Politik und Terror
Um zu verstehen, was es mit dieser (Wieder-)Geburt der Politik aus dem (Un-) Geist des Terrors auf sich hat, muss man sich zunächst fragen: Was ist eigentlich Politik? Eine allgemeine Definition könnte lauten: Politik ist die Summe aller Handlungen, Äußerungen, Verordnungen, denen es um das gute Leben in der menschlichen Gemeinschaft geht. Nun mag eine solche Definition für zivile Zeiten ausreichend sein, angesichts der gegenwärtigen terroristischen Bedrohung erscheint sie aber zu harmlos. Viel eher drängt sich heute derjenige „Begriff des Politischen“ auf, den Carl Schmitt in seiner gleichnamigen Studie von 1932 geprägt hat: Politik als die Sphäre menschlichen Lebens, in der die Unterscheidung zwischen Freund und Feind zum Tragen kommt – und das heißt: in dem es um Leben und Tod geht. Schmitt legt großen Wert darauf, den politischen „Feind“ in dem archaischen Sinn zu verstehen, der die Möglichkeit der physischen Vernichtung des Feindes einschließt. Das bedeutet nicht, dass nur der Krieg die Bedingung des Politischen erfüllte, wohl aber, dass das genuin Politische nur dort gegeben ist, wo jederzeit ein Krieg beziehungsweise ein Bürgerkrieg ausbrechen kann.
Bis noch vor wenigen Jahren schien diese düster-martialische Sicht eine Sache von Ewiggestrigen, ein kaum mehr ernst genommenes Relikt aus glücklich überwundenen Tagen. Tatsächlich hatte sich nach dem Zweiten Weltkrieg das „Zeitalter der Neutralisierungen“ fortgesetzt und intensiviert, als das Schmitt schon die Jahrzehnte davor beschrieben hatte. Neutralisierung heißt im Wesentlichen: Entpolitisierung durch Verwässerung, Entschärfung des Freund-Feind-Schemas. Im Inneren des Staates wurde der Feind zum „politischen Gegner“ herab gedimmt, mit dem man zwar in vielem anderer Meinung ist, mit dem man sich letztlich aber im demokratischen Grundkonsens verbunden weiß. Nach Außen hin, im Verhältnis zu anderen Staaten, wurde das Prinzip der Feindschaft ebenfalls vom ökonomisch codierten Konkurrenzprinzip abgelöst. Das System, das diese Entpolitisierung betreibt, ist der Liberalismus, der somit als jene paradoxe Endgestalt politischen Denkens und Handelns gelten kann, die nur noch ökonomische und intellektuelle Fragen anerkennt, wo früher politische waren. Nach dem faschistischen und kommunistischen Intermezzo hatte sich diese Konstellation in der Nachkriegszeit, zunächst in einer sozialstaatlich abgefederten Variante, später in der härteren Form des so genannten Neoliberalismus fester denn je etabliert. Was auch jetzt noch nicht aufhört, sich als Politik zu präsentieren, ist in Wahrheit Funktionalismus und Bürokratie, und wenn es sich im medialen Spektakel immer gekonnter inszeniert, so ist dies doch nur eine Überkompensation seiner faktischen Bedeutungslosigkeit.
Auf die Zeit des Kalten Krieges, die von ideologisch motivierter Feindschaft zwischen zwei Machtblöcken geprägt war, scheint diese Beschreibung zunächst nicht zuzutreffen, doch bei genauerem Hinsehen verflüchtigt sich dieser Eindruck. In Ost und West verfolgte man nämlich mit unterschiedlichen Mitteln ein und dasselbe Ziel: Politik durch bloße Verwaltung zu ersetzen und damit – sofern Politik machen Geschichte machen bedeutet – das Ende der Geschichte herbeizuführen. Hellsichtige Beobachter, wie Gotthard Günther, haben diesen Parallelismus schon in den frühen sechziger Jahren erkannt und darum einen dritten Weltkrieg – zwischen den Vereinigten Staaten und der Sowjetunion – prophetisch ausgeschlossen. Der Kommunismus wurde denn auch nicht militärisch, ja nicht einmal ideologisch besiegt, das heißt nicht auf politische Weise überwunden, sondern im ökonomischen Wettstreit. Was sich an Resten davon heute noch findet, wird, wie in China, kapitalistisch unterwandert, so dass es schon bald nichts mehr von seiner einstigen Form bewahrt haben wird.
