Politisiert Europa!

Der Europäische Konvent entwirft in Brüssel die zukünftige Verfassung Europas. Jetzt zählt′s: Aus der bloßen Rechtsgemeinschaft des alten Kontinents muss ein lebendigesrepublikanisches Gemeinwesen werden

Die zukünftige Europäische Verfassung gewinnt Konturen. Mittlerweile liegen erste Entwürfe auf dem Tisch. So haben der Europaparlamentarier Jo Leinen, die Europäische Volkspartei, die Bundestagsabgeordneten Michael Roth und Günter Gloser sowie zahlreiche andere Personen und Organisationen Entwürfe vorgelegt. Am 28. Oktober 2002 Jahres schließlich hat das Präsidium des Europäischen Konvents unter Vorsitz von Giscard d′Estaing einen ersten "Vorentwurf" des zukünftigen "Verfassungsvertrags" für die Europäische Union vorgestellt. Mit dem Text soll die Struktur der zukünftigen Verfassung "veranschaulicht" werden. Auch die Abschlussberichte der zehn ursprünglichen Arbeitsgruppen, welche Empfehlungen zu einzelnen Teilaspekten abgeben, liegen mittlerweile vor. Nicht zuletzt der "deutsch-französischen Beitrag zur institutionellen Architektur der Europäischen Union" vom 15. Januar sowie die Debatten im Konvent zeigen, dass der Verfassungsprozess in seine entscheidende Phase tritt.* Bis spätestens Juni 2003 soll der "fertige" Vorschlag des Konvents auf dem Tisch liegen.


Auffallend an der Diskussion ist, dass sich die Arbeit im Konvent zumindest in der Außenwahrnehmung (zu) stark auf institutionelle Fragestellungen beschränkt. Das im Vergleich zur sonstigen Berichterstattung erhebliche Medieninteresse anlässlich der Debatte über die von Deutschland und Frankreich angeregte Doppelspitze zeigt dies. Inhaltliche Diskussionen und Weichenstellungen nehmen dagegen nicht den notwendigen Stellenwert ein.

Wo bleibt überhaupt das Politische?

Vordergründig geht es in der Erklärung des Europäischen Rates von Laeken, der den Konvent zur Vorbereitung der Regierungskonferenz von 2004 ("Verfassungskonvent") Ende 2001 eingesetzt hat, auch weniger um Inhalte als um Struktur und institutionelle Fragen. Unter das Mandat fallen unter anderem die präzisere Abgrenzung der Zuständigkeiten von Union und Mitgliedstaaten im Sinne des Subsidiaritätsprinzips, die Bestimmung des rechtlichen Status der in Nizza proklamierten Europäischen Grundrechte-Charta, die Vereinfachung der Verträge sowie die Rolle der nationalen Parlamente in der europäischen Architektur. Im Ergebnis wurde den Mitgliedern jedoch ein weitreichendes Mandat zur Erarbeitung einer neuen Verfassung für Europa erteilt.


Ins Zentrum der Diskussion gehört auch die Frage nach dem Stellenwert der Parteien und des Politischen überhaupt innerhalb des Europäischen Verfassungsverbunds. Nur durch die klare Zuweisung politischer Verantwortlichkeiten an Parteien und Personen kann Europa zu einer lebendigen Demokratie werden. Das erfordert darüber hinaus weniger normative Vorgaben der Verfassung für diese Akteure, damit mehr Raum für politische Gestaltung bleibt. Dies gilt besonders für den Bereich der Wirtschafts- und Sozialordnung. Damit ist eine Tendenz umzukehren, wonach die Definitionsmacht des rein ökonomischen Denkens zu Lasten politischer Gestaltungsmacht zu starken Einfluss gewonnen hat. Dies ist ein Teil des europäischen Demokratiedefizits. Die Entwicklung des Binnenmarktes ist kein Selbstzweck. Im Zentrum des Europäischen Projekts muss der Mensch stehen, dessen Bedürfnisse über die des reinen Marktbürgers hinausreichen. Die Entwicklung des Binnenmarktes ist weit fortgeschritten. Nun kommt es darauf an, die Wirtschaftsunion zu einer solidarischen Union des sozialen Ausgleichs, der ökologischen Nachhaltigkeit, der demokratischen Teilhabe und der Freiheits- und Gleichheitsrechte des Einzelnen weiterzuentwickeln. Kurz, es geht um eine Stärkung der republikanischen Ordnung. Die Entwicklung, aus der politischen Idee von Europa ein defensives Projekt der Wahrung nationaler Interessen zu machen, muss auf die Schaffung eines sozialverträglichen, politisch gestaltbaren europäischen Binnenraums hin neu definiert werden. Diese Erkenntnis macht sich auch zunehmend im Rahmen des Konventsprozesses bemerkbar, wie nicht zuletzt die Einsetzung einer 11. Arbeitsgruppe "Soziales Europa" belegt.

