Potenziale des Alterns
In Deutschland wird sich bereits bis zum Jahr 2020 eine substanzielle Veränderung im Erwerbspersonenpotenzial ergeben – die Zahl der Arbeitskräfte im Alter von 30 bis 44 Jahren wird von 17,1 auf 13,9 Millionen schrumpfen, die Zahl der Arbeitskräfte im Alter von 45 bis 59 Jahren von 13,9 auf 15,4 Millionen steigen, für die Gruppe der 60- bis 74-Jährigen wird ein Anstieg von 2,0 auf 2,6 Millionen vorausgesagt.
Welche Veränderungen werden sich zukünftig im Hinblick auf die nachgefragten Qualifikationen ergeben? Klar ist: Der Bedarf an Absolventen von Universitäts- und Fachhochschulstudiengängen wird sich deutlich erhöhen, der Bedarf an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ohne Berufsabschluss wird deutlich zurückgehen. Dabei werden in verschiedenen Wirtschaftszweigen höchst unterschiedliche Entwicklungen erwartet. Der Reduzierung des Bedarfs im verarbeitenden Gewerbe steht ein Anstieg in den verschiedenen Dienstleistungssegmenten gegenüber. Die vermehrte Nachfrage nach Arbeitskräften wird vor allem höher qualifizierte Segmente des Arbeitsmarktes betreffen; im gering qualifizierten Segment hingegen wird die Nachfrage abnehmen. Im Hinblick auf die Sicherung eines qualifizierten, flexiblen, produktiven Erwerbspersonenpotenzials sind Personalentwicklungsmaßnahmen bedeutsam. Ein Schwerpunkt ist dabei vor allem auf die Förderung und Erhaltung von Flexibilität zu legen, die sich in der Fähigkeit ausdrückt, neue berufliche Anforderungen zu meistern. Damit verbunden ist die erhöhte sektorale Mobilität auf dem Arbeitsmarkt. Diese wird durch Weiterbildungsmaßnahmen wie auch durch die Möglichkeit zur Jobrotation gefördert: Diese beiden Aspekte bilden nämlich eine wichtige Grundlage der kognitiven und verhaltensbezogenen Beweglichkeit. Zu berücksichtigen ist, dass ältere Arbeitnehmer eher in vertrauten Berufen verbleiben möchten als jüngere.
Die Stärken der Älteren
Ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besitzen empirisch nachgewiesene berufliche Stärken: Kompetenz im Umgang mit komplexen, vertrauten Situationen; Entscheidungs- und Handlungsökonomie; gut vorbereitete Entscheidungen; weiter reichende Zeit- und Zielplanungen; Überblick über vertraute Arbeitsgebiete wie auch über effektive kognitive und handlungsbezogene Strategien zur Bewältigung zugehöriger Problemsituationen; Erkennen eigener Leistungsmöglichkeiten und Leistungsgrenzen; hohe Motivation im Falle einer als bedeutsam eingeschätzten Tätigkeit; hohe Loyalität gegenüber dem Arbeitgeber, hohe soziale Kompetenz, zeitliche Verfügbarkeit.
Ein für die Arbeitswelt bedeutsamer Befund empirischer Studien trifft die Fähigkeit zur Kompensation eingetretener Einbußen durch Erfahrung und Wissen: Schwächen in der Mechanik der Intelligenz (Merkfähigkeit, schlussfolgerndes Denken, Wahrnehmungsgeschwindigkeit, Geschwindigkeit der Informationsverarbeitung) lassen sich in Teilen durch Stärken in der erfahrungs- und wissensbasierten Intelligenz kompensieren. Die Stärken dieser Pragmatik der Intelligenz sind die Grundlage der Kreativität älterer Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Kreativität wird dabei im Sinne der Auswahl von originellen, gerade nicht nahe liegenden, höchst effektiven Lösungen für ein Problem verstanden. Dabei setzt Kreativität ein hohes Maß an Erfahrung im Umgang mit spezifischen Aufgaben voraus, zugleich Offenheit für neue Lösungsansätze. In Bezug auf potenzielle Effekte von Aktivierung, Übung und Training zeigt sich, dass bis in das Alter zahlreiche kognitive Fertigkeiten reaktiviert, gelernt und trainiert werden können.
