Zwei Schwestern in Europa
Dabei zeigt sich dreierlei: Erstens kommt es auf das Umfeld an. Keine Partei kann im luftleeren Raum handeln; sie muss Rücksicht nehmen auf die Selbst- und Fremdbilder, die den Raum für soziales Handeln strukturieren und begrenzen. Zweitens darf sie sich aber nicht damit zufrieden geben, diese Bilder einfach nur zu spiegeln oder zu doppeln. Es ist drittens immer wieder die Aufgabe politischer Brückenbauer und Kommunikatoren, die wechselseitigen Vorstellungen zu übersetzen und im besten Fall für gemeinsames Handeln zu nutzen. Dies gelingt umso besser, je aufgeschlossener man für den anderen ist. Nationale Befindlichkeiten, gar Chauvinismen sind ganz schlechte Ratgeber für Lernprozesse. Sie führen im besten Fall zu gleichgültigem nebeneinander Herwursteln, im schlimmsten Fall zu feindseliger Abgrenzung.
Ein Beispiel für ein schwieriges Nachbarschaftsverhältnis sind Deutsche und Niederländer - in der nationalen Stereotypie: die autoritären, sturen Deutschen und die liberalen, pragmatischen Niederländer. Diese Stereotypen haben viel mit einer langen Geschichte der Ungleichheit zwischen einem kleinen und einem großen Nachbarvolk zu tun. Was das für die Geschichte der beiden sozialdemokratischen Schwesterparteien SPD und "Partij van de Arbeid" (PvdA) bedeutet, hat Marc Drögemöller in seinem äußerst gelungenen Buch Zwei Schwestern in Europa, einer überarbeiteten Fassung seiner Dissertation, für die Zeit seit dem Zweiten Weltkrieg bis zur deutschen Vereinigung untersucht.
In sozialistischer Rhetorik lag die SPD vorn
Drögemöller geht bis zur Gründung der niederländischen Sozialisten Ende des 19. Jahrhunderts zurück. Er beschreibt ein Lehrer-Schüler-Verhältnis: Die deutsche Sozialdemokratie war für die PvdA ein Vorbild, wie für die meisten anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa auch. Doch weil die Gesellschaften sehr verschieden waren - in Deutschland autoritär-zentralistisch, in den Niederlanden liberal-konservativ versäult -, entwickelten sich die beiden Parteien in unterschiedliche Richtungen. Die SPD hielt viel länger an einer sozialistischen Rhetorik fest und verteufelte den praktizierten Reformismus, während die PvdA ihr "Godesberg" bereits in der Folge der Weltwirtschaftskrise hatte, zu einer Zeit, als die gespaltene deutsche Arbeiterbewegung den Nazis zur Beute wurde. Kein Wunder, dass die Niederländer, zumal als eines der ersten Opfer deutscher Angriffskriege, nach 1945 nicht mehr die deutsche Sozialdemokratie, sondern die außen- wie innenpolitisch siegreiche englische Labour Party zum Vorbild wählten.
Zwar half die PvdA der SPD dabei, nach dem Krieg wieder in die Sozialistische Internationale heimzukehren. Aber mit dem europa- und westintegrationsfeindlichen Kurs der SPD unter Kurt Schumacher konnte die pro-europäische PvdA wenig anfangen. So blieben die Unterschiede in Atmosphäre und außenpolitischer Programmatik groß, bis Ende der fünfziger Jahre in der SPD mit den Reformern auch die Atlantiker wie Fritz Erler, Helmut Schmidt und Herbert Wehner an Bedeutung gewannen.
Einen Höhepunkt im beiderseitigen Verhältnis gab es in den siebziger Jahren mit dem Emigranten und Friedenspolitiker Willy Brandt auf deutscher Seite und dem zweiten Premierminister der PvdA, Joop Den Uyl. Beide Seiten teilten das Interesse an Westbindung und Ostpolitik, an Dekolonisierung und Entwicklungshilfe. Allerdings verärgerte die PvdA-Linke die eher rechte SPD mit ihrer Anerkennungspolitik gegenüber der DDR. Überhaupt gab es aus niederländischer Sicht viel auszusetzen am Umgang der Deutschen mit dem Terrorismus, mit Antisemitismus und Rechtsradikalismus: Für viele Niederländer bleiben die Deutschen ein großer, wichtiger, aber ungeliebter Nachbar, den man sich früher zumeist im Knobelbecher vorstellte.