Dieser Triumphzug des Kapitalismus, gepaart mit einer entpolitisierten Politik, dem (Neo-)Liberalismus, erschien bis vor kurzem unaufhaltsam und endgültig. Gemäß seiner universalistischen Tendenz zog er immer mehr Staaten und Gesellschaften in seinen Machtbereich, um sie alle in der globalisierten, ökonomisch pazifizierten Weltgesellschaft zu vereinen. In diesem endzeitlichen Reich des Konsums und des Wohlstands, wie es Francis Fukuyama in Anlehnung an Kojève und Hegel 1991 „nahe herbeigekommen“ sah, haben politische Ideologien und damit ernsthafte politische Kontroversen keinen Platz mehr. Der Liberalismus präsentiert sich als alternativlos, nicht weil er theoretisch so überzeugend wäre – seine philosophische Fundierung ist vielmehr äußerst mangelhaft –, sondern weil er so gut funktioniert.
Am 11. September 2001 geschah nun etwas äußerst Seltsames und Unvorhergesehenes, das die Parameter des Zeitgeistes mit einem Schlag radikal verschoben hat und an dessen Folgen sich dieser Zeitgeist noch lange wird abarbeiten müssen: In das homogene, weltumspannende und scheinbar alternativlose System des Liberalismus brach mit einem Mal der Feind herein. Plötzlich manifestierte sich ein radikaler Dissens mit dem Ganzen der liberalen Lebensform – und zwar entscheidenderweise nicht als Theorie, über die man diskutieren könnte, sondern als Wille zur Vernichtung des Gegners. Damit war der Archetyp des Politischen in der härtesten Schmittschen Form konstelliert, den der Liberalismus eigentlich ausschließt. Der postmoderne Ernstfall war eingetreten – und ist seither nicht wieder verschwunden. Aus dem Geist des Terrors gebären sich seitdem politisches Denken und Handeln unter Schmerzen neu, indem ein echter Feind auf den globalen Plan getreten ist, der weder gekauft noch überzeugt werden kann. Die Lage ist indes noch um eine ganze Stufe komplexer, als es die gängige Rede von der „Wiederkehr der Politik“ vermuten lässt.
Der erzwungene Offenbarungseid des Liberalismus
Was geschieht nämlich in Wahrheit? Der Liberalismus mit seinem universalistischen Menschenbild, das per Definition kein Außerhalb seiner selbst kennt, wird von einem Fremden – wörtlich „Alien“ – in seiner Existenz negiert. Die Islamisten zwingen somit den Liberalismus, der keine Ideologie sein will, zum ideologischen Offenbarungseid oder, anders gesagt, zum Eingeständnis, nur einer von mehreren Akteuren in einem politischen Pluriversum zu sein. Er, der alle bisherigen Ideologien aufgelöst und dekonsturiert hat, soll zu seinem coming out als Superideologie gezwungen werden – und zwar als Ideologie des spezifisch westlichen Imperialismus. Das vermeintlich Universelle wird als ein Partikulares gebrandmarkt, und in seiner Reaktion auf den Terror soll diese Partikularität vor aller Augen zutage treten – „ihr wahres Gesicht zeigen“, das natürlich nur ein gewalttätiges, verlogenes, imperialistisches sein kann. Osama Bin Laden hat dieses Kalkül offen und ungeschminkt ausgesprochen. Genau damit rührt die terroristische Herausforderung an den Kern des demokratisch-liberalen Selbstverständnisses und stürzt es in seine bisher tiefste Krise.