Ohne europäische Parteien geht es nicht

Die Verfassung muss den notwendigen Freiraum bieten, politische Ideen in Handeln umzusetzen. Dazu müssen sich die beteiligten Akteure auch als politische Akteure begreifen, deren Ziel zunächst die Politisierung des europäischen Diskurses ist. Nationale politische Parteien müssen sich auch als europäische Parteien verstehen. Die Europäischen Parteien müssen stärker als bisher politisches Profil entwickeln. Ein erster Versuch der Europäischen Sozialisten und Sozialdemokraten, eine gemeinsame Position zu erarbeiten, wurde mit dem Papier "Priorities for Europe" (www.pes.org) unternommen, das der Öffentlichkeit am 3. Oktober 2002 vorgestellt wurde. Antworten auf entscheidende Fragen, besonders nach der Wirtschafts- und Sozialverfassung der Union, ihrer Demokratisierung sowie der institutionellen Balance stehen jedoch aus. Kritik an einzelnen Entscheidungen oder Gesetzesvorhaben der europäischen Organe darf nicht pauschal als Kritik am Projekt der Europäischen Einigung abgetan werden. Fehlentwicklungen müssen angesprochen werden, Vorschläge offensiv vertreten. Europa muss zum politischen Projekt weiterentwickelt werden. Das kann und darf nicht immer in Harmonie geschehen. Notwendig ist die Herausarbeitung von Konfliktlinien. Diese müssen für die europäischen Bürgerinnen und Bürger erkennbar sein.

Kurz und prägnant, sonst guckt keiner hin

Weitgehender Konsens besteht mittlerweile darüber, dass die künftige Verfassung sich aus zwei Teilen zusammensetzen soll. Die Inhalte der beiden Teile sowie die ihnen zugedachten Funktionen bleiben allerdings oft unklar. Sinn ergibt eine Zweiteilung nur dann, wenn der erste Teil kurz und prägnant die wesentlichen Grundlagen formuliert und der zweite Teil die bisher in den Verträgen geregelten Politiken enthält und hinsichtlich seiner Änderung einem vereinfachten Verfahren unterliegt. Denkbar erscheint hier eine qualifizierte Mehrheit der Staats- und Regierungschefs als Vertreter der Völker sowie eine qualifizierten Mehrheit im Europäischen Parlament. Teilweise wird auch ins Spiel gebracht, den vom Präsidium vorgeschlagenen "Kongress der Völker Europas", der aus nationalen und europäischen Parlamentariern bestehen soll, hier statt des Europaparlaments einzubeziehen.


Der erste Teil der Verfassung sollte die Unionsziele, die Grundwerte, die Grundrechtscharta, die Kompetenzordnung, das Institutionengefüge, die Entscheidungsverfahren und eine europäische Finanzverfassung enthalten. Dies ist auch im Vorentwurf des Präsidiums so vorgesehen. Dabei muss den besonderen Anforderungen einer gemeinsamen Außen- und Sicherheitspolitik Rechnung getragen werden. Der erste Teil wäre für jedermann verständlich und würde so die Akzeptanz der Verfassung bei den Bürgern erhöhen. Er muss auf Dauer angelegt sein. Die Veränderung dieser Grundlagen darf nur einvernehmlich durch alle Beteiligten erfolgen.

Beschlossenes muss veränderbar bleiben

Der zweite Teil enthielte die einzelnen Politikfelder, die in Bezug auf sie zu beachtenden Grundsätze sowie andere, weniger grundlegende Bestimmungen. Er muss anders als der erste Teil einem vereinfachten Änderungsverfahren - vor allem: ohne Ratifizierung in sämtlichen Mitgliedstaaten - unterliegen, um damit leichter durch politische Mehrheiten veränder- und gestaltbar zu werden. Diese Möglichkeit würde zu einer Politisierung des europäischen Diskurses beitragen, da Änderungen im Rahmen einer leicht modifizierten Gemeinschaftsmethode erfolgen könnten. Beispiele für Bestimmungen, die in den "zweiten Teil" gehören, lassen sich leicht finden: die Modalitäten der verstärkten Zusammenarbeit, die gemeinsame Agrarpolitik, die Durchführungsmaßnahmen der gemeinsamen Politiken einschließlich der Wettbewerbsbestimmungen sowie Details gewisser gemeinschaftlicher Mechanismen wie dem Prozess der "Offenen Koordinierung".