Jüngere passen sich dem Mainstream an
Ob und auf welchen Feldern bestehen speziell für ältere Menschen Möglichkeiten zur Verwirklichung kreativer Potenziale? Inwieweit liegt es nahe, dass ältere Handwerker, Therapeuten, Wissenschaftler oder Künstler über elaborierte Wissenssysteme und ein Urteilsvermögen verfügen, das jenes jüngerer Menschen übersteigt? Argumentiert wird, für jüngere Menschen bestehe ein deutlich höherer Druck, sich an berufliche Anforderungen anzupassen und sich auf den Mainstream ihres Faches zu konzentrieren. Risiken einer Originalität mit ungewissen Vermarktungsmöglichkeiten könnten zumindest am Anfang der Karriere nicht eingegangen werden. Kreativität in späteren Lebensabschnitten bedeute vor allem eine Reduktion von Komplexität, und gerade hier sei Lebenserfahrung besonders nützlich. Dabei ist die Kreativität eng mit dem Empfinden von Verantwortung und Selbstkontrolle verbunden: Der adäquate Umgang mit eigenen Ängsten wird als wesentliche Voraussetzung einer Offenheit für Kreativität angesehen.
Zu beachten sind auch die Kompensationsgrenzen im hohen Erwachsenenalter. Sie sensibilisieren für Arbeitsbereiche, in denen ältere Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter möglichst nicht eingesetzt werden sollten. Altersunterschiede finden sich vor allem bei der Lösung ganz neuer Aufgaben. Zudem lassen sich in kognitiv stark belastenden Berufen alterskorrelierte Einbußen finden: Hier kann Erfahrung Defizite in der Mechanik der Intelligenz nicht mehr ausgleichen. Und schließlich finden sich Kompensationsgrenzen bei jenen Aufgaben, die besonders von der Verarbeitungskapazität beeinflusst sind. In Berufen, in denen geschwindigkeitsbezogene und psychomotorische Fähigkeiten betont werden, hohe physische Leistungen erbracht werden müssen und die Tätigkeit nur auf wenige Handgriffe beschränkt bleibt, sind mit Beginn des fünften Lebensjahrzehnts Einbußen der Arbeitsfähigkeit erkennbar. In Berufen mit hohen psychischen und kognitiven Belastungen erbringt mit Beginn des sechsten Lebensjahrzehnts ein wachsender Anteil von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern vergleichsweise schlechtere Leistungen.
Motivation und Selbstbild
Monotone berufliche Tätigkeiten im Berufsleben tragen besonders dazu bei, dass die geistige Flexibilität zurückgeht, während Problemlösungsfähigkeiten von Menschen, die sich im Beruf kontinuierlich mit neuen Aufgaben und Herausforderungen auseinandersetzen mussten und die auch nach Austritt aus dem Beruf neue Aufgaben und Herausforderungen gesucht haben, im Alter keine wesentliche Veränderung zeigen. Das Nicht-Abrufen hoch entwickelter und organisierter Wissenssysteme trägt also auf Dauer dazu bei, dass diese zurück- oder verlorengehen. Eine in den Vereinigten Staaten durchgeführte Studie zu beruflichen Potenzialen im hohen Erwachsenenalter zeigt, dass diese zum einen Wissenssysteme und Handlungsstrategien, zum anderen Persönlichkeit, Motivation und Selbstbild umfassen. Es wurden acht berufliche Stärken bei erfolgreichen älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern identifiziert:
1. PLANUNGSVERHALTEN UND KAUSALES DENKEN: Erkennen von Ursachen und Gesetzmäßigkeiten sowie deren Berücksichtigung bei der Entwicklung von Handlungsstrategien.
2. SYNTHETISCHES UND KONZEPTUELLES DENKEN: Verbindung von unterschiedlichen Arbeitsbereichen oder Handlungsstrategien; Entwicklung von neuen Arbeitsprozessen.
3. AKTIVE SUCHE NACH RELEVANTEN INFORMATIONEN: Wissen, wo und wie relevante Informationen gefunden werden.
4. AUSÜBEN VON KONTROLLE: Kontrolle über Arbeitsabläufe aufgrund eigener Erfahrungen mit diesen oder mit ähnlichen Arbeitsabläufen; Kontrolle über Gruppenprozesse.
