeiterführer Jürgen Rüttgers abgestimmt.

Auf der Flucht in die Symbolik

Bei ihrer Flucht in die Symbolik haben die Autoren Überschriften und Schlagwörter gesucht, die zwar eine schnelle Nachricht mitsamt klarer Titelzeile auslösen können, dann aber doch seltsam dünn unterfüttert bleiben. Exemplarisch zeigt sich das ausgerechnet am Begriff der „Leitkultur“, der noch vor wenigen Jahren mit politischer Sprengkraft geladen war. Die Autoren haben ihn als Zugeständnis an die Konservativen sehr bewusst aufgenommen, aber zugleich so allgemein definiert, dass er nicht provokant wirken kann. Auf diese Weise eingesetzt verliert er allerdings auch für die Konservativen die Bedeutung, die er noch hatte, als Friedrich Merz einst damit provozierte. Diese Gruppe fühlt sich womöglich gemeint – aber nicht angesprochen. Bei so viel Beliebigkeit war es nicht verwunderlich, dass die Präsentation des Programmentwurfs im Frühsommer keine Debatte auslöste. In schnellen Reaktionen antworteten die Sprecher der politischen Konkurrenz auf die bekannt gewordenen Schlagwörter ihrerseits mit entsprechenden Schlägen. Dann war Ruhe, auch in der CDU. Vielleicht wünschte sich die Parteispitze nach so viel Arbeit mehr Aufmerksamkeit. Freilich hätte das bedeutet, sich öffentlichen Streit zu leisten. Und eben der war nun einmal nicht gewollt.

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