Planlose Eliten in einer Region ohne Kompass?
Hincks zentrale These: Schuld an der Misere des Ostens seien nicht zuletzt führungsschwache Funktionseliten. Ob Führungspersonal der Politik, Unternehmensspitzen oder Medieneliten – ihnen allen mangele es an Überzeugungskraft, an strategischen Fähigkeiten und vor allem: an Visionen. Statt die neue gesellschaftliche Ordnung zu gestalten und den Bürgern Orientierung zu geben, verharrten die ostdeutschen Eliten orientierungslos. Sie seien konfliktscheu und begnügten sich mit dem bloßen Verwalten des Stillstands. An prominenter Stelle charakterisiert Hinck sie als „Notgemeinschaft“, deren Mitglieder ihre herausgehobenen gesellschaftlichen Positionen vor allem der unerhörten Begebenheit des Mauerfalls zu verdanken hätten – mithin „Zufall, Glück, Patronage oder (der) günstige(n) Gelegenheit“.
Sein vernichtendes Urteil stützt Hinck auf eine Reihe ausführlicher Interviews mit Angehörigen der Funktionseliten. 14 seiner Gesprächspartner porträtiert er in dem Band; die Hälfte von ihnen steht in politischer Verantwortung (darunter mit Matthias Platzeck und Wolfgang Böhmer gleich zwei Ministerpräsidenten), drei stammen aus den Chefetagen der Wirtschaft, drei Medienvertreter und eine Richterin sind ebenfalls dabei. Damit liegt zwar kein repräsentativer Querschnitt der Eliten in Ostdeutschland vor, doch stellt der Autor Spitzenkräfte unterschiedlicher Sektoren, politischer Lager und regionaler Herkunft vor, wobei immerhin jeder dritte Gesprächspartner ursprünglich aus Westdeutschland kommt.
Mit ihrer Umwelt sind sie nicht im Reinen
Auf knappem Raum gelingen Hinck überwiegend eindringliche und aussagekräftige Porträts seiner Gesprächspartner. Dass deren mitunter überraschende Auskunftsfreude gegenüber dem Verfasser auch nach der Lektüre des Buches fortbesteht, wird man bei den meisten Gesprächspartnern getrost bezweifeln dürfen, denn Hinck analysiert und kommentiert so gar nicht in deren Sinne. Sein Anliegen ist es, die Probleme der Elitenformation in Ostdeutschland offen zu legen, nicht hingegen, die Wahrnehmungen, das Selbstverständnis und das Handeln der Eliten nachvollziehbar zu machen. Im Ergebnis geraten die Porträts dicht, farbig – und oftmals geradezu schonungslos.
Sehr anschaulich arbeitet Hinck die mangelnde Integration der Eliten in die ostdeutsche Gesellschaft heraus. Damit ist nicht die vom Bevölkerungsdurchschnitt abweichende Zusammensetzung der Eliten gemeint; diese gehört zu den Wesensmerkmalen aller Eliten. Problematisch erscheint dem Autor vielmehr die innere Distanz der ostdeutschen Eliten zu der Gesellschaft, in der sie leben und agieren. Bei den porträtierten PDS-Politikerinnen, der Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Lichtenberg, Christina Emmrich, und der Parlamentarischen Geschäftsführerin der Landtagsfraktion in Mecklenburg-Vorpommern, Gabriele Mestan, äußert sich diese innere Distanz in ihrer Fremdheit gegenüber dem politischen System. Beide Frauen haben sich aufs Beste in die neue Ordnung eingepasst, spielen ihre politische Rolle professionell und sind buchstäblich staatstragend. Umso bemerkenswerter ist ihre Abwehrhaltung gegenüber dem bundesdeutschen Gemeinwesen. Christina Emmrich lässt an Feiertagen nur widerwillig die deutsche Fahne hissen. Und Gabriele Mestan wird von Gunnar Hinck mit den Worten zitiert: „Ich stehe auf dem Boden dieses Grundgesetzes, aber es ist nicht das Letztgültige für mich.“
Bei den aus Westdeutschland stammenden Eliten sind die Integrationsprobleme anderer Art. Teils führen sie ein Leben am Rande der ostdeutschen Gesellschaft, teils haben sie sich erst gar nicht auf ihr neues Umfeld eingelassen. Das demonstriert Hinck am Beispiel des Thüringer Landesministers Karl Heinz Gasser und des AMD-Geschäftsführers Hans Deppe. Gasser kam Anfang der neunziger Jahre nach Thüringen und war dort zunächst beamteter Staatssekretär, dann Justizminister, bevor er schließlich Innenminister wurde. Noch heute pendelt er zwischen dem Freistaat und seiner westdeutschen Heimat, der allein er sich emotional verbunden fühlt.