Aus der Eigenlogik des Liberalismus resultieren nun zwei idealtypische Reaktionsweisen auf einen derartigen Angriff von Außen, die sich auch tatsächlich beobachten lassen: Zum einen der Versuch, das Problem in gewohnt liberaler Weise anzugehen und die Terroristen als irregeleitete Rechtsbrecher zu betrachten, denen der Nährboden durch ökonomische Förderung sowie geistige Aufklärung der betreffenden Gesellschaften entzogen werden müsse. Wenn erst alle Muslime Arbeit, eine Sozialversicherung und eine frei gewählte Regierung hätten, dann werde das Phänomen des Terrorismus von selbst verschwinden. Die zweite Reaktion besteht darin, die Gut-Böse-Logik der Angreifer spiegelbildlich zu übernehmen und sie zu Feinden nicht so sehr des eigenen Lebensstils zu erklären – denn dieser ist der adäquate Lebensstil des Menschen überhaupt –, als vielmehr zu Feinden der Menschheit schlechthin. Solchen gegenüber erscheint eine militärische Ausrottungsstrategie als die einzig angemessene. Es erübrigt sich hinzuzufügen, dass der erste mehr der europäische, der zweite mehr der US-amerikanische Weg ist, wobei Mischformen möglich und tatsächlich vorhanden sind.
So sehr diese unterschiedlichen Strategien Anlass zu Verstimmungen zwischen Europa und den Vereinigten Staaten geben, so sehr haben sie doch ein Wesentliches gemeinsam: Beide sind letztlich unpolitische – genauer: sich unpolitisch gerierende – Reaktionen auf eine politische Herausforderung. Schon Carl Schmitt hat darauf hingewiesen, dass der Liberalismus, wenn ein Krieg unvermeidlich wird, die Tendenz hat, diesen moralisch, also unpolitisch zu begründen und im Namen „der Menschheit“ zu führen, wobei „Menschheit“ aber nur „ein besonders brauchbares ideologisches Instrument imperialistischer Expansionen und in ihrer ethisch-humanitären Form ein spezifisches Vehikel des ökonomischen Imperialismus“ ist.
Das beginnende 21. Jahrhundert steht demnach zwar wieder unter einem dezidiert politischen Vorzeichen, aber was wir beobachten, ist nicht einfach eine Wiederkehr der Politik im klassischen Sinn, sondern etwas, was man „Metapolitik“ oder „Politik zweiter Ordnung“ nennen könnte. Will sagen, wir haben es nicht einfach mit politischen Akteuren zu tun, die die Geschichte nach dem Zwischenspiel des vermeintlichen Endes derselben nun umstandslos fortsetzten. Vielmehr stehen heute Politik und Geschichte als solche zur Disposition, es tobt ein Kampf ums Aufhören oder Weitermachen im Großen und Ganzen und zwar unter den Bedingungen der posthistorischen Medien- und Spektakelgesellschaft. (Noch genauer gesagt, geht der Kampf um zwei verschiedene Formen des Aufhörens: Auch die Islamisten nämlich wollen ans Ende der Geschichte gelangen, nur in einem völlig anderen Sinn als dem liberal-säkularen. Insofern der Liberalismus die eschatologische Stimmung der Apokalypse, wie sie für das christliche Abendland prägend war, säkularisiert hat, könnte man auch sagen, es liegen heute eine heiße und eine kalte Form der Apokalyptik miteinander im Streit.)
Der Kampf gegen diesen Feind kann nur an einem surrealen Ort stattfinden
Dass die Situation radikal neu ist, zeigt sich schon daran, dass es sich beim „Krieg gegen den Terrorismus“ nicht primär um einen Krieg zwischen Staaten handelt – die noch für Schmitt die einzig denkbaren Agenten eines Krieges waren. Genauso anonym, international und universell im Anspruch wie das von ihm angegriffene System ist heute sein Feind, das Terrornetzwerk Al Kaida mit seinen diversen Metastasen. In Afghanistan und dem Irak finden bloß Stellvertreterkriege statt für einen Kampf, der keine herkömmlichen territorialen Koordinaten mehr kennt. Wie ein Pilzmyzel oder ein Virus befindet sich der islamistische Feind inmitten des Systems, das er bekämpft. Äußerlich unauffällig, angepasst, bedient er sich der Infrastruktur seines Wirtes, um sie zu gegebener Zeit gegen diesen einzusetzen. Der Kampf gegen einen solchen territorial nicht identifizierbaren Feind kann nur an einem surrealen Ort stattfinden – und dieser Ort sind die Massenmedien.