An dieser Stelle hätte man sich von Marc Drögemöller - der selbst schreibt, dass "PvdA und SPD in erster Linie Repräsentanten ihrer Länder waren" - einen stärkeren Blick auf die beiden sehr unterschiedlichen Gesellschaften und ihre Bilder voneinander gewünscht. Beispielsweise stießen sich viele Deutsche an der vermeintlichen oder wirklichen Permissivität der Niederländer, den Drogenshops, den Sterbehäusern und so weiter. In Wirklichkeit kam es seit den Neunzigern zu einer gegenläufigen Entwicklung: Während die Niederlande unter rechtsliberal geführten Regierungen gerade in gesellschaftspolitischen Fragen zunehmend autoritär agieren, liberalisierte sich das politische System in Deutschland spätestens seit Rot-Grün 1998 erheblich.
Von der deutschen Einheit wurden bezeichnenderweise beide Gesellschaften wie Parteien überrascht, sie reagierten aber zustimmend und pragmatisch. Wie Drögemöller ausführt, verlieren die Niederlande - noch immer überragender Handels- und Kulturpartner - angesichts der EU-Erweiterung politisch und in der Wahrnehmung für Deutschland stetig an Bedeutung. Hinzu kommt, dass die deutsche politische Klasse mit den massiven Folgen der unverhofften Einheit schlicht überfordert war und daher die Außenwelt weniger stark wahrnahm. Seit den deutschen Auslandseinsätzen kommt hier und da ein selbstgefälliges Gehabe hinzu: "Wir sind wieder wer und agieren in Afghanistan und anderswo anders als diese langhaarigen Peaceniks in Uniform."
Es fehlt die persönliche Nähe
Den zunehmend selbstbezogegen Deutschen blieben auch die neoliberalen Reformen im Nachbarland ab Ende der neunziger Jahre verborgen. Sie wurden erst zu einem Zeitpunkt entdeckt, ja gefeiert, als deren Folgeprobleme in den Niederlanden unter anderem mit dem Pim-Fortuyn-Schock das Parteiensystem durcheinander wirbelten. Schließlich ist nicht zu übersehen, dass die so wichtigen persönlichen Beziehungen zwischen den Spitzenpolitikern beider Seiten nachgelassen haben. Zwischen Wouter Bos und den letzten SPD-Vorsitzenden bestanden keine Kontroversen, Bos und Peer Steinbrück kennen einander sogar recht gut. Aber persönliche Nähe wie zu Brandts Zeiten, die über manches Missverständnis hinweg half, ist heute kaum noch zu verzeichnen. Auch aktuell bestehende enge Kontakte deutscher Sozialdemokraten beispielsweise zum PvdA-Think Tank Wiardi Beckman Stichting können dieses Defizit nicht wettmachen.
Die gemeinsame Geschichte geht weiter
Unter diesen Gesichtspunkten wäre es reizvoll, die Geschichte der beiden sozialdemokratischen Schwesterparteien nach 1990 fortzusetzen. Dieser Wunsch schmälert jedoch nicht die Leistung von Drögemöller, der viele Gespräche geführt und große Mengen Archivmaterial ausgewertet hat. Der Autor hat einen parteipolitologischen Ansatz gewählt, der auch generationelle und persönliche Aspekte einbezieht, soziologisch aber zurückhaltend bleibt. Bei allem, was er schreibt, scheint eine Grundsympathie für den niederländischen Nachbarn durch, von der man sich wünscht, dass sie so fundiert von SPD-Größen nachvollzogen oder erneuert werden würde.
Die Probleme der Niederlande - von Arbeitslosigkeit bis Integration - unterscheiden sich nicht sehr von unseren. Sich mehr mit diesem Land zu befassen, lohnt allemal. Übrigens benötigt auch die deutsche Europapolitik Bündnispartner über die Franzosen hinaus, deren Auffassungen oft etatistischer ausfallen als hierzulande - und in den Niederlanden. Wenig optimistisch stimmt dabei, dass derzeit kaum in den Blick gerät, wie das Exportland Niederlande mit den Folgen der Finanzkrise umgeht. Wir wissen zu wenig über den Nachbarn, geschweige denn über die Freunde, die wir dort (noch) haben. Marc Drögemöllers Buch ist daher über die Parteischwestern hinaus größere Verbreitung zu wünschen. An mangelnder Lesbarkeit wird dies - dem Autor sei dank - nicht scheitern!