Herr Deppe lebt in einem Raumschiff
Sogar noch drastischer ist Hans Deppe der ostdeutschen Gesellschaft entfremdet. Er arbeitet buchstäblich nach einer anderen Uhr, denn sein Terminkalender bestimmt sich nach der Agenda des amerikanischen Mutterkonzerns. Hinck charakterisiert die Arbeitswelt Deppes plastisch als Raumschiff, das sich zufällig in Dresden befindet, aber Lichtjahre entfernt ist von den irdischen ostdeutschen Realitäten. Seine Raumstation verlässt der Geschäftsführer nur ungern, und eine gesellschaftliche Verantwortung des Unternehmens weist er von sich – wie auch die anderen im Band porträtierten Wirtschaftsführer.
Dass der bloße Wunsch nach Integration noch lange nicht zu gesellschaftlicher Verankerung führen muss, illustriert andererseits das Porträt von Iris Goerke-Berzau. Die Vorsitzende Richterin am Oberlandesgericht Naumburg wird als gesellschaftlich stark engagierte Persönlichkeit charakterisiert und ist – neben Ministerpräsident Matthias Platzeck – die einzige Führungskraft, die der Autor mit erkennbarer Sympathie zeichnet. Gleichwohl sieht Hinck sie isoliert. Dies macht er daran fest, dass die Kinder der Richterin eine christliche Privatschule besuchen und damit vom öffentlichen Schulwesen abgeschottet werden, das Goerke-Berzau als DDR-geprägt bezeichnet.
Sehr kritisch setzt sich der Verfasser mit den Medieneliten auseinander – aus guten Gründen, schließlich hat es in keinem anderen Elitensektor nach dem Systemwechsel eine vergleichbare personelle und strukturelle Kontinuität gegeben. Hinck beklagt vor allem den gerade von den Medienmachern zu verantwortenden Entpolitisierungsschub, der seine Ursachen teils in der Scham über die eigene Vita habe (so beim langjährigen Chefredakteur der Sächsischen Zeitung, Hans Eggert) und teils in der vorauseilenden Anpassung an den Publikumsgeschmack (so bei MDR-Chefredakteur Wolfgang Kenntemich).
Eindringliche Porträts, triviale Vorschläge
Man muss die Auffassungen des Autors nicht teilen, um seine mit leichter wie spitzer Feder verfassten Porträts mit Gewinn zu lesen. In der Fokussierung auf das mutmaßliche Elitenversagen liegt die Stärke, aber auch die Schwäche des Bandes. Sie gibt dem Buch eine Richtung, lässt Hinck aber zugleich in die Falle des Populismus tappen. So wichtig die Eliten in der ostdeutschen Transformationsgesellschaft sein mögen, so absurd mutet es an, sie für alle erdenklichen Defizite verantwortlich zu machen. Ärgerlich daran ist nicht nur die fortwährende Generalisierung, sondern auch die Unterstellung, dass die ostdeutsche Realität eine fundamental andere wäre, würden nur die Eliten endlich ihrem Führungsanspruch gerecht. Zudem: Ließen sich nicht viele der erhobenen Vorwürfe auch gegen die Eliten in Westdeutschland erheben?
Den mit Abstand schwächsten Teil des Bandes jedoch stellen die „15 Vorschläge zur Überwindung ostdeutscher Lähmung“ dar. So regt Hinck etwa an, die ostdeutsche Gesellschaft möge Konflikte offener austragen und sich stärker selbst reflektieren. Auch Länderfusionen schlägt er vor. Mancher dieser Empfehlungen mag man zustimmen, Originalität kann keine von ihnen beanspruchen, und nur wenige beziehen sich überhaupt auf die so heftig attackierten Eliten. Vielmehr schwanken Hincks Empfehlungen zwischen Trivialität („Keine Ausgrenzung der PDS“) und Hilflosigkeit („Über Rechtsextremismus reden“). Der Gewinn des Buches liegt in den teils eindringlichen Porträts, kaum jedoch in der daraus abgeleiteten Diagnose und schon gar nicht in der vorgeschlagenen Therapie.
Gunnar Hinck, Eliten in Ostdeutschland: Warum den Managern der Aufbruch nicht gelingt, Berlin: Christoph Links Verlag 2007, 215 Seiten, 16,90 Euro