Es ist sehr wichtig, sich klarzumachen, dass die Bedrohung durch den islamistischen Terror keineswegs von den verübten Anschlägen als solchen ausgeht. Selbst wenn in Deutschland jedes Jahr ein Anschlag von der Größenordnung des 11. September geschähe, wäre die Wahrscheinlichkeit für den einzelnen Bürger, einem solchen zum Opfer zu fallen, statistisch nur halb so groß wie jene, bei einem Verkehrsunfall zu sterben. Nur insofern sind diese Terrorakte kriegstechnisch relevant, als sie das Material zu einem medial inszenierten, erhabenen Schrecken bilden. Um nicht missverstanden zu werden: Dass dabei Menschen – und zwar möglichst viele – zu Tode kommen, ist durchaus keine Nebensache, vielmehr die Voraussetzung dafür, dass der Schrecken wirkt. Diese Opfer sollen hier daher auch nicht für irreal oder belanglos erklärt werden. Man muss aber sehen, dass sich erst in der massenmedialen Verbreitung der Terrorbilder die eigentliche Absicht der Terroristen erfüllt, nämlich, wie ihr Name wörtlich sagt, Angst zu erzeugen und zwar mit dem Ziel, die Gesellschaft des „satanischen Westens“ langfristig zu destabilisieren. Der postmoderne, mediengestützte Terror ist in erster Linie eine Form psychologischer Kriegführung; die Terroristen sind Bildmanipulateure, die die Gesellschaft auf Angst programmieren.
Ist das Problem einmal dergestalt beschrieben, dann drängt sich wie von selbst auch schon die Lösung auf: Um den islamistischen Terror zu stoppen, ist es weder nötig, Afghanistan oder den Irak zu bombardieren, noch soziale Hilfsprogramme in den armen muslimischen Ländern zu installieren. Es genügte, die Bilder der Terroranschläge nicht mehr zu drucken und die Videos von Bin Laden nicht mehr zu senden.
Natürlich sind dem Autor dieser Zeilen das Unrealistische und die Weltfremdheit dieses Vorschlags vollkommen bewusst. Wie so oft führt indessen auch hier die Infragestellung des scheinbar Selbstverständlichen auf die entscheidende Fährte: Warum kann sich Al Kaida auf die Mitwirkung des Mediensytems seines Wirtes so sicher verlassen, wie auf den Gebetsruf vom Minarett? Was hindert uns eigentlich daran, den 11. September 2001 oder den 11. März 2004 unter Kurznachrichten auf Seite 15 zu vermelden? Sind es nur die Automatismen des Medienmarktes, der bekanntlich nach Sensationen giert, weil sie die höchsten Einschaltquoten und Gewinne versprechen? Mit dieser zweifellos richtigen, aber trivialen Analyse ist die letzte Erklärungsebene sicherlich noch nicht erreicht. Den terroristischen Angsterzeugern muss vielmehr eine tiefe Bereitschaft in den westlichen Gesellschaften entgegenkommen, sich in diese Angst, die ja immerhin eine Erregung ist, hineintreiben zu lassen. Der Terror passt zur psychischen Disposition des von ihm befallenen Systems wie der Schlüssel ins Schloss, was sich schon daran zeigt, dass den realen Terrorakten exzessive Zerstörungsphantasien in Form von ebenso aufwendigen wie erfolgreichen Hollywoodfilmen vorausgingen – und sie weiterhin begleiten. Nur im kollektiven Konsum der „realen“ Terrorbilder jedoch wird die atomisierte Masse der medialen Endverbraucher an den Bildschirmen zu einer authentischen Angstlustgemeinschaft zusammengeschweißt. Der Terrorismus sorgt für jenen kollektiven Stress, der für die soziale Synthesis notwendig ist und dessen Fehlen für die Erosion der sozialen Bindekräfte in langen Friedenszeiten verantwortlich ist. In diesem Sinn besteht ein geheimes Komplizentum zwischen Opfer und Verfolger weit über die bekannten Geschäftsbeziehungen zwischen den Clans der Bushs und Bin Ladens hinaus.