Letztgenannter ist ein Prozess des Informationsaustausches und Vergleichs mitgliedstaatlicher Praktiken besonders auf Gebieten ohne Gemeinschaftskompetenzen. Er soll laut den Schlussfolgerungen aus der Arbeitsgruppe "Ordnungspolitik" konstitutionalisiert werden. Dies ist zu unterstützen, da den betroffenen Politikbereichen ein höherer Stellenwert eingeräumt sowie die Festschreibung klarer Leitlinien und die zu fordernde Einbeziehung der nationalen Parlamente ermöglicht würde.


Die "Arbeitsgruppe Rechtspersönlichkeit" des Konvents formulierte, "die Union sollte einen einzigen Verfassungstext haben (der aus zwei Teilen besteht, wobei der erste Teil die verfassungsmäßigen Bestimmungen enthalten würde)". Dies lässt deutlich den politischen Kompromiss erkennen. Auch der Vorentwurf des Präsidiums lässt manches offen. Er deutet jedoch auf einen einheitlichen Verfassungsvertrag hin, dessen Teile einheitlichen Regeln vor allem bezüglich von Verfassungsänderungen folgen. Die von der Kommission in Auftrag gegebene "Durchführbarkeitsstudie" zum Vorentwurf des Präsidiums folgt diesem Muster - nur für in "Zusatzakten" enthaltene Regelungen wie etwa die gemeinsame Verteidigungs- oder Atompolitik soll ein vereinfachtes Verfahren gelten. Damit könnte von einer wirklichen Zweiteilung aber keine Rede sein. Die vom Präsidium bisher vorgegebene Struktur würde allerdings einer leichteren Abänderbarkeit des zweiten Teils nicht grundsätzlich entgegenstehen.

Was ist mit nicht einklagbaren Rechten?

Die Grundrechtecharta soll auch nach dem Willen der "Arbeitsgruppe Grundrechtecharta" rechtsverbindlich in den Vertrag inkorporiert werden; der Vorentwurf des Präsidiums legt sich hierzu nicht fest. Eine Einbeziehung der Charta als progressive Gewährleistung von Rechten auch der zweiten (Teilhaberechte) und dritten Generation (ökologische Rechte) ist zu begrüßen, auch wenn sich diese nur gegen die Gemeinschaft richten und meist nur "im Rahmen der nationalen Gesetze" gewährleistet werden. Es wird teilweise eingewandt, diese Grundrechte seien ohnehin nicht einklagbar (etwa das Recht auf Bildung oder auf Gesundheitsvorsorge).

Dies ist richtig, dennoch ist davon auszugehen, dass der Europäische Gerichtshof die in der Charta enthaltenen Rechte im Rahmen notwendiger Abwägungsentscheidungen berücksichtigen wird. Längerfristig ist möglicherweise auch ein gewisser Anpassungsdruck auf das nationale Recht zu erwarten. Es stellt sich darüber hinaus die Frage, ob der Union die Kompetenz verliehen wird, der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) beizutreten, sowie die Einführung einer neuen Grundrechtsbeschwerde. Während das zuerst Genannte zu begrüßen ist, da es die Möglichkeit eröffnen würde, im politischen Diskurs über Vor- und Nachteile eines solchen Unterfangens zu befinden, ist dem Letztgenannten mit Skepsis zu begegnen. Die Einführung eines weiteren Verfahrens neben - soweit vorhanden - nationaler Grundrechtsbeschwerde, EMRK-Beschwerde sowie den schon vorhandenen EU-Rechtsbehelfen würde zu einer weiteren Verkomplizierung des Rechtsschutzsystems und damit zu einer Konkurrenz der Gerichte führen. Vielmehr sollte das existierende Rechtsschutzsystem so ausgebaut werden, dass bestehende Rechtsschutzlücken geschlossen werden. Hierzu gehört eine Vorlageverpflichtung nationaler Gerichte im Fall von Grundrechtsbedenken sowie ein Ausbau der vorhandenen Direktklagemöglichkeiten vor den Europäischen Gerichten, wie das auch der von Günter Gloser und Michael Roth vorgelegte Verfassungsentwurf fordert.