5. MOTIVATION VON MITARBEITEN: Anregungen geben, Handlungen von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern verstärken.
6. KOOPERATION UND TEAMARBEIT: Eigene Ziele und Fähigkeiten in Gruppenprozesse integrieren.
7. MODELLFUNKTION FÜR ANDERE MENSCHEN: Anderen Menschen durch eigenes Verhalten als Vorbild dienen.
8. SELBSTBEWUSSTSEIN UND MOTIVATION: Überzeugung, mit der eigenen Arbeit und dem eigenen Wissen einen bedeutenden Beitrag für den Betrieb oder das Unternehmen leisten zu können; hohe Loyalität gegenüber dem Betrieb oder dem Unternehmen.
Aus diesen Befunden lassen sich Anforderungen an die unternehmerische Praxis ableiten: Nötig sind kontinuierliche Weiterbildung, betrieblicher Gesundheitsschutz und Arbeitsplatzanpassung. Die kontinuierliche Weiterbildung fördert die Bewältigung neuartiger Anforderungen und damit die Flexibilität. Der betriebliche Gesundheitsschutz trägt sowohl zur Vermeidung (primäre Prävention) als auch zur frühzeitigen Erkennung von Störungen körperlicher und seelischer Gesundheit (sekundäre Prävention) und auf diesem Wege zur Erhaltung von Leistungsfähigkeit bei. Die Arbeitsplatzanpassung – im Sinne der Verringerung tempobasierter Leistungsanforderungen und einer stärkeren Akzentuierung erfahrungs-, wissens- und kommunikationsbezogener Leistungsanforderungen – wirkt sich positiv auf Sinnerleben und Arbeitsmotivation, Produktivität und Kreativität aus. Dabei ist die stärkere Berücksichtigung der Heterogenität innerhalb der Gruppe älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter und damit die Entwicklung individueller Beratungs- und Fördermodelle notwendig. In der öffentlichen Diskussion findet sich immer noch die Tendenz einer Verallgemeinerung über die Gruppe der älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Noch viel zu wenig berücksichtigt wird, dass im Alternsprozess individuelle Unterschiede nicht zurückgehen, sondern eher noch zunehmen.
Die Beschäftigungsfähigkeit älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter ist alterstypisch höheren Krankheits-, Qualifikations- und Motivationsrisiken ausgesetzt. Dabei sind jedoch die jeweiligen Risiken vielfach nicht explizit altersbedingt. Vielmehr sind sie das Ergebnis spezifischer berufs- und tätigkeitsbezogener Karriereverläufe, die sich vielfach erst in späteren Stadien des Erwerbslebens als alterstypische Beschäftigungsrisiken und -probleme manifestieren. Eine zentrale Maßnahme zur Erhaltung der Beschäftigungsfähigkeit älterer Mitarbeiter bildet deren Integration in betriebliche oder überbetriebliche Weiterbildungsmaßnahmen, die zu ergänzen sind durch Anpassungen der Arbeitsplätze an die bestehenden Kompetenzprofile – wobei hier keinesfalls nur von herabgesetzten, sondern gerade mit Blick auf die beruflichen Potenziale älterer Frauen und Männer von gewandelten Anforderungen zu sprechen ist – sowie durch eine stärkere Akzentuierung primär- und sekundär-präventiver Maßnahmen. Im Kern bedeutet dies eine veränderte Organisation des Lebenslaufs beziehungsweise spezifischer Phasen des Lebenslaufs.
Als eine Maßnahme zur Förderung älterer Beschäftigter nennen Unternehmen und Betriebe altersgemischte Teams. In empirischen Studien ließen sich Vorteile altersgemischter Teams im Hinblick auf die Produktivität nachweisen; dies gilt im Wesentlichen für Arbeitsprozesse, in denen sich jüngere und ältere Beschäftigte mit ihren spezifischen Stärken gegenseitig ergänzen können – also für Arbeitsprozesse, die auf der einen Seite hohe Anforderungen an Geschwindigkeit, Merkfähigkeit sowie das Lösen neuartiger Probleme stellen, auf der anderen Seite Überblick und intensive Kooperation erfordern. Hier können die älteren Beschäftigten ihre spezifischen Potenziale einbringen und erhalten zudem die Möglichkeit, an der Einführung von Innovationen zu partizipieren.