„Der Feind ist nur die eigne Frage als Gestalt“
Ein Lieblingszitat Carl Schmitts war der Satz des Dichters Theodor Däubler: „Der Feind ist nur die eigne Frage als Gestalt.“ Nach den bisherigen Ausführungen können wir die Fragen, vor die uns der islamistische Feind stellt, ziemlich genau artikulieren: Ist das System des Liberalismus, anders gesagt, des globalisierten Kapitalismus, tatsächlich so alternativlos – und so friedlich –, wie es sich selbst versteht? Ist die Gewalt, die uns begegnet, vielleicht nur der Spiegel unserer eigenen, bloß weniger sichtbaren Gewalt? Haben wir auf dem Weg der Globalisierung, die die Menschheit auf dem friedlichen, aber „entfremdeten“ Weg ökonomischer Tauschbeziehungen erstmals in ihrer Geschichte zu einer mehr als nur biologischen Einheit zusammenfasst, ein wesentliches Element des Menschseins ausgeschlossen? Ist die terroristische Heimsuchung womöglich die Wiederkehr dieses Verdrängten? Falls ja, worin genau besteht es? Und schließlich: Wer ist dieses „wir“, dem der islamistische Angriff gilt? Welcher Wahrheitskern liegt in dem Zerrbild, in dem „wir“ den Terroristen offenkundig erscheinen?
Sich diese Fragen zu stellen muss und soll nicht heißen, den Kampf gegen den Terrorismus zu unterlassen – etwa gemäß dem französischen Sprichwort: Alles verstehen heißt alles verzeihen. Die Berufung auf Carl Schmitt bietet hierfür keinen Anhalt. Worauf es vielmehr ankommt, ist, den Kampf auf intelligente Weise zu führen, was ein genaues Verständnis des Feindes und seiner Bedeutung für uns selbst einschließt. Der äußerst ungemütliche und unheimliche Kerngedanke, zu dem die obigen Fragen hindrängen, ist der Verdacht, dass der terroristische Angriff gar nicht von einem „Außen“ kommt, sondern aus dem Innersten der globalisierten Zivilisation selbst, dass der „Andere“ mithin nur das Andere des Eigenen ist, der Feind nur die eigne Gestalt als Frage. Sieht man von der Eigeninterpretation des Islamismus einen Moment lang ab und betrachtet ihn nur seiner tatsächlichen Funktion und Wirkung nach, dann erscheint er durch und durch als ein Produkt der Massenmedien, über die sich die Weltgesellschaft die täglich benötigte Angst-Erregungsdosis selbst verabreicht. Das eigentlich Dämonische und Destruktive an diesem Befund ist der Umstand, dass es sich beim islamistischen Aufstand gegen den „Westen“ offenbar nicht um eine dialektische Entgegensetzung von These und Antithese handelt, die in einer höheren Synthese produktiv aufgehoben werden könnte. Vielmehr haben wir es mit zwei monströsen Negativitäten zu tun, gleichsam mit zwei Köpfen einer Hydra, die sich ineinander verbissen haben. Unter dem geschmeidigen Fließen der globalen Kapital-, Waren-, und Informationsströme vibriert ein Unruheherd aus Angst und Gewalt, der in zunehmendem Maße auch das glitzernde Oberflächensystem irritiert.