Politische Probleme gehören politisch gelöst

Die Erkenntnis, dass Europa heute nicht mehr bloß ein "Zweckverband funktionaler Integration" (Jörn Ipsen) ist, sondern eine politische Entität, führt notwendigerweise dazu, Kompetenzkonflikte zwischen EU und Mitgliedstaaten in erster Linie als politische Konflikte anzusehen. Die Lösung dieser Probleme hat daher auch politisch in den vorhandenen Institutionen zu erfolgen. Neue Gremien, Gerichte oder einklagbare Texte ergeben keinen Sinn. Die Vorschläge der Arbeitsgruppe zum Subsidiaritätsprinzip sind hier weiterführend. So ist die formalisierte Beteiligung der nationalen Parlamente im Rechtsetzungsprozess durch die Möglichkeit zu Stellungnahmen und darauf gegründete Klagemöglichkeiten wegen Verletzung des Subsidiaritätsprinzips zu unterstützen.


Auch ist weitgehend anerkannt, dass eine Systematisierung der EU-Kompetenzen nach ausschließlichen, konkurrierenden und fördernden Kompetenzen zu erfolgen hat. Dies muss von einem generellen Mitentscheidungsrecht des Parlaments in sämtlichen Fragen begleitet werden. Zwar ist das Parlament sicherlich nicht mehr ohne Rechte, und deswegen von einem Demokratiedefizit zu reden, ginge zu weit. Denn in Europa herrscht kein Demokratiedefizit, sondern ein Politikdefizit. Die zukünftige Verfassung muss einen offenen Rahmen dafür bieten, dass sich nationale Regierungen und (europäische) Parteien nicht mehr hinter (angeblichen) institutionellen Unzulänglichkeiten verstecken können, sondern Politik betreiben müssen.

Die Kommission als entpolitisiertes Gremium?

Dies ist auch bei der Neuordnung des institutionellen Gefüges zu beachten, wozu im Entwurf vom Konventspräsidium noch keine Aussagen getroffen wurden. Zentral ist jedoch hier die Erkenntnis, dass die Kommission kein entpolitisiertes Gremium von Hütern eines angeblich objektiven Gemeinschaftsinteresses ist und auch nie war. Dieser Begriff muss politisch bestimmt werden. Gesetzesinitiativen und Entscheidungen im Wettbewerbsbereich sind hoch politische Fragen. Es wird Zeit, dies anzuerkennen. Deswegen muss der Kommissionspräsident direkt vom Europäischen Parlament gewählt werden. Er kann dann von den Staats- und Regierungschefs bestätigt werden. In diese Richtung scheint die Diskussion mittlerweile sowohl im Konvent wie auch bei den Regierungen zu laufen. Auch der deutsch-französische Beitrag zur institutionellen Architektur fordert dies. Ein solches Vorgehen würde auf Grund der Personalisierung und - hoffentlich - stärkeren politischen Prononcierung der Kandidaten und der sie tragenden Parteien auch zu einer Europapolitisierung der nationalen Europawahlkämpfe führen. Die dann notwendigen Aussagen zur wirtschafts- sozial- umwelt- und wettbewerbspolitischen Ausrichtung der Kommission würden sich auf die gesamte Kommissionsarbeit auswirken. Die Bedeutung der Europawahl würde gestärkt und den Wählerinnen und Wählern eine wirkliche Entscheidung über die Ausrichtung der europäischen Politik ermöglicht.

Intergouvernmentalismus vs. Demokratie

Problematisch ist hingegen der von Schröder und Chirac anscheinend im Einvernehmen mit Giscard d′Estaing unterbreitete Vorschlag, einen für maximal fünf Jahre gewählten Vorsitzenden des Europäischen Rates quasi als "Europäischen Präsidenten", zu schaffen der die Union auch international vertreten soll. Der Mehrwert eines solchen Vorschlags ist fraglich: Kompetenzkonflikte zwischen Kommissionspräsident und Ratspräsident scheinen programmiert, die politische Kontrolle durch das Europäische Parlament würde geschwächt. Nicht zuletzt ist das Verhältnis zu dem ebenfalls vorgesehenen "Europäischen Außenminister" völlig unklar. Der Vorschlag darf nicht zu einer allgemeinen Stärkung des Intergouvernementalismus in der EU führen, da dadurch gerade das demokratische Element auf EU-Ebene geschwächt würde. In diese Richtung scheinen aber die Aktivitäten von Präsident Giscard zu gehen. Dies deutet er zumindest an, wenn er vor einem "Abtreiben Europas in bundesstaatliche Strukturen" warnt, sofern kein starker Ratspräsident inthronisiert werde.


