Politik in Zeiten der Unsicherheit
"Der Mut ist die früheste aller politischen Tugenden"
Hannah Arend
Die Bevölkerung in Deutschland ist verunsichert, blickt pessimistisch in die Zukunft und ist ohne Orientierung. Wer, wie viele Kommentatoren, für diesen Zustand die Arbeit der rot-grünen Bundesregierung verantwortlich macht, kratzt an der Oberfläche, dringt aber nicht zum Kern der Probleme vor. Es sind die "Kriechströme" (Oskar Negt) unserer Gesellschaft, die sich seit längerem, ohne großes Getöse im Vorraum des Politischen entfaltet haben und lange Zeit von einer autistischen Politik nicht wahrgenommen worden sind.
Die politische Diskussion in Deutschland hat verlernt, gesellschaftspolitische Entwicklungen zu analysieren und zur Grundlage ihrer Strategien zu nehmen. Der politische Diskurs bewegt sich in den engen Grenzen institutioneller und systemischer Fragen. Der Stand der sozialwissenschaftlichen Erkenntnis wird nicht mehr zur Kenntnis genommen. Das politische System ist selbstreferenziell und tendenziell lernunfähig geworden.
Die tiefgreifenden Veränderungen und Zumutungen, die die aktuell anstehenden Reformaufgaben erzwingen, werden nur gelingen können, wenn die SPD wieder lernt, die gesellschaftliche Wirklichkeit und die Befindlichkeit der Bevölkerung zu deuten. Tut sie dies nicht, droht eine ernsthafte Legitimationskrise - und die SPD wird mit Machtverlust bestraft werden. Ich will die wesentlichen gesellschaftlichen Entwicklungen skizzieren und daraus Schlussfolgerungen für eine Strategie der politischen Linken formulieren.
Der Angstrohstoff unserer Gesellschaft wächst kontinuierlich an. Die Angst vor Arbeitslosigkeit hat längst auch die Mittelschichten erfasst. "Anything goes", der Schlachtruf der neunziger Jahre, ist einer tief empfundenen Krisenstimmung gewichen. Eine Forschungsgruppe um den Bielefelder Sozialwissenschaftler Wilhelm Heitmeyer hat im Sommer des vergangenen Jahres den Gemütszustand von 3.000 Deutschen ausgelotet und ist zu einem erschreckenden Befund gelangt: Mehr als die Hälfte der Bevölkerung vertritt die Auffassung, dass "heute alles so in Unordnung" sei. 40 Prozent der Deutschen hätten "gern mehr Menschen, die zu mir halten", über 70 Prozent sehen ihre sozialen Beziehungen als "immer schwieriger" an.1 Es gelingt immer weniger, echte Freunde zu finden. Vier von fünf stimmen der Behauptung zu, dass soziale Beziehungen heute immer instabiler seien. Statt auf einem festen und zukunftssicheren Fundament fühlen sich immer mehr Menschen wie auf Treibsand.
Kinder, Rente, Terrorismus
Die Zukunft der eigenen Kinder, die eigene Rente, die Gefahren durch Terrorismus aber auch die Umweltgefahren und die Atomisierung im sozialen Umfeld sind Angstsymptome, die die Einstellung der Menschen zur Gesellschaft, zur Politik und ihrem Leben prägen. Die Mitte der achtziger Jahre formulierte Prognose von Ulrich Beck, wonach als Ergebnis der "Zweiten Moderne", die Risiken sozial entgrenzt werden, findet in solchen Befunden ihre Bestätigung.
Daneben wird den Menschen heute mehr denn je zugemutet, mit der Unsicherheit der Pluralität von Daseinsformen, Denkweisen und Lebensstilen umzugehen. Dies fordert den Menschen gegenüber früheren Jahrzehnten eine erhebliche Orientierungsleistung ab, die umso schwieriger ist, als normative Systeme an Verbindlichkeit eingebüßt haben. Es gibt immer weniger standardisierte Verhaltensweisen. Alles bedarf der Begründung. Elementare Gewissheiten schwinden.
Es fehlt an politischer Orientierung, noch mehr aber vielleicht an normativen Orientierungen in unserer Gesellschaft. Einzelfragen, wie sie unser politisches Tagesgeschäft prägen, sind für den Einzelnen nur noch schwer nachvollziehbar. Diese für komplexe Gesellschaften zwangsläufigen "Unübersichtlichkeiten" rufen nach Orientierung in grundsätzlichen Fragen und Ausrichtungen, die zustimmungsfähig sind. Der Stellenwert von Werten und Grundorientierungen nimmt wieder zu. Haushaltskonsolidierung ist zwar notwendig, in einer Demokratie aber kein Ziel, für das man Mehrheiten mobilisieren kann. Im Urteil der von zwangsläufigen Kürzungen Betroffenen, wird diese Einbuße im Zweifel schwerer wiegen, als das allgemeine Ziel.