Was kann es in einer solchen Situation heißen, das Politische wiederzugewinnen? Wie erobert man sich jene Handlungskompetenz zurück, die das äußerst komplexe und verfahrene Problem an der richtigen Stelle angeht? Fest steht, dass man mit den alten Rezepten, einschließlich jenen Carl Schmitts, nicht mehr auskommt. Diplomatische und militärische Mittel versagen vor den neuen Herausforderungen. Große Politik muss unter den beschriebenen Voraussetzungen (psychische) Weltklimapolitik werden. Als Sofortmaßnahme ist eine weitgehende Entwaffnung der Terroristen an der medialen Front angezeigt, wofür sich zuallererst die Einsicht durchsetzen muss, dass die Fernsehbilder, von den westlichen Medien in noch so „dokumentarischer“ Absicht gesendet, die eigentlichen Waffen dieses Feindes sind. Zwei Wege bieten sich zu dieser Entwaffnung an, von denen wir den ersten: das Senden der Bilder zu unterlassen (und durch funktionale Äquivalente, harmlose Fiktionsgewalt, Sportberichte und ähnliches zu ersetzen), bereits oben als unpraktikabel ausgeschlossen haben. Die traditionellen politischen Akteure haben längst nicht mehr die Macht, eine derart weit reichende Zensur durchzusetzen – ganz abgesehen von der Frage, ob sie den Willen dazu hätten.
Wir sind zum Weitermachen verurteilt
Bleibt also der zweite Weg: die Terrorbilder zum funktionalen Äquivalent ihrer selbst zu machen, sprich zu ästhetisieren. Auf den medialen Schein als solchen zu reflektieren und spielerisch-kreativ damit umzugehen, heißt Distanz zu dessen Inhalten zu gewinnen. In diesem Zusammenhang könnte der Kunst, vor allem der Medienkunst noch eine wichtige friedensstiftende Rolle zuwachsen. Die Zeichen dafür stehen nicht schlecht: Die Documenta 11 in Kassel hat das neu erwachte politische Bewusstsein der Kunst eindringlich dokumentiert. Wenn der Philosoph und Medientheoretiker Boris Groys umgekehrt Bin Laden zum Videokünstler erklärt, so bereitet auch diese zunächst zynisch klingende Einschätzung in Wahrheit den Weg zu einem souveränen, auf ästhetischer Distanzierung beruhenden Umgang mit der terroristischen Medienattacke.
Auf lange Sicht wird sich das Problem des Terrorismus mit künstlerischen Mitteln alleine natürlich nicht lösen lassen. Was sich mit dem terroristischen Phänomen andeutet, ist der Anfang vom Ende des liberalen, demokratischen Zeitalters, wahrscheinlich auch des Kapitalismus in seiner bisher bekannten Form. Die Islamisten haben dem westlichen Liberalismus eine Auto-Ideologisierung aufgezwungen, aus der es so leicht kein Zurück mehr gibt. Fortan ist es redlicherweise nicht mehr möglich, ein moderner, aufgeklärt-liberaler Mensch zu bleiben und nicht zugleich Partei zu sein. Die „multikulturelle Gesellschaft“, in der alle Ethnien und Kulturen friedlich zusammenleben und jeweils ihren folkloristischen Beitrag zum bunten Ganzen beisteuern, muss fortan als illusionäres Kitschgebilde gelten. Wir haben zu akzeptieren, dass auf diesem Globus nicht nur sehr unterschiedliche, sondern sich gegenseitig ausschließende Kulturen und Lebensauffassungen simultan existieren, die obendrein mit unterschiedlichen Zeitrechnungen operieren. Nun kann man sich diese erzwungene Einsicht aggressiv zu eigen machen („Wer nicht für uns ist, ist gegen uns“), muss dann aber auch in Kauf nehmen, dass „wir“ eben damit nicht mehr dieselben bleiben, die wir einmal waren – oder zu sein glaubten.
Weiter oben war vom Kampf zwischen zwei Formen des Aufhörens die Rede, der die politische Weltlage heute bestimme. Alles spricht dafür, dass weder die westlich-säkulare, noch die islamistisch-metaphysische Variante des „Endes der Geschichte“ diesen Kampf gewinnen wird. Was zu Ende geht, ist vielmehr das apokalyptische Denken als solches. Die Zukunft ist wieder offen. Mit anderen Worten: Wir sind zum Weitermachen verurteilt.