Erfahrung und Gelassenheit
Produktivität ist nicht allein beeinflusst von der physischen und kognitiven Leistungsfähigkeit der Beschäftigten sowie von betrieblichen Bildungsangeboten, sondern auch von der Erfahrung, Gelassenheit und Ausgeglichenheit sowie vom persönlichen Beitrag der Beschäftigten zum Betriebsklima. Zudem sind altersgemischte Teams und Organisationsformen Einflussfaktoren von Produktivität. Vor diesem Hintergrund wird betont, dass sich der Beitrag der älteren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter zur Wertschöpfung eher im Ergebnis der Gesamtgruppe manifestiert und weniger in der isolierten Messung individueller physischer und kognitiver Leistungen oder der Belastungsfähigkeit. Daher sei das durchschnittliche Alter eines Teams als bedeutende Größe zu werten.
In diesem Kontext besteht eine weitere Möglichkeit der Förderung und Nutzung von Potenzialen älterer Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in der Übernahme von Verantwortung in Mentor-Mentee-Beziehungen. Mentoren sind Personen, die Interesse daran haben, einer weniger erfahrenen Person – Protegé oder Mentee – Unterstützung bei ihrer beruflichen Entwicklung anzubieten. Dabei nimmt der Mentor karrierebezogene, psychosoziale wie auch rollenmodellhafte Funktionen wahr. Mentor und Mentee können in ihrer Beziehung jene Entwicklungsaufgaben lösen, die ihnen in ihrer jeweiligen Lebensphase gestellt sind.
Bei der Weiterbildungspartizipation sind in den letzten Jahrzehnten positive Entwicklungen eingetreten. Trotzdem besteht auf diesem Gebiet soziale Ungleichheit fort. Stellt man etwa die Zahlen von 1979 und 2007 nebeneinander, so zeigt sich ein Anstieg der Teilnahmequoten in der Bevölkerung mit niedrigem Bildungsniveau von 16 Prozent auf 30 Prozent; in der Bevölkerung mit mittlerem Bildungsniveau von 29 Prozent auf 46 Prozent; in der Bevölkerung mit höherem Bildungsniveau von 43 Prozent auf 58 Prozent. In Ostdeutschland ist für die allgemeine Weiterbildung zwischen 2003 und 2007 ein Anstieg um fünf Prozentpunkte zu verzeichnen. Hingegen sind im Westen kaum Veränderungen erkennbar. Die Teilnahme der Gruppe mit Abitur ist doppelt so hoch wie die Teilnahme der Gruppe mit niedriger Schulbildung. Bei der beruflichen Weiterbildung nehmen Personen mit Hochschulabschluss seit Jahren mindestens viermal so häufig an Weiterbildungen teil wie solche ohne Berufsausbildung.
Anders gesagt: Der Abbau der sozialen Ungleichheit in der Bildungspartizipation stellt die Herausforderung unseres Bildungssystems dar – und dies in allen Segmenten. Der enge Zusammenhang zwischen Bildung und Teilhabe an beruflicher Entwicklung kann nicht deutlich genug betont werden. Als nationales Weiterbildungsziel anzustreben ist, dass die Beteiligung von Menschen im Alter von 25 bis 64 Jahren an lebenslangem Lernen bis zum Jahr 2015 auf 80 Prozent ansteigen sollte. Die Beteiligung an formalisierter Weiterbildung sollte dabei von insgesamt 46 Prozent im Jahre 2006 auf 50 Prozent im Jahre 2015 erhöht werden. Für Geringqualifizierte, von denen zuletzt nur 28 Prozent an Weiterbildung teilnahmen, wird eine Zielmarke von mindestens 40 Prozent vorgeschlagen. Die kontinuierliche Kompetenzentwicklung während der gesamten Lebensarbeitszeit bildet im Kontext von demografischer Entwicklung und Globalisierung einen entscheidenden Wettbewerbsfaktor.