Pfadwechsel zum nordischen Modell
In Deutschland hat sich ein neoliberaler Dreiklang zum populären Credo verfestigt: Löhne senken, Ausgaben kürzen und Soziales abbauen. Das „System Möllring“ hat in Bund, Ländern und Kommunen Mehrheiten. Da hilft es, empirisch fundiert nachzulesen, wo angesichts des scheinbar triumphierenden Marktes unter heutigen Bedingungen noch Optionen nationalstaatlicher Politik liegen.
Im depressiven deutschen Gegenwartsdiskurs wird Gestaltungsspielraum kaum gesehen: Es scheint kein Geld mehr da, um Ärzte zu bezahlen, die Integration von Einwanderern zu gestalten oder das Bildungssystem auszubauen. Als könne man sich ökonomisch leisten, all dies nicht zu tun! Dass viel Geld vergeudet wird, zeigt jeder Finanzbericht der Bundesagentur für Arbeit: Noch immer zahlt der Bund unproduktive Sozialhilfe, haut mit staatsfinanzierten Minijobs „normale“ Stellen weg und kürzt bei den Kommunen. Er legt zu kleine Konjunkturprogramme auf und reduziert die Kaufkraft, indem er Strommonopolisten gewähren lässt und sie dafür mit Energie-Gipfeln öffentlich belohnt. Warum ist die deutsche Politik so widersprüchlich, so kurzfristig und ideologisch, kurz: so schlecht?
Eine Antwort lautet: Weil dieses Niveau in den „fetten Jahren“ vor 1989 genügte. Ein neues Buch anerkannter Politologen um Wolfgang Merkel belegt: Erst verschlief die deutsche Politik den Wandel zum integrierten Markt, dann hechelte sie ihm hinterher, statt ihn zu gestalten – angeleitet von einer Schar volkswirtschaftlicher Dilettanten, die nicht begreiffen, dass Lohndrücken allein keinen Aufschwung sichert.
Dabei hat die deutsche Ökonomie besondere Probleme zu schultern, die meist aus den Fehlern der Ära Kohl herrühren: Die Steuern wurden vor allem den Beschäftigten aufgebürdet, die Kosten der Einheit trugen die Sozialsysteme. Zu Millionen Vorruheständlern West kamen Anfang der neunziger Jahre drei bis vier Millionen im Osten dazu, die Einführung der D-Mark zerstörte die ostdeutsche Industrie, die Geldpolitik der Bundesbank traf den Mittelstand, private Banken vergeben kaum noch Kredite, die öffentlichen Banken werden geschwächt et cetera.
Reformen saß Kohl aus, das überholte Sozialmodell rührte er mit Ausnahme einiger Kürzungen kaum an. So wuchsen die Lasten und die Arbeitslosigkeit. Als dies immer mehr Menschen spürten, gaben sie im Jahr 1998 Gerhard Schröder und der SPD das Mandat zu sozialen Reformen. Nach Lafontaines Abgang kippte Schröder im Jahr 1999 den Links-Kurs der SPD, verfolgte aber nach der Steuerreform des Jahres 2000 eine Politik der ruhigen Hand, die ihn 2002 fast die Macht kostete. Schröders Reformen spalteten ab 2003 SPD und Land, einigen gingen sie zu weit, anderen nicht weit genug. So geriet Rot-Grün 2005 zwischen Neoliberale und Neulinke.
Warum tut sich die SPD so schwer?
Nun versucht sich eine große Koalition an Reformen, und wieder fragt man sich: Ist die Politik, ist die seit 1998 regierende SPD reformfähig? Warum tut sie sich so schwer mit der Reform des Sozialstaats? Warum scheitert sie an der Bekämpfung der Arbeitslosigkeit, die anderen Sozialdemokratien Europas besser gelang? Dazu hat das von Wolfgang Merkel geleitete Politologenteam in einem mehrjährigen Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft „Sozialdemokratische Antworten auf integrierte Märkte – Dritte Wege im westeuropäischen Vergleich“ untersucht. In sechs Länderstudien analysierten sie die Antworten der dort regierenden Sozialdemokratie auf den Feldern Arbeitsmarkt- und Wirtschaftspolitik, Finanzpolitik und Reform der Sozialsysteme. Ihre Leitfrage: Ist unter den Bedingungen integrierter Märkte eine wirtschaftspolitische Steuerung möglich, die sich an sozialdemokratischen Grundwerten orientiert? Die klare Antwort der Wissenschaftler: Ja, es gibt sehr wohl eigene „Dritte Wege“ – bessere ebenso wie schlechtere.
Die Sozialforscher haben empirisch gut untermauert drei Länder- und Parteigruppen gebildet: Da gibt es in den liberalen Wohlfahrtsstaaten Niederlande und Großbritannien zunächst die „liberalen Sozialdemokraten“. Hier stießen die Forscher auf gute Ergebnisse bei der Reduzierung der Arbeitslosigkeit und der Inklusion der Beschäftigten. Doch weichen die Resultate teilweise von sozialdemokratischen Grundsätzen ab. So wird etwa tendenziell die Gerechtigkeit der Geldwertstabilität geopfert und so weiter. New Labour ist eben im Zweifel liberal.