Der Verlust an normativer Gültigkeit wird von denen in der Gesellschaft, die ihre Ellenbogen nicht mit Reißzwecken verstärken, als Verlust, Verunsicherung und auch als Einschränkung ihrer Freiheit und Lebensqualität empfunden. Wenn Normen wie "Das tut man nicht!" nichts mehr gelten (und die sozialwissenschaftlichen Untersuchungen und Alltagserfahrungen belegen, dass dies immer mehr Menschen so empfinden), dann bewegt sich die Gesellschaft in Richtung eines labilen Zustands. Formen täglicher Gewalt und des Verlustes an zivilen Verkehrsformen verunsichern Menschen, schränken sie in ihrer Bewegungsfreiheit ein und zerstören, werden sie langfristig geduldet, das Fundament der Gesellschaft.
Entscheidend ist nicht, dass sich solche Vorfälle ereignen; entscheidend ist, dass die Menschen das Gefühl haben, dass dieses Verhalten geduldet wird, dass niemand einschreitet, dass der Staat, wo er es könnte, zu tolerant ist. Aus diesem Zusammenhang entsteht der Rohstoff für Politikverdrossenheit - und für Populisten.
Die unverständliche Toleranz des Staates
In Zeiten der Unsicherheit und Angst wächst das Bedürfnis nach Ordnung. Bestimmte Maßnahmen der Liberalisierung, die sich nicht mit traditionellen Orientierungen vertragen, werden deshalb besonders sensibel registriert. Dies gilt in jüngster Vergangenheit für die Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebenspartnern mit Ehepartnern, für die Ausländerpolitik, es drückt sich im Protest gegen die wohnortnahe Unterbringung forensischer Kliniken und in der Säkularisierung des Bestattungsrechts aus. Der Protest - manifest oder auch latent - signalisiert das Unverständnis von Bevölkerungsteilen gegen eine, wie sie es empfinden, unterschiedslose Toleranz des Staates.
Diese Erfahrungen der Menschen sind politisch. Die Alltagserfahrungen wirken zusammen und bilden gemeinsam den eigentlichen Erfahrungshintergrund, vor dem die Menschen beurteilen, ob "die Politik" für sie gut oder schlecht ist. Nicht die Höhe der Steuersätze, nicht die Diäten von Politikern sind es, die den Politikverdruss der Menschen begründen, sondern das erfahrungsgesättigte Gefühl, dass die Dinge nicht mehr "in Ordnung" sind. Politik, so etwa lässt sich das Urteil der Mehrheit auf den Nenner bringen, löst die Probleme nicht mehr, deren Lösungen die Menschen vom Staat erwarten. Viele fühlen sich allein gelassen und ohnmächtig.
Unsere Gesellschaft und die Politik haben in den neunziger Jahren die Kultur des Risikos propagiert. Verpönt waren Sicherheit, Planbarkeit, klare und verlässliche Strukturen. Flexibilität, Mobilität, Veränderungsbereitschaft waren die Hausgötter neoliberaler Lebensart. Das Pendel schlägt zurück. Die meisten Menschen können soviel Unsicherheit und Unordnung nicht ertragen.
Tiefgreifende Veränderungen unseres Systems, besonders unserer sozialen Institutionen, sind unausweichlich. Das politische System ist nicht darauf vorbereitet, in Zeiten der Unsicherheit und einer nicht nur vorübergehenden wirtschaftlichen Krise mit nahezu fünf Millionen Arbeitslosen und angesichts leerer Kassen den notwendigen Umbau zu bewerkstelligen. Es fehlt an Konzepten, aber es fehlt auch an mutigen Politikern. Durchwursteln, Weiter-so, aber auch kompromisslerische Lösungen werden das Ziel verfehlen. Die Zeit drängt. Aber welche Schlussfolgerungen ergeben sich aus diesen Überlegungen für die Politik der SPD?
Das Bedürfnis nach Leadership
Wer den Menschen grundlegende Veränderungen zumuten will (und es besteht kein Zweifel, dass dies erforderlich ist, wenn unsere Systeme wieder in Ordnung gebracht werden sollen), der muss eine Antwort auf diese Ängste und Verunsicherungen haben. Nur Menschen, die sicher sind, sind auch frei. Nur sichere Menschen wagen etwas Neues. Eine demokratische Gesellschaftsordnung hat ohne ein Minimum von existentieller Angstfreiheit der Menschen keinen Bestand.