Neben diesen institutionellen Veränderungen muss aber auch der Inhalt der Verfassung so gestaltet sein, dass er politischen Handlungsspielraum eröffnet. Im Bereich der Wirtschafts- und Sozialpolitik muss den Bürgerinnen und Bürgern eine Auswahl zwischen unterschiedlichen politischen Konzepten möglich sein. Das muss dann aber auch bedeuten, dass den gewählten Repräsentanten je nach ihrer politischen Ausrichtung die Verwirklichung unterschiedlicher Politiken im Rahmen der Verfassung möglich ist. Sonst kann von wirklicher Teilhabe nicht die Rede sein.

Wettbewerb ist kein Selbstzweck

Deutlicher als bisher muss deshalb in der künftigen Verfassung zum Ausdruck kommen, dass es keinen Zielvorrang des freien unverfälschten Wettbewerbs vor anderen Zielen wie sozialer Sicherheit, Vollbeschäftigung, Umweltschutz oder den Grundrechten gibt. Wettbewerb ist in vielen Bereichen ein wichtiges Instrument zur Realisierung der Verfassungsziele; er stellt aber, sofern er über die unternehmerischen Freiheitsrechte der Grundrechtecharta hinausgeht, keinen Selbstzweck dar. Wettbewerb gehört daher nicht in den Ziel- und Wertekatalog der künftigen Verfassung und muss dort, wo er im Verfassungstext genannt wird einen deutlichen Bezug zu den mit ihm verfolgten Verfassungszielen aufweisen. Hinsichtlich der Wirtschafts- und Währungsunion gilt ebenfalls, dass sie im Hinblick auf die Ziele und Wertentscheidungen der Verfassung zu gestalten ist.


Das Recht der gesetzgebenden europäischen Institutionen, bei ihrem Handeln das Verhältnis von Wettbewerb und notwendigen "staatlichen" Eingriffen demokratisch zu definieren, darf durch eine Verfassung nicht über Gebühr eingeschränkt werden. Daher sollten zum einen die Regelungen über die einzelnen Politikbereiche in einen zweiten, leichter abzuändernden Teil überführt werden. Zum anderen sollte auch in diesem zweiten Teil dem europäischen Gesetzgeber mehr Gestaltungsspielraum eröffnet werden. Die Verfassungsordnung sollte sich auf die Vorgabe von Grundsätzen beschränken und offen genug sein, um die konkrete Ausgestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung europäischen Ausführungsgesetzen zu überlassen. Derzeit werden viele Fragen im Vertrag geregelt, die sich normalerweise nicht in Verfassungstexten, sondern im einfachen Gesetzesrecht finden.


Im Wettbewerbsrecht etwa muss unverfälschter Wettbewerb der anzustrebende Grundsatz sein. Alles weitere, wie die Entscheidung über Ausnahmen von diesem Grundsatz, über zulässige Wettbewerbsbeschränkungen und die Gestaltung der Verfahrensvorschriften (beispielsweise die Pflicht zur Anmeldung bestimmter Beihilfen) sollte aber Parlament, Rat und Kommission nach der Gemeinschaftsmethode überlassen werden. Die Anwendung dieser Ausführungsgesetze sollte wiederum der Kommission unter der Kontrolle des Gerichtshofes obliegen.