Die zweite Gruppe sind die sozialdemokratischen „Modernisierer“ in skandinavischen Wohl-fahrtsstaaten. Sie vollzogen früh den Politikwechsel von aktiver zu aktivierender Arbeitsmarktpolitik und wirkten dem Entstehen eines Niedriglohnsektors durch langfristige Investitionen in Bildung und Weiterbildung entgegen. Da die Dänen und Schweden ihre Politikziele erreichen und ihren Grundwerten treu bleiben, empfiehlt Merkel sie als Vorbild für Europas Sozialdemokratie.
Empirisch schlechter weg kommen hingegen die „konservativen Sozialdemokraten“ in kontinentalen Flächenstaaten. Sie hielten am alten Sozialstaat fest und erzielten damit negative Ergebnisse. Im Einzelnen ist nachzulesen, dass dies in Frankreich mit einem dezidierten Gegenprogramm zur Deregulation geschah, während „die Politik der SPD vor allem von Kurswechseln und inkohärenten Maßnahmen geprägt“ blieb. Die Abwehr des Sozialstaatsabbaus, so die Forscher, verdunkelte den Blick auf den notwendigen Umbau der Sozialsysteme.
Merkel gesteht zu, dass Tony Blair im Zentralstaat Großbritannien von Thatcher ein günstiges Erbe antrat. In Deutschland gehörte eben auch die ökonomisch verpatzte Einheit zum Erbe, blockierten sich doch bis 1999 Traditionalisten und Reformer in der SPD, danach SPD und Union in Bundestag und Bundesrat sowie die gesellschaftlichen Vetogruppen gegenseitig.
Schließlich attackiert Merkel, übrigens Mitglied der Grundwertekommission der SPD, den „vermeintlichen Machiavellisten“ Schröder, der gegen alle Regeln des Florentiners gesündigt habe: Im Jahr 1998 nutzte er nicht den Zauber des Anfangs für die Grausamkeiten der Reform, nach Lafontaines Abgang im Jahr 1999 ließ er zu viel Zeit ungenutzt verstreichen, und schließlich bettete er seine brachial durchgesetzten Hartz-Reformen nicht in eine Wachstumspolitik ein.
Insider mag das nicht überraschen: Kam doch Schröder am Ende quälender Diadochenkämpfe der „Enkel“ im Bündnis mit Medien und Wählern quasi gegen die Funktionäre an die Spitze der Partei und konnte sich anfangs ihrer Gefolgschaft keineswegs sicher sein. Schwerer wog, dass die selbst ernannten Modernisierer kein Konzept für die Reform von Sozialstaat und Gesellschaft besaßen. Einzelne Versuche dazu, wie das Leitbild der Nachhaltigkeit, des aktivierenden Staats und der Bürgergesellschaft, wirkten aufgesetzt und unverbindlich.
Dabei sei die Kardinalfrage, so Merkel in einem Interview, „wie man der Gesellschaft durch Sozialpolitik soziale Dienstleistungen und keine Geld-Transfers liefert und diese viel stärker über allgemeine Steuern finanziert“. Zudem solle sich die Politik auf hohe (Frauen-)Erwerbsquoten konzentrieren und den Arbeitsmarkt sozial verträglich deregulieren. Angesichts dessen wirken Maßnahmen der Großen Koalition in Deutschland wie die Entlastung der Arbeitsmärkte durch die Absetzbarkeit von Betreuungskosten bestenfalls bescheiden, im Fall der fortgesetzten Abschottung gegen Konkurrenz aus dem Osten sogar regelrecht anachronistisch.
Wird Beck den Weg Platzecks weitergehen?
Insgesamt muss die wieder (mit-)regierende SPD nicht verzagen. Das politische Programm, zu dem Merkel ihr rät, liegt auf der Linie der Jungen in der Parteispitze: ein sanfter Pfadwechsel hin zum skandinavischen Modell mit mehr Geld für Bildung, Schluss mit der restriktiven Lohnpolitik, flexiblerem Arbeitsmarkt plus aktiver Arbeitspolitik sowie steuerfinanzierten Sozialsystemen. Die doppelte Frage zur Politikfähigkeit der SPD ist: Wie bringt man Zukunftsthemen voran, ohne die betreffenden Ressorts (vor allem Bildung und Familie) zu besetzen? Und wird sie Matthias Platzecks „skandinavischen Weg“ auch mit dem neuen Parteichef Kurt Beck weitergehen? Dessen rheinland-pfälzische Schulpolitik zumindest lässt das erwarten.
Während Kohl 16 Jahre verschlief und Rot-Grün die ersten vier Jahre vertändelte, so Merkel, haben Christ- wie Sozialdemokraten die europäische Komponente verkannt. Wenn Europa ein integrierter Markt ist, brauchen wir integrierte politische Antworten. Sonst droht allen nationalen „Dritten Wegen“ das Scheitern. Die Sozialdemokratie muss sich europäisieren, so das Fazit des spannenden Buches, das lesen muss, wer bei Reformdebatten mitreden möchte.
Wolfgang Merkel u.a., Die Reformfähigkeit der Sozialdemokratie: Herausforderungen und Bilanz der Regierungspolitik in Westeuropa, Wiesbaden: VS-Verlag für Sozialwissenschaften 2006, 506 Seiten, 39,90 Euro