In stürmischen und unruhigen Zeiten wächst auch in aufgeklärten Gesellschaften das Bedürfnis nach Orientierung. Sozialdemokraten dürfen es nicht politischen Scharlatanen überlassen. Sie müssen vielmehr beschreiben, wohin unsere Gesellschaft gehen soll, welche Wertorientierung die Partei dafür anbietet und wie sie diesen Weg konkret beschreiten will. Und das ganze bitte als Gesamtkonzept, das für den Einzelnen erkennen lässt, dass am Ende ein Ziel steht, das er, wenn schon nicht als gut, so doch wenigstens als notwendig und zustimmungsfähig ansieht. Diese Haltung muss sich im Profil der political leaders, in ihrer Haltung und in ihren öffentlichen Äußerungen widerspiegeln.
Gutes politisches Handwerk darf man vom Politiker erwarten. Aber das reicht in diesen Zeiten nicht aus. "Leadership" heißt, dass Politiker, die als Repräsentanten eines Gemeinwesens öffentlich wahrgenommen werden, Orientierung und öffentliche Sinnstiftung verkörpern müssen. Nüchterner Pragmatismus reicht nicht aus.
Im Übrigen braucht Politik auch ihren eigenen Stil. Politik hat an Aura, Repräsentativität, mithin also an Stil verloren. Mit Stil meine ich den Ausdruck, den Politiker dem Gemeinwesen geben, wenn sie repräsentieren. Der Verlust der Eigenständigkeit der politischen Sprache, die sich heute eher des Vokabulars des Sports, der Wirtschaft oder des Journalismus bedient, ist ein Indiz für den Verlust der Eigenständigkeit der politischen Sphäre. "Plastikwörter" (Uwe Pörksen) in der politischen Sprache treiben den Menschen das Hinhören aus.
Anders als in anderen demokratischen Gesellschaften ist der "öffentliche Auftritt" in Deutschland vergleichsweise schmucklos. Es mag in manchen Ohren vordemokratisch klingen: Die repräsentative Demokratie braucht eine eigene Ästhetik, die sich den Nivellierungen unserer säkularisierten Gesellschaft verweigert!
Allgemeinwohl statt Partikularinteressen
Staatliches Handeln hat sich in den vergangenen zwei Jahrzehnten immer stärker an den Imperativen der Wettbewerbsgesellschaft und des ökonomischen Wachstums ausgerichtet. In dem Maße, in dem das ökonomische System selbst nicht mehr zur Sinnstiftung der Gesellschaft beiträgt und erkennbar wird, dass das Wirtschaftssystem nicht am Allgemeinwohl sondern an Partikularinteressen ausgerichtet ist, gerät staatliches Handeln, das seine Maximen primär am Wohlergehen der Wirtschaft orientiert in ein gefährliches Legitimationsproblem. Die Dominanz der Marktökonomie, die Privatisierung des Rechts und die Korruption sind Beispiele dafür, dass der Staat zunehmend Probleme hat, das Allgemeinwohl gegenüber den Partikularinteressen durchzusetzen. Also muss der "Sinnrahmen" von staatlichem Handeln, das Allgemeinwohl neu definiert werden.
Zwei allgemeine Grundsätze der politischen Zukunftsgestaltung sind wichtig: Erstens, die Politik muss auf ihren eigenen, von der Marktökonomie unabhängigen Zielen bestehen. Zweitens, Zukunftsgestaltung wird nicht ohne Konflikte abgehen. Politik muss Interessen und Ziele benennen, um Zustimmung zu erlangen. Klare Linien werden dabei erfolgreicher sein, als der Versuch, es allen recht zu machen.
Neu bestimmen, wofür der Staat da ist
Aufgrund der immer enger werdenden Handlungsspielräume müssen wir ohnehin die Aufgaben des Staates neu bestimmen. Wir sollten dies nutzen, um das Koordinatensystem neu zu justieren. Die abstrakte Alternative "Mehr Staat oder weniger Staat?" hilft nicht weiter. Wir werden beides brauchen. Das jeweilige Maß gilt es ideologiefrei zu bestimmen. Folgende Aufgaben sind dabei zu lösen:
Sicherheit gewährleisten. Die Unversehrtheit des Menschen, der Schutz sein Leben gestalten zu können, angstfrei und sicher. Sicherheit muss zum Prinzip staatlichen Handelns auf allen Ebenen werden - von der Stadtentwicklung über den Verbraucherschutz bis zur Chemikalienpolitik und der Verkehrspolitik. Der Staat wird damit als Garant gegen systemische Unsicherheiten und Unordnungen und somit auch als Korrektiv gegen eine Marktgesellschaft begriffen, die Unsicherheit hervorbringt.