Politische Reife nach fünfzig Jahren

Gegen einen zu großen gesetzgeberischen Spielraum in Wettbewerbsfragen wird die Sorge vorgebracht, gerade die großen und reichen Staaten könnten sich beispielsweise das Beihilferecht maßgerecht auf den Leib schneidern und so ihre Standortbedingungen künstlich zu Lasten anderer Staaten verbessern. Dagegen schützt jedoch eine konsequente Anwendung der Gemeinschaftsmethode. Das Initiativmonopol der Kommission und die Mitentscheidung des Parlaments sollten ausreichende Gewähr bieten, um willkürliche Ausnahmen zugunsten einiger weniger Mitgliedstaaten zu verhindern. Hier gilt es der politischen Reife der Institutionen nach 50 Jahren europäischer Integration zu vertrauen. Zu starre verfassungsrechtliche Vorgaben bei 25 Staaten, über 200 Regionen und 450 Millionen Menschen könnten auf Dauer sogar regelrecht gefährlich für den Zusammenhalt der EU sein. Gegen solche Bedenken könnte im übrigen auch eine "Struktursicherungsklausel" in der Verfassung helfen, wie sie im "Freiburger Entwurf" für einen europäischen Verfassungsvertrag vorgesehen ist. Demnach ist bei der Anwendung des Gemeinschaftsrechts die Hoheit der Mitgliedstaaten und ihrer regionalen Untergliederungen auf Gebieten zu achten, die für deren nationale Identität und verfassungsrechtliche Grundordnung prägend sind.

Viele Konflikte sind schon entschieden

Größere gesetzgeberische Flexibilität bietet nicht nur die Chance, auf unterschiedliche, gegebenenfalls singuläre regionale Probleme besser zu reagieren, sondern auch über die Gestaltung der Wirtschafts- und Sozialordnung im Einzelnen mehr als bisher politisch zu streiten. Derzeit sind zahlreiche Konflikte durch die europäischen Verträge bereits vorentschieden. Sichtbar wird dies aber häufig und für die Akteure oft überraschend erst durch Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofes oder der Kommission, wenn sie über Klagen beziehungsweise Beschwerden entscheiden müssen. Durch diese "Anlage" im Vertrag sind viele Fragen, etwa ob das Wettbewerbsrecht für karitative Einrichtungen, Krankenhäuser oder Kultureinrichtungen gilt, von Vertrags wegen bereits juristisch determiniert, ohne dass noch im eigentlichen Sinne politisch frei über sie entschieden werden könnte. Den vertraglichen Vorgaben und den Interpretationen durch die Rechtsprechung kann sich der europäische Gesetzgeber ebenso wenig entziehen wie die Mitgliedstaaten.


In dem Bereich, der in Deutschland unter dem Stichwort Daseinsvorsorge diskutiert wird, sollte gerade dem europäischen Gesetzgeber dringend die Möglichkeit gegeben werden, Unsicherheiten zu beseitigen. Nach dem oben genannten Modell könnten Parlament und Rat auf Vorschlag der Kommission per Gesetz klären, auf welche Leistungen der Daseinsvorsorge das Wettbewerbsrecht Anwendung findet und bei welchen Tätigkeiten dies nicht der Fall sein soll. Dies würde flexiblere Lösungen gewährleisten, als die genaue Festschreibung in einem nur einvernehmlich änderbaren Verfassungstext. Im Übrigen sollte schon in der Verfassung selbst deutlicher als derzeit zum Ausdruck kommen, dass die Mitgliedstaaten, die Gebietskörperschaften und teilweise auch die EU eine Gewährleistungsfunktion in diesem Bereich haben. Staatliche Aufgabenwahrnehmung oder -übertragung an Dritte sowie staatliche Eingriffe allgemein müssen zur Sicherung einer kontinuierlichen und qualitativ guten Versorgung der gesamten Bevölkerung zulässig sein und bleiben.

Gestalten und nicht bloß verwalten

Damit einhergehen muss das Recht der öffentlichen Hand, sich wirtschaftlich zu betätigen und sich Einfluss zum Beispiel durch Beteiligungen zu sichern. Dabei darf dies nicht nur möglich sein, wenn es um klassische staatliche Interessen wie Sicherheit und Ordnung geht (etwa Gewährleistung der Versorgungssicherheit im Energiebereich), sondern auch dann, wenn die öffentliche Hand auf Grund wirtschaftspolitischer Überlegungen Einfluss über volkswirtschaftlich besonders bedeutende Unternehmen bewahren will (beispielsweise VW in Niedersachsen). Dies ist so auch im Prinzip in den bestehenden Verträgen angelegt, die bestimmen, dass "die Eigentumsordnungen der Mitgliedstaaten unberührt bleiben". Diese Bestimmung läuft momentan jedoch weitgehend leer.


Das von Walter Hallstein entwickelte Konzept der Rechtsgemeinschaft ist, wie die Europäische Integration insgesamt, eine beispiellose Erfolgsgeschichte. Es ist jedoch Zeit, dem Recht die Politik an die Seite zu stellen. Kurz, es geht darum, Europa politisch zu gestalten und nicht nur zu verwalten.

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