Lebensgrundlagen schützen. Die Aufgabe des Staates ist es, das Eigentum an den "common goods" wie boni patris familias zu schützen. Diese Verantwortung hat der Staat gegenüber den heute lebenden und den zukünftigen Generationen. Sie geht wirtschaftlichen Interessen vor.
Recht, Gesetz und Normen zur Geltung bringen. Eines der grundlegenden Gefühle der Menschen ist, dass sie benachteiligt werden. Der Staat muss den Menschen das Gefühl vermitteln, dass sie die faire Chance haben, ihre berechtigten Interessen gegenüber anderen Interessen zu wahren. Dazu gehört auch, dass der Staat über die Mittel verfügt, dem Missbrauch ökonomischer Macht Einhalt zu gebieten. Die Politik ist zwar nicht dafür zuständig, wie die Menschen ihr individuelles Leben gestalten; sehr wohl hat die Politik aber eine normative Funktion, indem sie darauf achtet, dass die Normen des gesellschaftlichen Zusammenlebens gewahrt werden. Wer sollte es denn sonst machen?
Gleiche Chancen, gleicher Zugang
Chancengleichheit gewährleisten. Der Staat kann weder ein Recht auf einen bestimmten Bildungsabschluss noch auf einen Arbeitsplatz garantieren. Aufgabe des Staates ist es auch nicht, für die Bereitstellung von immer mehr Gütern und Dienstleistungen pro Kopf zu sorgen. Seine Aufgabe ist es, für vermehrte Chancen für ein selbst bestimmtes Leben zu sorgen. Der gleiche Zugang zu und die materielle Sicherung von öffentlichen Gütern (etwa Bildung, Umweltqualität et cetera) bleibt vorrangig eine Aufgabe des Staates.
Die Forderung nach Chancengleichheit ist eng mit dem Prinzip der sozialen Gerechtigkeit verbunden. Dabei sollten wir uns an einige heilige Kühe der SPD heranwagen: Es ist erwiesenermaßen ein Irrtum zu glauben, die Steuer- und Sozialpolitik und die Leistungen des Staates im Rahmen der öffentlichen Daseinsvorsorge würden die vom Markt produzierten sozialen Ungleichheiten automatisch nivellieren. Das Gegenteil ist der Fall: Ausweislich einer Studie der OECD ist in Deutschland die soziale Position der unteren Einkommensgruppen nach den Sozialtransfers ungünstiger als zuvor.2 Das heißt: Der Sozialstaat (einschließlich des Steuersystems mit seinen Freibeträgen et cetera) führt zu einem unsozialen Umverteilungsergebnis.
Dasselbe gilt für die Finanzierung des Studiums. Solange der Anteil der Kinder aus Arbeiterfamilien an den Studierenden gegenüber den Kindern aus Selbstständigen- und besserverdienenden Beamtenhaushalten klar unterrepräsentiert ist, zahlen die Arbeiter in unserem System des kostenlosen Erststudiums das Studium der Besserverdienenden. Ist das soziale Gerechtigkeit?
Wo Menschen "die Politik" erleben
Öffentliche Daseinsvorsorge garantieren. Öffentliche Einrichtungen, die jedem Menschen offen stehen, sind Teil der sozialen und kulturellen Grundversorgung und Fundament sozialer Teilhabe. Die kommunale Finanzsituation muss vom Staat so gestaltet werden, dass diese Basisversorgung gewährleistet ist. Am Zustand dieser öffentlichen Einrichtungen und Angebote macht sich nicht selten das Urteil der Menschen über "die Politik" fest, was nicht weiter verwunderlich ist, gehören doch gerade diese staatlichen Leistungen zum unmittelbaren Erfahrungsbereich der Menschen.
Mit der "öffentlichen Armut" gehen gravierende Einbußen bei der Qualität der öffentlichen Daseinsvorsorge einher. Dieser Vorgang trifft vor allem diejenigen, die durch die allgemeine Wirtschaftskrise und Arbeitslosigkeit ohnehin am stärksten betroffen sind. Viele können sich die höheren Gebühren nicht mehr leisten. Wenn der Staat seiner Aufgabe auf diesem Gebiet auch künftig nachkommen soll, werden wir mit den Bürgerinnen und Bürgern darüber reden müssen, welche Qualität und welche Standards der öffentlichen Daseinsvorsorge wir uns leisten wollen und was wir den Bürgern und Bürgerinnen dafür abverlangen müssen. Wir werden über Prioritäten reden müssen.
Öffentliche Infrastruktur und wirtschaftliche Rahmenbedingungen: Eine entscheidende Frage ist die nach der wirtschaftspolitischen Rolle des Staates in der Zukunft. Wir müssen zur Kenntnis nehmen, dass die wirtschaftlichen Möglichkeiten des Staates grandios überschätzt werden. Seine Möglichkeiten, steuernd, rettend oder gar gestaltend ins Wirtschaftsgeschehen einzugreifen, sind durch die Maßnahmen der Liberalisierung, im Zuge der Globalisierung, durch die Beihilfenpolitik im Rahmen des Europäischen Binnenmarktes und auch durch die schiere wirtschaftliche Größe der Konzerne im Vergleich zu den Staatsbudgets immer geringer geworden.
Wie der Kaiser in Andersens Märchen
Die Liberalisierung der grenzenlosen Finanzmärkte hat dabei wohl die Möglichkeiten der Politik am gravierendsten geschmälert. Dies auszusprechen fällt Politikern schwer, weil sie das Gefühl beschleicht, dann wie der Kaiser in Andersens Märchen dazustehen. Der Staat ist nicht für die Sanierung oder Dauersubventionierung maroder oder nicht wettbewerbsfähiger Unternehmen und Branchen zuständig.
Dasselbe gilt für die Schaffung von Arbeitsplätzen. Natürlich hat Dick Morris, der ehemaligen Wahlkampfleiter von Bill Clinton, überzogen, als er sagte, wer die Schaffung von Arbeitsplätzen verspreche, könne auch gleich Schönwetter verkünden. In der Tat schafft die Politik keine Arbeitsplätze sondern bestenfalls Bedingungen, unter denen die Wirtschaft dies tun soll. Die Menschen, wenn sie ihren Arbeitsplatz verloren haben, zu unterstützen, zu qualifizieren und zu beraten, ist Aufgabe des Staates. Aber der Staat kann nicht dafür verantwortlich sein, ob jemand Arbeit bekommt oder nicht. Somit bleibt im Grunde eine fünffache Aufgabe des Staates in der Wirtschaftspolitik:
Erstens, die Gestaltung der rechtlichen (einschließlich der steuerrechtlichen) Rahmenbedingungen für die Wirtschaft. Zweitens muss der Staat eine optimale Ausbildung ermöglichen; er muss die Entwicklung der Wissensressourcen unserer Gesellschaft als Priorität behandeln. Drittens muss der Staat die erforderliche Verkehrsinfrastruktur zur Verfügung stellen. Viertens muss der Staat wissenschaftliche und technologische Innovationen anstoßen und fördern, die aus einzelbetrieblichen Rentabilitätsüberlegungen sonst unterbleiben würden. Und fünftens schließlich sollten die staatlichen Instrumente der Wirtschaftspolitik auf die Wirtschaftsgebiete konzentriert werden, auf denen nach Lage der Dinge die nachhaltigsten Effekte erwartet werden können. Dies ist die klein- und mittelständischen Wirtschaft, die den größten Teil der Arbeits- und Ausbildungsplätze stellt.
Gerechtigkeit ist möglich
Die Neuformulierung einer Politik der Gerechtigkeit unter den Bedingungen der globalen Wissensgesellschaft ist möglich. Sie muss die richtige Balance zwischen dem Sicherheitsbedürfnis der Menschen und der Notwendigkeit zur Veränderung finden. Damit wird nicht einem diffusen Sowohl-als-auch das Wort geredet. Das Sicherheitsversprechen wird der Staat künftig nur einlösen können, wenn er grundlegende Reformen durchführt. Wohin die Reise geht, was die Bürgerinnen und Bürger künftig vom Staat erwarten dürfen und nach welchen normativen Vorstellungen die Politik sich ausrichtet - das ist die große Leerstelle der gegenwärtigen Politik, die sehr schnell gefüllt werden muss. Dafür braucht die SPD vor allem eines: Mut.
1 Wilhelm Heitmeyer (Hrsg.): Deutsche Zustände. Ein jährlicher Report. Folge 1. Frankfurt a. Main 2002
2 OECD Social Expenditure Data base 1980-1998 (Paris 2002) http://www.oecd.org/pdf/M00028000/M00028861